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V laL,
Deutsche Vierteljahrssclirift
öffentliche Gesundheitspflege.
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Deutsche Vierteljahrsschrift
•— «
für
öffentliche Gesundheitspflege.
Herausgegeben von ; ;;V*
Prof. Dr. Finkelnburg in Bonn, Dr. Göttisheim in Basel,
Pro£Dr. August Hirsch in Berlin, Baurath Hobrecht in Berlin,
Prof. A. W. Hofmann in Berlin, Prof. M. v. Pettenkofer
in München, Gen.-Arzt Prof. Dr. Roth in Dresden, San.-Rath
Dr. A. Spiess in Frankfurt a. M., Geh. San.-Rath Dr. 6 . Yarren-
trapp in Frankfurt a. M., Ministerialrath Dr. Wasserfnhr in
Berlin, Oberbürgermeister v. Winter in Danzig.
Redigirt
von
Dr. Georg Varrentrapp und Dr. Alexander Spiess
in Frankfurt a. M.
SieJbenzehnter Band.
Braunschweig,
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1 8 8 5 .
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Alle Rechte Vorbehalten.
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Inhalt des siebenzelinten Bandes.
Erstes Heft.
Sotto
Bericht des Ausschusses über die elfte Versammlung des „Deutschen Ver¬
eins für öffentliche Gesundheitspflege 44 zu Hannover vom 15. bis 17. Sep¬
tember 1884 . 1
Erste Sitzung.
Eröffnung der Versammlung. 1
Rechenschaftsbericht. 3
Tagesordnung. 4
Nr. I. Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts 7
Referat von Professor Dr. C. Flügge (Göttingen) . . 7
Thesen von Generalarzt Professor Dr. Roth (Dresden) 22
. Discussion .. 22
Zweite Sitzung.
Nr. II. Die hygienische Beaufsichtigung der Schule
durch den Schularzt. 28
Referat von Privatdocent Dr. A. Baginsky (Berlin) . 28
Correferat von Stadtschulrath Professor Dr. Bertram
(Berlin). 49
Thesen. 56
Discussion. 57
Resolution. 71
Dritte Sitzung.
Neuwahl des Ausschusses. 72
Nr. III. Vortheile und Nachtheile der Durchlässigkeit
vonMauern und Zwischenböden derWohnräume 73
Referat von Rector Professor Dr. Recknagel (Kaisers¬
lautern) . 73
Discussion. 90
Schluss der Versammlung. 91
Section für öffentliche Gesundheitspflege auf der 57. Versammlung deutscher
Naturforscher und Aerzte in Magdeburg vom 18. bis 23. September
1884 . 93
Di© „Health Exhibition“ in London im Jahre 1884. Von Prof. Dr. L. Hirt
(Breslau).111
Das ungesunde und das gesunde Haus auf der Londoner internationalen
Hygieneausstellung des Jahres 1884. Von Prof. Dr. J. Uffelmann
(Rostock).118
Beitrag zur Wiederimpfung. Von Oberstabsarzt Dr. Frölich (Möckern) . 126
383350
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VI
Inhalt des siebenzehnten Bandes.
Seite
[Kritiken und Besprechungen.]
Mittheilungen aus dem kaiserl. Gesundheitsamte, Schluss. (Libbertz,
Frankfurt a. M.)
V. Dr. R. Koch, Dr. Gaffky und Dr. Löffler: Experimen¬
telle Studien über die künstliche Abschwächung der Milz¬
brandbacillen und Milzbrandinfection durch Fütterung . . . 133
VI. BezirkBarzt Dr. Hesse: Ueber quantitative Bestimmungen
der in der Luft enthaltenen Mikroorganismen.136
VII. Dr. F. Hueppe: Untersuchungen über die Zersetzung der
Milch durch Mikroorganismen.138
Der Sanitätsdienst bei den deutschen Heeren im Kriege gegen Frank¬
reich 1870 —1871 (StabsaraÄ Dr. Zimmern, Frankfurt a. M.) ... 141
Dr. Wernich, königl. Kreisphysicus und Universitätsdocent in Berlin:
Lehrbuch für Heildiener (Dr. Heinrich Schmidt, Frankfurt a. M.) 153
M. Alfred Durand-Claye, Ingenieur: L^pidemie de fiövre typhoide
ä Paris en 1882 (Dr. E. Marcus, Frankfurt a. M.).155
Dr. R. Blasius: Die Verwendung der Torfstreu.159
Dr. Post, Oberstabsarzt: Ueber Morbiditätsstatistik.161
J. Christin ger: Mens sana in corpore sano.162
[Hygienische Gesetze, Verordnungen und Entscheidungen.]
I. Gesetze und Verordnungen.
Erlass königl. württembergischen Ministeriums vom 2. August 1884,
betreffend Maassregeln wider die Cholera.163
Erlass königl. preussischen Kriegsministeriums vom 26. August 1884,
betreffend Choleramaassregeln in der Armee.173
Erlass königl. preussischen Kriegsministeriums vom 12. September 1884,
betreffend Choleramaassregeln in der Armee.174
Erlass königl. Regierung zu Minden vom 25. Juli 1884, betreffend
Choleramaassregeln im Regierungsbezirk Minden . *..176
Erlass des schweizerischen Bundesrathes vom 25. Juli 1884, betreffend
Instruction für die schweizerischen Cholera-Experten.181
Erlass des Medicinalamtes vom 18. Juli 1884, betreffend die öffentliche
Reinlichkeit.184
Erlass des Medicinalamtes zu Bremen vom 19. Juli 1884, betreffend
Reinigung und Desinficirung der Latrinen und Hauscanäle .... 185
Anweisung des Gesundheitsrathes von Bremen vom 19. Juli 1884, be¬
treffend zweckmässige Desinfection.185
II. Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe.
Kunstwein.187
Weinfalschung.188
Getränkeverfalschung.188
[Kleinere Mittheilungen.] Zeitschrift des königlich preussischen statisti¬
schen Büreaus. 190
Verhaltungsmaassregeln bei Kinderkrankheiten für Mütter und Kranken¬
pfleger .191
Noch einmal „Cibils“.192
Zweites Heft.
Der fünfte internationale Congress für Hygiene und Demographie vom 21.
bis 27. August 1884 im Haag.193
Allgemeine Sitzungen. Berichterstatter Dr. R. Blasius (Braunschweig) 196
I. Section. Allgemeine, internationale und öffentliche Gesundheits¬
pflege. Berichterstatter Dr. R. Blasius (Braunschweig) . . . 213
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Inhalt des siebenzehnten Bandes. vn
Seite
II. Section. Oeffentliche Gesundheitspflege der Städte und des Landes.
Berichterstatter Dr. R. Blasius (Braunschweig).228
HI. Section. Nahrungsmittelhygiene, Hygiene des Kindesalters, Pri¬
vathygiene. Berichterstatter Dr. G. Custer (Rheineck) .... 244
IV. Section. Gewerbliche und sociale Hygiene. Kleinkinderhygiene.
Berichterstatter Dr. G. Custer (Rheineck).254
V. Section. Demographie. Berichterstatter Dr. Richard Böckh
(Berlin)..264
Ueber Bleivergiftung von Jacquardwebern. Von F. Schüler, schweizeri¬
scher Fabrikinspector in Mollis..274
Zur praktischen Lösung der Subsellienfrage. Von Stadtarzt Dr. A. Spiess
(Frankfurt a. M.).* . . 285
[Kritiken und Besprechungen.]
Archiv für offentliche Gesundheitspflege in Eisass-Lothringen (Prof.
Dr. Uffelmann, Rostock).313
Dr. Pi8tor, Regierungs- und Medicinalrath: Dritter Generalbericht
über das Medicinal- und Sanitätswesen der Stadt Berlin im Jahre
1882 (Dr. E. Marcus, Frankfurt a. M.).317
W. Roth: Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem
Gebiete des Militärsanitätswesens. IX. Jahrgang (Stabsarzt Dr. Zim¬
mern, Frankfurt a. M.).319
Sanitätsrath Dr. Wiener: Handbuch der Medicinalgesetzgebung des
Deutschen Reiches und seiner Einzelstaaten (Oberlandesgerichtsrath
Dr. C. Silberschlag, Naumburg a. d. S.).320
Sanitätsrath Dr. Liersch, königl. Kreiswundarzt in Cottbus: Ueber
Armenkrankenpflege im Allgemeinen und im Regierungsbezirke
Frankfurt a. d. 0. im Besonderen (Dr. Heinrich Schmidt, Frank¬
furt a. M.)..321
Oskar Kuntze, Oberbürgermeister: Ueber Reinlichkeit, Hautpflege,
Bäder und die öffentliche Gesundheit, eine Aufforderung zum Er¬
richten öffentlicher Badeanstalten, Volks- und Schwimmbäder . . . 322
Dr. Julius Kratter, Docent für Hygiene in Graz: Der alpine Creti-
nismus insbesondere in Steiermark (Dr. G. Custer, Rheineck) . . 324
E. Ludwig: Medicinische Chemie in Anwendung auf gerichtliche,
sanitätspolizeiliche und hygienische Untersuchungen etc. (Dr. Hans
Vogel, Memmingen).326
Dr. Ph. Biedert: Untersuchungen über die chemischen Unterschiede
der Menschen- und Kuhmilch (Dr. Th. Petersen, Frankfurt a. M.) 327
Petersen: Forschungen auf dem Gebiete der Viehhaltung und ihrer
Erzeugnisse (Dr. Hans Vogel, Memmingen).328
Dr. Hugo Plaut: Färbungsmethoden zum Nachweis der faulniss¬
erregenden und pathogenen Mikroorganismen (Dr. E ding er,
Frankfurt a. M.).328
[Zur Tagesgeschichte.] Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege 329
Section der öffentlichen Gesundheistpflege des Wiener medicinischen
Doctorencollegiums.329
[Hygienische Gesetze, Verordnungen und Entscheidungen.]
I. Gesetze und Verordnungen.
Erlass königl. preussischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts¬
und Medicinalangelegenheiten vom 12. December 1883, betreffend
Heizsysteme für Gebäude höherer Unterrichtsanstalten.331
Erlass königl. preussischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts¬
und Medicinalangelegenheiten und des Ministeriums des Innern
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VUI
Inhalt des siebenzehnten Bandes.
Seite
vom 14. Juli 1884, betreffend Anwendung zur Verhütung der Ueber-
tragung ansteckender Krankheiten durch die Schulen.333
Erlass königl. preussischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts¬
und Medicinalangelegenheiten und des Ministeriums des Innern
vom 14. Juli 1884, betreffend Schliessung von Schulen bei anstecken¬
den Krankheiten.336
Erlass grossherzogl. hessischen Ministeriums an die Kreisgesundheits¬
ämter vom 18. März 1884, betreffend hygienische Ueberwachung
der Schulen.336
Erlass königl. Regierung zu Arnsberg vom 22. August 1884, betreffend
Anzeige von Infectionskrankheiten. im Regierungsbezirk Arnsberg . 338
Erlass königl. preussischen Kriegsministeriums, betreffend animale
Lymphe bei Militärrevaccination.341
Erlass herzogl. sächsischen Staatsministeriums vom 10. November 1884,
betreffend Untersuchung des Schweinefleisches.343
II. Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe.
Strafbarkeit der Verwendung von Traubenzucker zur Bierbereitung . . 347
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege (31. Ver¬
zeichniss) .349
Drittes Heft.
Die neuere Entwickelung der Hygiene in Frankreich. Von Dr. Hermann
Wasserfuhr (Berlin)...373
Der gegenwärtige Stand der Fäcalienabfuhr nach dem Differenzirsysteme.
Eine Reisestudie von J. Kaftan, behördlich autorisirtem Givilingenieur
(Prag - Smichow).407
Ueber die durch das Wohnen in neugebauten Häusern bedingten Krank¬
heiten, deren Ursachen und Vermeidung. Nach einem in der Herbst-
versammlung des Vereins der Aerzte im Regierungsbezirk Merseburg
und Herzogthum Anhalt am 9. October 1881 gehaltenen Vortrage. Von
Sanitätsrath Dr. Hü 11 mann (Halle).418
Ueber die ersten Anfänge einer Militärgesundheitspflege im Mittelalter.
Von H. Frölich.433
[Kritiken nnd Besprechungen«]
Bericht über die Allgemeine deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der
Hygiene und des Rettungsw T esens, unter dem Protectorate Ihrer
Majestät der Kaiserin und Königin, Berlin 1882 — 83 (A. S.) . . . 437
Les institutions sanitaires en Italie (Prof. Dr. J. Uffelmann, Rostock) 439
Dritter und vierter Jahresbericht der Untersuchungsstation des hygie¬
nischen Institutes der Ludwigs-Maximilians-Universität München
für die Jahre 1882 und 1883 (Dr. A. Schuster, München) .... 444
Dr. G. Alten, Medicinalrath: Das öffentliche Gesundheitswesen im
Landdrosteibezirk Lüneburg im Jahre 1882 (Dr. E. Marcus,
Frankfurt a. M.).447
Josef Körösi: Ueber den Einfluss der Wohlhabenheit und der Wohn¬
verhältnisse auf Sterblichkeit und Todesursachen. — Die Kinder¬
sterblichkeit in Budapest während der Jahre 1876 bis 1881 (Dr. Ja-
cobi, Breslau). 448
Dr. F. Hulwa: Beiträge zur Schwemmcanalisation und Wasserversor¬
gung der Stadt Breslau (Prof. Baumeister, Karlsruhe).450
Dr. Felix Putzeys, Professeur d’hygiene ä l’universite de Liege: Du
drainage domestique ou de la canalisation interieure des habitions
(J. Stübben, Köln). 453
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Inhalt des siebenzehnten Bandes.
IX
Seito
W. P. Gerhard, Civilingenieur in Newyork: Die Hauscanalisation
(J. Stübben, Köln).454
Professor Dr. Heiden, Professor Dr. Alex. Maller, Oekonomierath
K. v. Langsdorff: Die Verwerthung der städtischen Fäcalien
(Prof. Baumeister, Karlsruhe).455
Dr. F. Hueppe: Die Methoden der Bacterienforschung (Dr. Libbertz,
Frankfurt a. M.).462
Dr. W. Zopf: Die Spaltpilze (Dr. F. Hueppe, Wiesbaden).463
Dr. W. Zopf: Die Pilzthiere oder Schleimpilze (Dr. F. Hueppe, Wies¬
baden) .464
Dr. Grandhomme, Arzt und Kreiswundarzt zu Hof heim a. T.: Die
Cholera (A. S.). 465
Dr. med. H. A. Ramdohr, Stabsarzt: Die Typhusepidemie im königl.
sächs. Ulanenregiment Nr. 17 zu Oschatz im Herbste 1882 (L.) . . 466
Stabsarzt Hueber in Ulm: Die Typhusepidemie in der Deutschhaus-
caserne zu Ulm 1881 bis 1882 (L.).466
Dr. Brennecke: Bauet Wöchnerinnenasyle! (A. S.).467
Ludwig Degen, fürstlicher von Turn- und Taxisscher Baurath: Die
öffentliche Krankenpflege im Frieden und im Kriege nach dem
Ergebnisse der Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des
Rettungswesens zu Berlin 1883 (Dr. Heinrich Schmidt, Frank¬
furt a. M.).468
Prof. Dr. Hermann Cohn: Ueber den Beleuchtungswerth der Lampen¬
glocken (Dr. A. Carl, Frankfurt a. M.).473
Dr. Ernst Fuchs, Professor der Augenheilkunde an der Universität
Lüttich: Die Ursachen und die Verhütung der Blindheit (Dr. A. Carl,
Frankfurt a. M.).475
James Bell: Analyse und Verfälschung der Nahrungsmittel. II. Band,
übersetzt von Dr. P. Rasenack (Dr. Hans Vogel, Memmingen) 478
Prof. Fleischmann: Der Stand der Prüfung der Kuhmilch für ge¬
nossenschaftliche und polizeiliche Zwecke (Dr. Hans Vogel, Mem¬
mingen) .479
Quesneville: Neue Methoden zur Bestimmung der Bestandtheile der
Milch (Dr. Hans Vogel, Memmingen).480
Schmitz: Der Mensch und dessen Gesundheit (Prof. Dr. L. Hirt,
Breslau).481
Petri: Plaudereien über die Erhaltung und Beförderung der Gesund¬
heit und über die Verhütung von ansteckenden Krankheiten (Prof.
Dr. L. Hirt, Breslau).482
[Zur Tagesgeschichte.]
Die allgemeine Einführung der animalen Vaccination im Deutschen Reiche 483
Die Berliner Canalisationswerke in der Zeit vom 1. April 1883 bis zum
31. März 1884 . 506
[Hygienische Gesetze, Verordnungen und Entscheidungen.]
I. Gesetze und Verordnungen.
Erlass königl. bayerischer Regierung der Oberpfalz und von Regens¬
burg vom 16. Juni 1884, betreffend Bestimmungen über Schulhaus¬
bauten .513
Erlass königl. bayerischer Regierung der Oberpfalz und von Regens-
burg vom 21. December 1884, betreffend die Maassregeln gegen
die Weiterverbreitung von Diphtherie und Scharlach.518
Erlass königl. bayerischer Regierung der Oberpfalz und von Regens¬
burg vom 24. December 1884, betreffend die Schliessung von
Schulen in Folge Auftretens epidemischer Krankheiten.521
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X
Inhalt des siebenzehnten Bandes.
Soito
Regulativ des grossherzoglich hessischen Polizeiamtes zu Darmstadt
vom 14. Januar 1885, betreffend die Errichtung eines Ortsgesund-
heitsrathes in Darmstadt.522
Erlass königl. Oberpräsidiums der Provinz Schlesien vom 20. October
1884, betreffend Erfüllung der den Hebammen im sanitätspolizei-
liehen Interesse auferlegten Verpflichtungen in der Provinz Schlesien 523
Erlass königl. Regierung des Regierungsbezirks Königsberg vom 24. No¬
vember 1884, betreffend Pflichten der Hebammen im Regierungs¬
bezirk Königsberg.524
Erlass königl. Regierung des Regierungsbezirks Merseburg vom 2. Octo¬
ber 1884, betreffend Verpflichtungen der Hebammen und nicht
gewerbsmässige Ausübung der geburtshülflichen Thätigkeit im Re¬
gierungsbezirk Merseburg.525
Erlass königl. Regierung des Regierungsbezirks Minden vom 18. October
1884, betreffend Verpflichtungen der Hebammen im Regierungs¬
bezirk Minden.526
Polizeiverordnung vom 16. April 1884, betreffend die Hebammen in der
* Stadt Berlin.527
Polizeiverordnung des königl. Polizeipräsidiums zu Berlin vom 2. April
1885, betreffend den Genuss rohen Schweinefleisches.628
II. Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe.
Verfälschung von Genuss- und Nahrungsmitteln.529
Strafbarkeit des Versuchs des Feilhaltens gesundheitsschädlicher Nah¬
rungsmittel durch deren Transport.629
Schlachtvieh als Nahrungsmittel.530
Bierverfälschung.532
Künstliche Blumen.533
[Kleinere Mittheilungen.] Trichinenschau in Hamburg.535
Maul- und Klauenseuche in der Frankfurter Milchkuranstalt.535
Transportabele Hospitalbaracke.537
Dollmayer’sche Schulbank.537
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege (32. Verzeichniss) 539
Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege. Zwölfte Versammlung
zu Freiburg i. Br. vom 15. bis 17. September 1885 . 552
Viertes Heft.
Welche sanitätspolizeiliche Maassregeln an den Grenzen empfehlen sich
gegen eine Verbreitung der Cholera aus dem Auslande nach Deutsch¬
land? Von Dr. Hermann Wasserfuhr.553
Bleiröhren zur Wasserleitung. Von E. Reichardt (Jena).565
Die Cellulose- und Papierfabrikation mit besonderer Berücksichtigung der
Fabrik zu Cöslin. Dr. Anton Heidenhain, Kreiswundarzt (Cöslin) . 576
[Kritiken und Besprechungen«]
L. Hirt: System der Gesundheitspflege (Märklin, Cronberg i. Taunus) 585
J. Soyka, Professor etc.: Untersuchungen zur Canalisation (Lissauer,
Danzig).587
M. P. Wolff, königl. preuss. Hauptmann a. D.: Die Ernährung der
arbeitenden Classen (L; Egger, Mainz).588
[Zur Tagesgeschichte.]
Die hygienische Section auf der 58. Versammlung Deutscher Natur¬
forscher und Aerzte in Strassburg im September 1885 . 590
Section für öffentliche Gesundheitspflege des Wiener medicinischen
Doctoren-Collegiums.594
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Inhalt des siebenzehnten Bandes.
XI
Seit«
[Hygienische Gesetze, Verordnungen and Entscheidungen.] 4
I. Gesetze und Verordnungen.
Erlass königl. preuss. Ministeriums der geistlichen etc. Angelegenheiten
vom 10. November 1884, betr. die Erholungspausen zwischen den
Lehrstunden und die Zeitdauer der häuslichen Arbeit der Schüler
höherer Unterrichtsanstalten.596
Erlass königl. preuss. Ministeriums der geistlichen etc. Angelegenheiten
vom 10. Juli 1884, betr. Vermeidung der Ueberbürdung der Schü¬
lerinnen in Lehrerinnen - Bildungsanstalten und höheren Mädchen¬
schulen .602
Erlass herzogl. Sachsen-Coburg-Gotha’schen Ministeriums vom 28. Januar
und 11. Februar 1885, betr. Verhütung der Verbreitung anstecken¬
der Krankheiten durch die Schulen.602
Erlass königl. sächsischen Ministeriums des Innern vom 13. bis 30. Juli
1885, betr. Verhalten der Vorsteher von Kinderbewahranstalten,
Kindergärten und Kinderspielschulen bei dem Auftreten anstecken¬
der Krankheiten in diesen Anstalten.605
Erlass königl. Regierung zu Sigmaringen vom 20. December 1884, betr.
Anzeigepflicht bei ansteckenden Krankheiten im Regierungsbezirk
Sigmaringen.605
Erlass königl. preussischer Regierung zu Minden vom 23. Januar 1885,
beta. Anzeigepflicht der Medicinalpersonen bei Erkrankungsfallen
an Rachenbräune (Diphtheritis) und Kindbettfieber im Regierungs¬
bezirk Minden ..606
Erlass herzogl. sachsen-meiningenschen Ministeriums vom 7. März 1885,
betr. Diphtherieanzeigen.607
Erlass königl. sächsischen Ministeriums des Innern vom 28. März 1885,
betr. Verhütung des Kindbettfiebers und Augenentzündung Neu¬
geborener .607
Erlass herzogl. sachsen-meiningenscher Regierung vom SO. Januar 1885,
betr. Desinfectionsverfahren bei übertragbaren und ansteckenden
Krankheiten der Menschen.610
Erlass königl. preussischen Ministeriums des Innern, des Ministeriums
für Handel und Gewerbe und des Ministeriums der geistlichen etc.
Angelegenheiten vom 13. Februar 1885, betr. den Erlass einer
Polizeiverordnung gegen das Aufblasen des Fleisches.614
Erlass grossherzogl. hessischen Ministeriums des Innern und der Justiz
vom 20. März 1885, betr. Fleischbeschau und Verwendung des
Fleisches kranker Thiere zum menschlichen Genüsse.615
Deutsches Reichsgesetz vom 13. Mai 1884, betr. die Anfertigung von
Zündhölzern.616
II. Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe.
Realconcurrenz des Nahrungsmittelgesetzes mit Betrug.617
Verkauf gesundheitsschädlicher Nahrungsmittel.619
Verkauf verdorbener Nahrungsmittel.621
Verkauf von ungeborenen Kälbern als menschliches Nahrungsmittel . . 622
Fahrlässigkeit des Verkäufers von gesundheitswidrigen Nahrungsmit¬
teln .623
Fahrlässiger Verkauf inficirten Fleisches aus einer Abdeckerei .... 623
Feilhalten eines verdorbenen Nahrungsmittels.625
Nahrungsmittelverfalschung.626
Verfälschung des echten bayerischen Bieres durch Färbung.627
Strafbarkeit der Veräusserung gesundheitsschädlicher Nahrungsmittel
an Zwischenhändler.628
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xil Inhalt des siebenzehnten Bandes.
Seit«
[Kleinere Mittheilungen.]
Römische Wasserleitungen von Lyon.629
Zeitschrift des königlich preussischen statistischen Büreaus.630
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege (33. Verzeich-
nisß).631
Repertorium der im Laufe des Jahres 1884 in deutschen und ausländischen
Zeitschriften erschienenen Aufsätze über öffentliche Gesundheitspflege.
Zusammengestellt von Dr. Alexander Spiess.643
N
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Bericht des Ausschusses
über die
Elfte Versammlung
des
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege
zu HannoYcr
vom 15. bis 17. September 1884.
Erste Sitzung.
Montag, den 15. September, Vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender Excellenz Hobrecht (Berlin) eröffnet die Versamm¬
lung mit einigen begrüssenden Worten und ertheilt zunächst das Wort
Seiner Excellenz dem Herrn
Oberpräsidenten v. Leipziger (Hannover):
„Meine Herren! Der Einladung Ihres Ausschusses gern Folge leistend
habe ich die Ehre, Namens der königl. Staatsregierung die Versammlung
des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in hiesiger Stadt zu
begrüssen und willkommen zu heissen. Die Bestrebungen und Verhandlungen
Ihres Vereins bewegen sich auf einem Gebiete, auf welchem weitere For¬
schungen, die Besserung bisheriger Zustände und die Verbreitung und Ver¬
allgemeinerung des in der Bevölkerung leider noch vielfach mangelnden
Verständnisses und Interesses für Einrichtungen, die den öffentlichen
Gesundheitszustand zu fördern und zu erhalten geeignet sind, wie in Ihrem
Vereine so auch von der königl. Staatsregierung als dringendes Bedürfniss
erkannt sind. Die königl. Staatsregierung wird daher auch Ihren dies¬
jährigen Verhandlungen volle Beachtung und Würdigung zuwenden und
vereinigt sich mit Ihnen zu dem Wunsche, dass die Bestrebungen Ihres
Vereins auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege wie bisher so
auch fernerhin zum allgemeinen Wohle werthvolle praktische Erfolge zeitigen
mögen ! u
Stadtsyndicus Ostermeyer (Hannover):
„Hochgeehrte Herren! Gestatten Sie auch mir, dass ich Sie Namens
der Stadt Hannover begrüsse und in diesen Bäumen willkommen heisse.
Die Bestrebungen des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege sind von
hervorragender Bedeutung für die communalen Interessen, sie betreffen zum
grossen Theil Fragen, deren praktische Lösung mehr oder minder in erster
Linie an die Communen herantritt. Die Verhandlungen des Vereins liefern
Viertoljahrsschrift für Gesundheitspflege, 18 S 6 . 2
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2
Bericht des Ausschusses über die elfte Versammlung
den coramunalen Behörden ein reiches schätzbares Material zur Belehrung
und zur praktischen Verwerthung bei Ausführung von Arbeiten von sani¬
tärer Bedeutung.
„Es war uns desshalb eine grosse Freude, als wir die Nachricht erhiel¬
ten, dass der Verein für öffentliche Gesundheitspflege in diesem Jahre Han¬
nover zu seinem Versammlungsorte erwählt habe, und es gereicht uns zu
ganz besonderer Ehre, dass Sie Ihre Sitzungen in diese Räumlichkeiten
verlegt haben.
„Mögen Ihre Verhandlungen hier einen gedeihlichen Verlauf nehmen
und von reichen Erfolgen für die öffentliche Gesundheitspflege gekrönt sein.
Möge Ihnen aber auch für die Zeit, die Sie der Erholung widmen wollen,
unsere Stadt einen angenehmen Aufenthalt gewähren/
Dr. m ed. Lohinann (Hannover):
„Meine Herren! Gestatten Sie auch mir, Sie im Namen des hiesigen
Vereins für öffentliche Gesundheitspflege herzlich willkommen zu
heissen. Ich kann nicht leugnen, dass mich eine gewisse Beklemmung über¬
kam, als ich die Nachricht empfing, dass diese hohe Versammlung in diesem
Jahre unserer Stadt die Ehre ihres Besuches zugedacht habe. Vorher waren
fast alle grösseren Städte Deutschlands, zum Theil mit wahrhaft muster¬
gültigen hygienischen Einrichtungen, besucht, gerade in den letzten Jahren
die beiden Weltstädte Wien und Berlin. Wie sollten wir dagegen mit unseren
bescheidenen Anfängen auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege
bestehen! Doch, meine Herren, ein Schelm giebt mehr als er hat. An
gutem Willen hat es nicht gefehlt, und ich hoffe, das Wenige, das wir
Ihnen hier zeigen können, werden Sie nicht ganz misslungen finden. Sollten
Sie dabei entdecken, dass manches noch nicht da ist, so bitte ich Sie, zu
bedenken, dass an den Säckel einer Stadt, die an sich nicht reich, in den
letzten Jahrzehnten so rapide, ja fast in amerikanischen Verhältnissen,
herangewachsen ist, Anforderungen so mancherlei Art gestellt werden, dass
grosse kostspielige Unternehmungen leider hinausgeschoben werden müssen.
„Der Gesundheitszustand unserer Stadt ist gottlob im Ganzen ein recht
erfreulicher gewesen. Wenn Sie Gelegenheit genommen haben, die Zusam¬
menstellungen des Reichsgesundheitsamtes zu verfolgen, so werden Sie
gesehen haben, dass Hannover immer einen der ersten Plätze unter den
grösseren Städten Deutschlands gefunden hat. Von Epideraieen ist unsere
Stadt gottlob bis jetzt vollständig verschont geblieben, und auch das ist
wohl ein Grund, wesshalb die Stadt erst in den letzten Jahrzehnten an¬
getrieben ist, für die öffentliche Gesundheitspflege Maassregeln zu ergreifen,
da sie durch die Natur im Ganzen in eine höchst glückliche Lage versetzt
ist. In einer Ebene liegend, die der freien Luft von allen Seiten Zutritt
gewährt, fast in einem Viertel ihres Umfanges umgeben von dem schönen
Holze der Eilenriede, den grossen Anlagen von Herrenhausen, können wir
sagen, dass wir uns einer gesunden Luft erfreuen.
„Nun, meine Herren, ich will Sie nicht länger aufhalten. Indem ich
Sie bitte, nicht mit zu scharfer kritischer Brille unsere hiesigen Anlagen
anzusehen, rufe ich Ihnen noch einmal im Namen unseres Vereins ein herz¬
liches Willkommen zu.“
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des Deutschen Vereins für öff. Gesundheitspflege zu Hannover. 3
Vorsitzender ExcelleilZ Hobrecht (Berlin):
„Meine Herren! Den Dank abznstatten für das, was die Stadt Han¬
nover, was ihre Bewohner, was die königlichen und städtischen Behörden
zur Förderung unseres Vereinslebcns thun, das wird am Schlüsse unserer
Versammlung am Orte sein, und dann will ich auch dem Herrn Präsidenten
nicht vorgreifen, den Sie wählen werden. Ich darf aber wohl schon in
diesem Augenblicke ein Wort des herzlichsten Dankes den Herren aus¬
sprechen, die so freudig der Einladung gefolgt sind, hier zu erscheinen,
und die uns mit so sympathischen, wohlwollenden Worten begrüsst haben,
vor Allem Sr. Excellenz Herrn Oberpräsidenten v. Leipziger, dem Ver¬
treter des hiesigen Magistrats Herrn Ostermeyer und Herrn Dr. Loh-
mann, der an der Spitze des hiesigen Vereins für öffentliche Gesundheits¬
pflege steht.
„Bevor wir zur Wahl des Vorsitzenden schreiten, ist es üblich, den
Rechenschaftsbericht über das ab gelaufene Geschäftsjahr vorzutragen. Ich
bitte Sie, ihn aus dem Munde des Herrn Geschäftsführers entgegenzunehmen.“
Der ständige Secretär Sanitätsrath Dr. Spiess verliest hier¬
auf den
Rechenschaftsbericht
des
Ausschusses des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheits¬
pflege
für die Zeit vom Mai 1883 bis September 1884.
Nach Schluss der Berliner Versammlung trat der neu gewählte Aus¬
schuss, bestehend aus den Herren
Wirkl. Geheimerath Hobrecht, Excellenz (Berlin), Vorsitzendem,
Bürgermeister Dr. v. Erhardt (München),
Sanitätsrath Dr. Graf (Elberfeld),
Statthaltereirath Dr. Ritter v. Karajan (Wien),
Professor Hermann Rietschel (Berlin),
Generalarzt Professor Dr. Roth (Dresden) und
dem ständigen Secretär Dr. Spiess (Frankfurt a. M.),
za einer Sitzung zusammen und beschloss unter Anderem:
1. den Bericht über die Berliner Versammlung in der bisherigen
Weise zu veröffentlichen und den Mitgliedern zuzustellen;
2. in Bezug auf den in der zweiten Sitzung angenommenen Antrag des
Herrn Oberingenieurs Fr. Andr. Meyer, betr. Untersuchung der
deutschen Flüsse, zunächst eine weitere Eingabe nicht zu machen,
wohl aber persönlich dem Herrn Reichskanzler nochmals den Gegen¬
stand vorzutragen, und auch im Reichstage betr. des Schicksals der
Petition des Vereins vom 3. April 1878 Erkundigung einzuziehen;
3. die beim Ausschuss eingegangenen Anträge betr. Themata für die
nächstjährige Versammlung zunächst bei den Ausschussmit¬
gliedern circuliren zu lassen.
1 *
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4
Bericht des Ausschusses über die elfte Versammlung
Am 24. Februar trat der Ausschuss zu einer Sitzung in Berlin
zusammen, bei welcher leider die Herren Bürgermeister Dr. v. Erhardt
und Statthaltereirath Dr. v. Karajan zu erscheinen verhindert waren.
Der erste Beschluss betraf das gemeinschaftliche Tagen mit dem
Verein für Gesundheitstechnik, wie es in den letzten Jahren statt-
gefunden hatte. Nach eingehender Discussion der Vortheile und Nachtheile
eines solchen Zusammengehens zweier in ihren Zielen ziemlich auseinder-
gehender Vereine beschloss der Ausschuss einstimmig, in Anbetracht, dass
es für jeden Verein die Vorbedingung unverkümmerter Entwickelung sei,
sich vollkommene Freiheit und Selbständigkeit zu wahren und dass es für
unseren Verein besonders wichtig sei, sich für Zeit und Ort seiner Zusam¬
menkünfte, für die Wahl der Referenten und der Themata, auf welche die
zur Zeit besonders hervortretenden hygienischen Fragen von stets mannig¬
fach wechselndem Einflüsse seien, vollkommene Selbständigkeit zu erhalten,
von einem weiteren Zusammentagen mit dem Verein für Gesundheitstechnik
abzusehen und diesen Beschluss dem Vorstande des Vereins für Gesundheits¬
technik durch Schreiben mitzutheilen.
Es wurde sodann über Ort und Zeit der Vereinsversammlung
im Jahre 1884 berathen. Bisher war es stets üblich gewesen, mit dem Orte
der Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege
zwischen Nord- und Süddeutschland abzuwechseln uud örtlich und zeitlich
sich der Versammlung deutscher NaturTorscher und Aerzte,
die den gleichen Wechsel einhält, anzulehnen. Die hygienische Ausstellung
in Berlin, sowie die besonderen örtlichen Verhältnisse daselbst machten es
im Vorjahre nöthig, von dieser Regel abzugehen und ohne Rücksicht auf
die Naturforscherversammlung im Mai in Berlin zu tagen. Da durch den
Ausfall einer Versammlung des Vereins im Jahre 1882 ein ferneres Zu¬
sammengehen mit der Naturforscherversammlung nur möglich war, wenn
der Verein dieses Jahr nochmals in Norddeutschland tagte, so glaubte der
Ausschuss eine Ausnahme des bisher gebräuchlichen Wechsels machen zu
sollen und hat Hannover und die Tage des 15. bis 17. September, im
Anschluss an die am 18. September in Magdeburg zusammentretende Natur¬
forscherversammlung gewählt, und folgende Tagesordnung festgestellt:
Tagesordnung:
Montag, den 15. September.
I. Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts«
Referenten: Herr Professor Dr. C Flügge (Göttingen).
„ Professor Dr. Roth, Generalarzt I. CI. (Dresden).
Dienstag, den 16. September.
II. Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt«
Referenten: Herr Privatdocent Dr. A. Baginsky (Berlin).
„ Stadtschulrath Professor Dr. Bertram (Berlin).
Mittwoch, den 17. September.
III« Vortheile und Nachtheile der Durchlässigkeit von Mauern und
Zwischenböden der Wohnräume«
Referenten: Herr Director Professor Dr. Recknagel (Kaiserslautern).
„ Professor Dr. Franz Hof wann (Leipzig).
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des Deutschen Vereins für öff. Gesundheitspflege zu Hannover. 5
Leider sind zwei der betreffenden Herren, die ein Referat zuzusagen
die Güte hatten, die Herren Prof. Dr. Franz Hofmann und Generalarzt
Prof. Dr. Roth, durch äussere Verhältnisse verhindert, bei dem Gongress
zu erscheinen.
Ausser den zur Verhandlung kommenden Thematen batte der Ausschuss
beschlossen, Herrn Geb. Regierungsrath Dr. Koch nach seiner Rückkehr
aus Indien zu ersuchen, dem Verein Mittheilungen über seine epoche¬
machenden Choleraforschungen zu machen und der Ausschuss wieder¬
holte diese Bitte nach dem ebenfalls von Herrn Koch beobachteten Aus¬
bruche der Cholera in Toulon und Marseille. Beide Male sah sich Herr
Koch durch seine Stellvertretung in der Direction des kaiserlichen Gesund¬
heitsamtes gezwungen, unter den Ausdrücken lebhaftesten Bedauerns auf
eine Betheiligung an dem diesjährigen hygienischen Congress verzichten zu
müssen.
Die Rechnungsablage für die beiden Jahre 1882 und 1883, für
welche nur einmal Mitgliederbeiträge erhoben wurden, wurde vom Ausschuss
geprüft und richtig befunden. Es betrug
Cassensaldo am 1. Januar 1882 . 2465*62 M.
Jahresbeiträge von 1229 Mitgliedern . . . 7374*00 „
mithin zusammen Einnahmen . . . 9839*62 M.
dagegen an Ausgaben. 7793*16 „
bleibt ein Cassensaldo für 1884 von 2046*46 M.
Die Mitglieder zahl des Vereins betrug zu Ende des Jahres
1883: 1212. Von diesen sind im laufenden Jahre ausgetreten 130,
davon 13 durch Tod. Es sind dies die Herren
Oberbürgermeister Kohleis in Posen,
Geh. Obermedicinalrath Prof. Dr. Baum in Göttingen,
Dr. Debey in Aachen,
Oberbürgermeister Roos in Crefeld,
Beigeordneter vom Rath in Duisburg,
Obermedicinalrath Dr. v. Graf in München,
Director Mayer in München,
Herr Ostermaier in München,
Medicinalrath Dr. Haidien in Stuttgart,
Medicinalrath Dr. Homburger in Karlsruhe,
Medicinalrath Dr. Stephani in Mannheim,
Medicinalrath Dr. v. Preyss in Wien und
Hofrath Dr. Ritter v. V i v e n o t in Wien.
Neu eingetreten sind bis heute 52 Mitglieder, so dass der Verein
zur Zeit*) 1134 Mitglieder zählt, von denen 131 in Hannover anwesend sind.
J ) Die Zahlen sind die am Schlüsse der Versammlung festgestellten.
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6 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Auf Vorschlag des Vorsitzenden erwählt hierauf die Versammlung
dem bisherigen Gebrauch folgend durch Acclamation den Herrn Ober¬
ingenieur F. Andreas Meyer (Hamburg) zum Vorsitzenden für die
diesjährige Versammlung.
Vorsitzender F. Andreas Meyer (Hamburg):
„Verehrte Versammlung!
„Indem ich die Wahl annehme, danke ich Ihnen, dass sie ein solches
Vertrauen zu meiner Persönlichkeit haben. Ich weiss sehr wohl, dass die¬
selbe in jeder Beziehung für solche Verwendung znrücksteben mu98 in
einem Kreise so vieler ausgezeichneter Männer, wie sie unser Verein um-
schliesst, und finde nur darin den Muth, ja sogar die Verpflichtung, als
langjähriges Mitglied des Vereins und durchdrungen von der Bedeutung,
die es hat, die verschiedenen in ihm vertretenen Factoren gleichmässig zur
Wirkung zu bringen, den Vorsitz zu übernehmen, indem ich in meiner
Wahl eine ehrenvolle Auszeichnung des von mir in Ihrem Kreise vertretenen
Faches der Bauwissenschaft erkenne. Zwar hat die Bauwissenschaft bei dem
diesjährigen Programm, soweit es Unterrichts- und Schulfragen behandelt,
nicht in erster Linie mitzusprechen, aber ich hoffe eben desshalb nicht
gerade ungeeignet zu sein die Debatten objectiv zu leiten. Das kann ich
natürlich nur, wenn Sie mir Ihre freundliche Nachsicht entgegenbringen
und wenn ich durch unseren bewährten Herrn ständigen Secretär unter¬
stützt werde.
„Ich glaube nun, dass es die erste Pflicht ist, die mir als Ihrem Vor¬
sitzenden obliegt, den Dank auszusprechen für die Leitung, die Se. Excellenz
Herr Staatsminister Hobrecht im letzten Jahre dem Vereine hat an ge¬
deihen lassen. Er ist als Vorsitzender vor elf Jahren in Frankfurt der
Gründer des Vereins gewesen, und eine glückliche Fügung hat es gewollt,
dass er im vorigen Jahre wieder berufen worden ist, an die Spitze der vom
Vereine ins Leben gerufenen Hygieneausstellung und in der Folge auch
wieder an die Spitze des Vereins selbst zu treten. Ich bitte, dem geehrten
Herrn unseren Dank durch Erheben von den Sitzen auszudrücken.
(Die Versammlung erhebt sich.)
„Nach §. 4 unserer Statuten hat der Vorsitzende den zweiten und
dritten Vorsitzenden und die Schriftführer zu wählen. Ich erlaube mir also
zum zweiten Vorsitzenden Herrn Dr. Loh mann (Hannover) und zum
dritten Vorsitzenden Herrn Bürgermeister Struckmann (Ilildesheim) zu
ernennen. Für das Secretariat möchte ich bitten, dass Herr Sanitätsrath
Dr. Spiess uns wie immer seine Hülfe schenken und Herr Sanitätsrath
Dr. Nötzel aus Colberg sich ihm*anreihen wolle.
(Sämmtliche Herren nehmen die ihnen übertragenen Aemter an.)
„Wir können nunmehr in die Tagesordnung eintreten und ersuche ich
Herrn Professor Dr. Flügge um seinen Vortrag:
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Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts.
7
TJeber die Förderung des hygienischen Unter¬
richts.
Referent Professor Dr. C. Flügge (Göttingen):
„Meine Herren! Innerhalb der letzten Jahrzehnte hat sich die Ver-
theilung des medicinischen Studiums auf die verschiedenen Einzelfächer in
erheblicher Weise geändert. Noch vor wenigen Decennien umfasste ein
Fach und ein Fachlehrer ein Gebiet, welches heute in fünf, sechs Einzel-
disciplinen getheilt ist. Ein einziger Docent lehrte vor einiger Zeit noch
Physiologie, Anatomie und Chirurgie, jetzt haben wir Institute und
Ordinariate für systematische Anatomie, für Histologie, für vergleichende
Anatomie, für pathologische Anatomie, für Physiologie, für physiologische
Chemie, für Chirurgie, für Ophthalmologie. Diese immer weiter gehende
Theilung der Arbeit und diese stets fortschreitende Loslösung von Special-
disciplinen ist nun nicht etwa nach inneren Gründen erfolgt, nicht etwa
desshalb, weil man erkannt hat, dass die neu abgetrennten Gebiete ein in
sich abgeschlossenes Wissensgebiet darstellen, das nur ganz unnatürlicher
und irrthümlicher Weise mit anderen Disciplinen vermengt war, sondern die
Ablösung erfolgte wesentlich aus äusseren mehr praktischen Gründen, welche
die Förderung des Unterrichts und die Förderung der Forschung betrafen.
„Das erste, was gewöhnlich die Anregung zur Ablösung einer neuen Disci-
plin gab, war die Aufdeckung eines neuen Forschungs- und Unter¬
richtsgebietes von bestimmter grosser Ausdehnung. Genialen
Forschern ist es ja eigen, dass sie Methoden und Resultate von solcher
Tragweite entdecken, dass sich daran eine grosse Reihe weiterer Fragen,
weiterer Gesichtspunkte und weiterer Angriffspunkte für die Forschung
anreiht. Zunächst fasst dann der alte Rahmen des Gebietes noch dieses
immer mehr anwachsende Material; je mehr aber die Resultate sich häufen,
um so mehr tritt schliesslich eine wirkliche Ueberfüllung ein; diese Ueber-
füllung führt schliesslich unausbleiblich zur Vernachlässigung irgend eines
Theiles des gesammten Gebietes, und dann ist der Moment gekommen, wo
an eine Trennung der alten Disciplin in zwei Specialfacher gedacht wer¬
den muss.
„Das, was dann die Abtrennung vollenden hilft, ist gewöhnlich die
Ueberzeugung von einer hervorragenden Wichtigkeit des neu abzugrenzen¬
den Gebietes. Ist es vorauszusehen, dass in diesem neuen Forschungs¬
gebiet Fragen zur Lösung kommen werden, welche viele praktische Conse-
quenzen, materielle Vortheile nach sich ziehen, oder deren Behandlung auf
die übrigen medicinischen Disciplinen von förderndem Einfluss sein wird;
oder aber ist es vorauszusehen, dass der Unterricht gerade auf diesem Ge¬
biete für den praktischen Arzt besonders wichtig sein wird, dass der Arzt
für seinen Beruf bestimmte Vorth eile daraus ziehen wird, wenn er eingehei^-
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8 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
dere Kenntnisse auf diesem neuen Gebiete erwirbt, dann wird die Ablösung
eines solchen neuen Faches zur That. So ungefähr ist es gegangen mit
der Abtrennung zunächst der Physiologie, mit der Schöpfung physiolo¬
gischer Institute in Folge der Arbeiten eines Johannes Müller, in sol¬
cher Weise ungefähr haben die Forschungen Virchow’s die Gründung der
pathologischen Institute veranlasst, in solcher Weise ist die Schöpfung der
ophthalmologischen Kliniken wesentlich auf die Arbeiten Gräfe’s und
seiner Schüler zurückzuführen, und so sehen wir wie immer weiter eine
Trennung, eine Specialisirung des medicinischen Studiums eingetreten ist,
lediglich in der Absicht, die Forschungen und den Unterricht nach allen
Seiten hin möglichst eingehend und fruchtbringend zu gestalten.
„Ganz in derselben Lage nun, wie gegenüber den in den letzten Jahren
abgetrennten Disciplinen, haben wir uns seit einiger Zeit gegenüber der
Hygiene befunden. Es ist die Ansicht aufgestellt, dass auch die Hygiene
durchaus als selbständige Disciplin in das medicinische Studium aufgenommen
werden müsse. Diese Ansicht ist vielfach discutirt, und sie ist vielfach an-
gefochten worden, und auch bis in die neueste Zeit haben sich immer noch
Solche gefunden, die eine selbständige Stellung der hygienischen Disciplin
nicht für richtig erachten.
„Dieser Widerspruch wird sich aber vielleicht schon dadurch lösen lassen,
dass wir uns zunächst einmal darüber klar werden, was wir denn unter Hygiene
zu verstehen haben. Wir müssen eine möglichst scharfe Definition des Be¬
griffes Hygiene aufzustellen suchen. Einzelne Capitel der Hygiene existirten
bekanntlich schon in frühen Zeiten; sie waren damals auf verschiedene
andere medicinische Fächer vertheilt und wurden in diesen gelehrt. Ein
Theil der Hygiene wurde als Staatsarzneikunde vorgetragen, ein anderer
Theil war aufgenommen in die allgemeine Pathologie und speciell in den
Theil derselben, der von den Krankheitsursachen handelt, andere hygienische
Fragen wurden von den Pharmakologen besprochen, einige Capitel der
Hygiene wurden gern als Anhänge an die einzelnen Abschnitte der Physio¬
logie behandelt* Es war in der That ausserordentlich schwer, in diesen
verschiedenen auf allerlei Disciplinen vertheilten Capiteln der Hygiene den
Faden zu finden, durch den sich die scheinbar heterogenen hygienischen
Fragen zu einem einheitlichen Gebiet an einander reihen lassen. Zu einer
Zusammenfassung des ganzen Gebietes und zu einer scharfen Difinition sind
wir eigentlich erst seit den Pettenkof er’sehen Untersuchungen gekommen.
„Diese letzteren führten nämlich direct auf eine correcte Inhaltsbestim¬
mung der Hygiene und auf eine scharfe Abgrenzung ihres Gebietes gegen¬
über anderen Disciplinen. Sie wissen, dass Pettenkof er vor etwa dreissig
Jahren die Verbreitung der Cholera in Bayern zu studiren begann, und
dabei auf irgend einen Factor stiess, der auf die Verbreitung der Cholera
von ausserordentlichem Einfluss zu sein schien, und der offenbar in der
äusseren Umgebung des Menschen liegen musste. Er versuchte nun, durch
Application chemischer und physikalischer Untersuchungsmethoden diesen
oder diese Factoren herauszufinden; er untersuchte unter Anwendung
exacter chemischer und physikalischer Untersnchungsmethoden Boden, Was¬
ser, Luft u. s. w., und strebte auf diese Weise dem einflussreichen unbekann¬
ten Etwas näher zu kommen. Dieselben exactenMethoden wandte Petten-
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9
Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts.
kofer später auch an bei der Erforschung der Erkältungskrankheiten und
bei der Erforschung der Krankheitszustände, welche durch eine Ueber-
füllung der Wohnräume entstehen.
„Nun, das, was Pettenkofer da untersuchte und die Art und Weise,
wie er es untersuchte, giebt uns unmittelbar die Definition der Hygiene.
Die Hygiene beschäftigt sich mit nichts Anderem als mit den Vorgängen in
unserer gewohnheitsmässigen natürlichen oder künstlich geschaffenen Um¬
gebung; und zwar des Näheren mit denjenigen Vorgängen, welche auf den
Ablauf der körperlichen Processe von irgend welchem erheblichem Einfluss
sind. Die sonstigen medicinischen Fächer beschäftigen sich ja eigentlich
immer nur mit den Vorgängen innerhalb des menschlichen Organismus.
Es ist aber yorauszusehen und liegt für jeden Nachdenkenden auf der Hand,
dass bei der steten Abhängigkeit unseres Körpers von den ihn umgebenden
äusseren Medien, bei der steten Abhängigkeit jeder einzelnen Function
unseres Körpers von den äusseren Verhältnissen, dass da diese äusseren
Medien und die Vorgänge in denselben von gauz ausserordentlicher Be¬
deutung für unser Wohlbefinden sein müssen. Die Hygiene füllt offenbar
geradezu eine klaffende Lücke unter den medicinischen Disciplinen aus und
es ist nur zu verwundern, dass diese Zusammenfassung des Begriffes der in
der äusseren Umgebung gelegenen schädlichen Einflüsse nicht schon früher
erfolgt ist.
„In solcher Fassung scheidet sich denn auch die Hygiene ganz scharf
und leicht von den übrigen medicinischen Fächern; zunächst sehr leicht von
der Physiologie. Die Physiologie hat es zu thun mit den Vorgängen, mit dem
gesetzmässigen Geschehen innerhalb des normalen menschlichen Körpers.
Die Hygiene hat es zu thun mit den Vorgängen ausserhalb des Körpers,
soweit diese auf die Vorgänge im Körper von Einfluss sind. Auch von der
allgemeinen Pathologie ist die Hygiene durch solche Definition leicht zu
scheiden. Die allgemeine Pathologie beschäftigt sich zwar auch mit den
Krankheitsursachen, aber offenbar liegt der Schwerpunkt für ihre For-
schungsthätigkeit wiederum im Körper; ihre Ermittelung der Wirkung der
Krankheitsursachen beginnt erst von dem Moment des Eintrittes dieser
Ursachen in den Körper an; von da ab hat die allgemeine Pathologie zu
verfolgen, wie der Körper auf das Eindringen der Ursachen reagirt, welche
Veränderungen von da an im Körper vor sich gehen. Wie aber die schäd¬
lichen Ursachen in der Umgebung des Menschen existiren, in welcher Weise
sie sich in der Umgebung des Menschen entwickeln, wie sie dort sich ver¬
breiten und von dort zum Menschen gelangen, das zu erforschen ist alles
Aufgabe der Hygiene.
„Sie sehen, die Hygiene hat ein ganz wohl abgegrenztes, in sich ab¬
geschlossenes Forschungsgebiet, so gut wie irgend eine andere medicinische
Disciplin. Des Weiteren ist sie dann selbstverständlich noch zu charakterisiren
als eine angewandte Wissenschaft. Das ist sie ungefähr in demselben
Grade wie alle übrigen medicinischen Disciplinen auch. Ferner hat die
Hygiene selbstverständlich bei ihrer Forschung HülfsWissenschaften nöthig.
Sie benutzt physikalische, chemische und experimentell - physiologische Me¬
thoden. Damit thut sie aber auch nichts Anderes, als was die übrigen
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10 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
medicinischen Disciplinen mindestens in derselben Weise und in demselben
Grade thun.
„Es fragt sich nun, ob diese Hygiene, die ich Ihnen eben charakterisirt
und definirt habe, eine Berechtigung hat, so wie die übrigen in den letzten
Jahren neu abgezweigten Fächer, von dem medicinischen Studium abgetrennt
und selbständig gelehrt zu werden ? Offenbar werden wir diese Berechtigung
zugeben müssen, wenn das Forschungsgebiet der Hygiene ein hinreichend
grosses ist, wenn die Hygiene Fragen bietet von besonderer theoretischer
und praktischer Bedeutung, und wenn es namentlich im Interesse des prak¬
tischen Arztes wünschenswerth erscheint, dass der Unterricht in der Hygiene
möglichst eingehend und sorgfältig ertheilt wird, — Diese Bedingungen
sind nun aber ganz entschieden erfüllt.
„Sie zweifeln gewiss nicht, dass die Ausdehnung des Forschungsgebietes
der Hygiene eine ausserordentlich grosse ist. Darüber ist jede Discussion
unnöthig. Die Masse der Fragen und der Probleme, welche sowohl in der
natürlichen, wie in der künstlichen Umgebung des Menschen vorliegen und
ihrer Beantwortung und Lösung harren, ist geradezu eine verwirrend grosse.
Ich will Sie nur daran erinnern, dass zur Hygiene jenes ausserordentlich
umfangreiche und wichtige Gebiet der Lehre von den Mikroorganismen und
Fermenten gehört, und Sie werden mir zugeben, dass dies Gebiet allein
fast genügende Ausdehnung besitzt, um als Specialdisciplin behandelt zu
werden, und dass die hier yorljegenden Probleme ausreicben, um viele Gene¬
rationen zu beschäftigen.
„Gerade so zweifellos ist dann auch die hohe Bedeutung der vorliegen¬
den hygienischen Fragen. Diese Bedeutung documentirt sich z. B. schon
durch den Einfluss, den die hygienische Forschung mit ihren Resultaten auf
die übrigen medicinischen Fächer letzthin geäussert hat. Sie wissen, wie
die Chirurgie, die Geburtshülfe, die Pathologie, die Therapie alle mit höch¬
stem Interesse namentlich den Forschungen auf mykologischem Gebiete fol¬
gen und die Resultate, die da durch die hygienischen Experimente gewonnen
werden, sich anzueignen und für ihre eigene Disciplin zu verwerthen suchen.
Ich erinnere Sie daran, wie offenbar die allgemeine Pathologie, die Physio¬
logie und die Hygiene in einer innigen Wechselbeziehung stehen, so zwar,
dass jeder Fortschritt auf dem einen Gebiete auch wieder einen Fortschritt
auf dem anderen zur Folge hat. Weiter liegt aber ja die hohe Bedeutung
der hygienischen Fragen noch wesentlich darin, dass so ausserordentlich
wichtige praktische Consequenzen sich an ihre Lösung knüpfen. Sie wissen,
dass auf hygienische Lehrsätze hin in allen Staaten und Städten hygienische
Insitutionen, praktische Maassnahmen geschaffen wurden, dass Millionen
und Hunderte von Millionen für diese praktischen Maassnahmen verausgabt
sind und werden, und dies Alles in einer vollständig richtigen Werth¬
schätzung der ungeheueren Vortheile, welche erzielt werden, wenn es gelingt
die Sterblichkeitsziffer und die Zahl der Krankheitstage durch die Befolgung
hygienischer Grundsätze herabzusetzen. Es sind das ja jedenfalls Ihnen
geläufige Betrachtungen, welche in früheren Jahren in grosser Zahl und
sehr ausführlich angestellt worden sind; früher hat man sogar öfter
ziffermässig die Vortheile herauszurechnen versucht, welche die Hygiene
den Städten und den Staaten zu bieten vermag, und es ist daher wohl nicht
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Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts. 11
nöthig, auf diese Bedeutung der hygienischen Fragen hier noch näher ein-
zagehen. Das steht sicherlich fest, dass kein einziges der früher abge¬
zweigten, jetzt selbständigen medicinischen Fächer auch nur annähernd in
Bezug auf die Bedeutung der in ihm enthaltenen Fragen mit der Hygiene
concurriren kann.
„Wie steht es nun drittens mit dem Unterricht? Ist es nöthig oder
wünschenswerth, dass der praktische Arzt einen besonderen und eingehen¬
den Unterricht in der Hygiene empfangt? Sie wissen, dass in ärztlichen
Kreisen seit einigen Jahren gerade auf die hygienischen Maassregeln ein
bedeutender Werth gelegt wird. Mehr und mehr macht sich die Ansicht
geltend, dass es oft wichtiger und lohnender ist, hygienische Belehrung
zu ertheilen und zu versuchen, die Entstehung einer Krankheit zu verhin¬
dern, als ausgebrochene Krankheiten zu heilen; und dem entsprechend verlangt
das Publicum jetzt bereits in ausserordentlich vielen Fällen von den Aerz-
ten hygienische Rathschläge. Man setzt voraus, dass der Arzt aufmerksam
macht auf Schädlichkeiten, die in der Wohnung, der Nahrung, Kleidung etc.
gelegen sind, man erwartet, dass bei drohenden Epidemieen, beim Nahen
infectiöser Krankheiten der Arzt die richtigen prophylaktischen Maassregeln
an die Hand giebt, dass bei ausgebrochenen ansteckenden Krankheiten der
Arzt die richtigen desinfectorischen Anordnungen trifft, um eine weitere
Verbreitung zu verhüten. Ich erinnere Sie sodann ferner daran, dass noch
eine besondere Kenntniss der Hygiene von dem beamteten Arzt, dem Phy-
sicus, von dem Arzt an öffentlichen Anstalten, von dem Militärarzt verlangt
werden muss. Diese Aerzte haben gesunde Verhältnisse herzustellen für
eine grössere Zahl ihnen anvertrauter Menschen, sie haben denselben gesunde
Lebensbedingungen, Schutz gegen Epidemieen zu beschaffen. Für diese Aerzte
ist eine wirklich befriedigende Pflichterfüllung nur möglich, wenn sie über
eine bedeutende Summe hygienischer Kenntnisse verfügen.
„Auch bezüglich des Unterrichts ist es also ganz zweifellos, dass eine
Abtrennung der Hygiene als selbständige Disciplin nur von Vortheil sein
kann, dass sie im Interesse der praktischen Aerzte ganz entschieden ge¬
wünscht werden muss. Und damit sind denn alle die Gründe ausreichend
gegeben, die in Analogie mit den früher abgetrennten Wissenszweigen für
die Nothwendigkeit einer Loslösung der Hygiene von den übrigen medi¬
cinischen Fächern und einer selbständigen Stellung derselben verlangt wer¬
den konnten.
„Nun dürfen wir mit grosser Befriedigung eigentlich sagen, dass diese
bisherigen Ueberlegungen heutzutage fast überflüssig erscheinen. Das
Thema meines Vortrages braucht heute eigentlich kaum mehr discutirt zu
werden. Denn wir haben ja factisch bereits eine selbständige Hygiene;
wir haben sogar noch mehr, wir haben jetzt seit einem Jahre ein selbstän¬
diges Examen in der Hygiene. Sie wissen, dass in dem medicinischen
Staatsexamen eine besondere Station, ein besonderer Prüfungsabschnitt ein¬
gerichtet ist, in dem jeder Mediciner in der Hygiene examinirt wird, und
seitdem haben wir selbstverständlich an allen Universitäten hygienische
Vorlesungen, die sich allerdings meist auf eine einfache Vorlesung ohne
Mithülfe von Experimenten und Demonstrationen beschränken. Ferner
wird an vielen Universitäten auch hygienische Forschung cultivirt; an eini-
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12 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
gen Universitäten wird sogar experimentell-wissenschaftlich gearbeitet, —
dann allerdings gewöhnlich nur mit Benutzung der für andere Fächer ein¬
gerichteten Laboratorien.
„Es fragt sich nun, ob denn die Zustände nicht sehr wohl so bleiben
können, wie sie jetzt sind, oder ob wir noch mehr wünschen müssen? Es
existirt da namentlich eine Partei, welche durchaus verlangt, dass die For¬
schung und der Unterricht in der Hygiene wesentlich auf experimen¬
teller Basis erfolgen müsse, und dass für eine wirkliche Förderung des
Unterrichts und der Forschung in der Hygiene durchaus selbständige hy¬
gienische Institute an den Universitäten nöthig seien. Wir müssen uns
mit dieser Frage noch etwas näher beschäftigen; sie bildet den eigentlich
streitigen Punkt meines Themas. Namentlich im Auslände existirt eine
grosse Partei, welche die hygienischen Institute und eine solche experimen¬
telle Forschung in der Hygiene für überflüssig hält. Manche glauben
sogar, dass durch andere Forschungsmethoden entschieden eher Erfolge
auf dem Gebiete der Hygiene erzielt werden.
„Und doch, meine Herren, ist es ganz zweifellos, dass wir in der That
zu einem gedeihlichen Fortschritt auf dem Gebiete der Forschung und auf
dem Gebiete des Unterrichts in der Hygiene nur mit Hülfe selbständiger
hygienischer Institute und mit vorwiegend experimenteller Behandlung der
Hygiene kommen können.
„Was zunächst die Forschung anlangt, so könnte man vielleicht denken,
dass die empirisch - statistische Beobachtungsmethode, die ja schon vielfach
in hygienischen Fragen geübt ist, im Grossen und Ganzen genügen müsste,
um weitere Forschungsresultate zu erzielen; und weiter könnte man denken,
dass ausserdem in gewissen Fällen technische Untersuchungen und tech¬
nische Methoden ergänzend eintreten und ausreichen würden, um die hygie¬
nischen Probleme vollständig zur Lösung zu bringen.
„Es ist ja nun gewiss nicht zu leugnen, dass wir durch Anwendung
der empirisch - statistischen Methode in früheren Jahren ausserordentlich
viele schöne Resultate erzielt haben. Wir haben eine Menge von hygieni¬
schen Lehrsätzen auf solche Beobachtungen gegründet, und wir haben auf
diese Lehrsätze andererseits sogar praktische Maassnahmen von grösster
Ausdehnung basirt; aber wir müssen uns doch immer bewusst sein, dass
die auf diese Weise gewonnenen Sätze nicht absolut sicher sind, dass sie
immer nur einen gewissen hypothetischen Charakter haben, und dass sie
immer nur mehr oder weniger wahrscheinliche Resultate bieten. Dieser
hypothetische Charakter liegt in der Art solcher Forschung. Meistens hat
man statistische Erhebungen angewendet; aber gerade diese statistischen
Erhebungen sind ausserordentlich schwer von allen Fehlern und Fehler¬
quellen frei zu machen. Schon bei der Sammlung der Urzahlen ist es
kaum möglich, die Fehler zu vermeiden. Dann ist es sehr schwer, hin¬
reichend lange Perioden der Beobachtung herauszugreifen, durch welche
allein eine gewisse Sicherheit der Resultate gewährt werden kann; dann
wieder ist es ausserordentlich mühsam, unter den zahlreichen wirksamen
Factoren gerade den einzelnen, dessen Wirksamkeit man beweisen will, zu
isoliren. Denken Sie z. B. nur daran, wie vielfältig die Typhusmortalität
in den letzten Jahrzehnten mit irgend welchen hygienischen Maassnahmen
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Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts. 13
statistisch verglichen ist, und dabei ist es doch ausgemacht, dass auch ohne
irgend welche hygienische Maassnahmen, ohne irgend welche Eingriffe, die
Typhusmortalität und die Typhusfrequenz in einer und derselben Gegend
ausserordentlich schwankt, dass oft Jahre, Jahrzehnte Vorkommen, in denen
sehr wenig Typhus existirt, während sich dann plötzlich schwere Epidemieen
rasch auf einander folgen. Denken Sie ferner daran, dass die Procentzahl
derer, die von den an Typhus Erkrankten an Typhus sterben, ausserordent¬
lich verschieden ist, je nach den Epidemieen, nach der Oertlichkeit, nach
der Behandlung etc. Wie schwer ist es da offenbar, aus der Typhusmorta¬
litat und aus den Schwankungen dieser Typhusmortalität auf die Wirksam¬
keit eines einzigen hygienischen Factors zurückzuschliessen! — Es ist nicht
anders möglich, als dass die Resultate, die wir auf solche Weise gewinnen,
einen gewissen hypothetischen Charakter beibehalten. Hypothese war im
Grhnde z. B. die Annahme, dass die Fäulnissstoffe in einer gewissen direc-
ten Beziehung zu den Infectionskrankheiten stehen. Eine hypothetische
Annahme war es, wenn wir glaubten, in der Salpetersäure, im Ammoniak,
in den organischen Substanzen des Trinkwassers einen Ausdruck für die
Gefährlichkeit eiues solchen Wassers zu sehen. Eine hypothetische An¬
nahme war es, wenn wir dachten, durch schweflige Säure, durch Eisen¬
vitriol die speciflschen Krankheitserreger zu schwächen und zu vernichten.
Gerade in neuerer Zeit, wo die experimentelle Forschung begonnen hat,
und wo wir manche schöne und gesicherte Resultate der experimentellen
Forschung zu verzeichnen haben, tritt dieser hypothetische Charakter
der bisherigen Resultate und Lehrsätze so ausserordentlich scharf hervor.
Namentlich sind es die Koch*sehen Untersuchungen, die uns viel Licht
und Klarheit gebracht haben, deren Ergebnisse aber mit jenen früheren
Sätzen auffällig contrastiren. Wir wissen z. B. jetzt, dass die Fäulniss-
erreger mit den Infectionskrankheiten in der That direct nichts zu thun
haben, dass es sich vielmehr bei allen diesen Infectionskrankheiten um spe-
cifische pathogene Pilze handelt, die nicht etwa aus den Fäulnisspilzen
hervorgehen, die nicht etwa in irgend einem genetischen Zusammenhang
mit jenen stehen, die sogar schlecht in Fäulnissgemischen gedeihen. Wir
wissen sodann, dass es jetzt bei der Untersuchung von Luft und Wasser
nicht wesentlich darauf ankommt, Salpetersäure und organische Substanzen
nachzuweisen, sondern wiederum 'specifische pathogene Krankheitserreger
aufzuflnden. Wir wissen jetzt ferner durch die Koch’sehen Untersuchun¬
gen, dass die Desinfectionsmittel, die man früher zur Vernichtung der
Krankheitserreger angewandt hat, in der That nicht genügend waren, um
diese Infectionserreger zu tödten, und dass wir ganz andere Mittel an wenden
müssen, um einen wirklichen Erfolg zu erzielen; wir müssen uns demnach
sagen, dass die Millionen, die in früheren Jahren für Desinfection aus¬
gegeben worden sind, eigentlich nutzlos vergeudet wurden. Wir mussten
uns ja allerdings früher auf empirisch-statistische Beobachtungen beschränken,
und wir mussten vorläufig auf die dadurch erwiesenen Sätze die hygieni¬
schen Maassnahmen stützen; aber wir dürfen nur den hypothetischen Cha¬
rakter des so Erreichten niemals vollständig vergessen, und müssen uns
bewusst bleiben, dass es dringend geboten ist, sobald als möglich durch
experimentelle Methodik zu gesicherteren Resultaten zu gelangen.
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14 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
„Aehnlich steht es auch mit der Anschauung, dass jetzt wesentlich tech¬
nische Methoden ergänzend eintreten müssten, dass einige der wichtigsten
Probleme der Hygiene, also z. B. die Frage der Wohnung, Heizung und Venti¬
lation, der Entfernung der Abfallstoffe etc., eigentlich nur noch technische
Probleme seien, und dass man es der Technik und der Vervollkommnung
der Technik einfach überlassen könnte, uns in diesen Fragen zu einer
Vollkommenheit zu führen. Das ist eine ganz falsche Anschauung, denn
wir vermögen entschieden noch nicht die richtigen Gesichtspunkte vom
hygienischen Standpunkte aus aufzustellen, wir können noch nicht die
hygienischen Forderungen exact formuliren, die an die genannten technischen
Anlagen gestellt werden müssen. Allerdings, wenn wir uns erst über diese
Forderungen wirklich klar geworden sind, dann könnte man vielleicht das
Uebrige vertrauensvoll der Technik überlassen; bis dahin aber werden wir
immer noch aufs Eifrigste mit hygienischen Experimenten und durch me-
dicinische Sachverständige uns orientiren müssen, um mehr Licht in diese
Fragen zu bekommen. Der Einfluss der Temperaturverhältnisse der äusseren
Umgebung und der Feuchtigkeitsverhältnisse auf unseren Körper muss noch
viel genauer erforscht werden. Ich erinnere Sie ferner daran, dass in der letzten
Zeit durch eine experimentelle Untersuchung z. B. nachgewiesen wurde, dass
ein rein gehaltener menschlicher Körper ein ganz ausserordentlich viel ge¬
ringeres Ventilationsquantum bedarf, als man früher immer angenommen hat.
Ich erinnere Sie weiter daran, dass wir die verschiedenen Systeme zur Ent¬
fernung der Abfallstoffe eigentlich immer nur darnach auf ihren hygienischen
Werth geprüft und beurtheilt haben, wie sie die Fäulnissstoffe zu entfernen
vermögen; jetzt aber wird es wesentlich darauf ankommen, erst einmal zu
sehen, wie denn die pathogenen speciflschen Mikroorganismen sich bei die¬
sen verschiedenen Systemen verhalten. Es ist z. B. zu fragen, ob bei der
Canalisation und bei der Aufbringung des Canalinhaltes auf porösen Boden,
auf Rieselfelder, eine Vernichtung oder aber eine Conservirung der patho¬
genen Keime eintritt. Es ist nachzusehen, in welcher Weise die übrigen
Methoden zur Entfernung der Abfallstoffe, also z. B. Torfclosets, Erdclosets
und die Poudrettefabrikation eine Vernichtung der pathogenen speciflschen
Keime veranlassen. Es ist jetzt darauf zu sehen, durch welche Systeme
mehr oder weniger eine Verbreitung solcher Keime in das Haus erfolgen
kann; — und erst dann, wenn alle solche Fragen durch wissenschaftliche
Untersuchungen und durch medicinische Sachverständige festgestellt und
geklärt sind, dann liegen die exact formulirten Forderungen vor, auf wel¬
chen die Technik weiter bauen kann; und erst dann ist es an der Zeit,
nunmehr alles Uebrige von der Vervollkommnung der Technik zu hoffen.
„Eigentlich liegt ja die Wichtigkeit der experimentellen Forschung für
die Hygiene schon auf der Hand, wenn man sich nur die Definition der
Hygiene recht klar macht. Ich habe Ihnen die Hygiene definirt als die
Lehre von den Vorgängen in unserer Umgebung, die für unseren Körper
von Einfluss sind. Nun hängen diese Vorgänge in unserer Umgebung offen¬
bar von chemischen, physikalischen und physiologischen Gesetzen ab. Wir
haben es also evidenterweise mit einer naturwissenschaftlichen Disciplin
zu thun, und dann ist doch das Einfachste resp. das Einzige, was uns eine
rasche, sichere Förderung garantirt, dass wir die Hygiene gerade so wie
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lieber die Förderung des hygienischen Unterrichts. 15
jede andere naturwissenschaftliche Disciplin behandeln, dass wir vor allen
Dingen inductiv verfahren. Wir müssen die chemischen, physikalischen
und physiologisch-experimentellen Methoden appliciren, genau in derselben
von Speculationen unbeeinflussten Weise, wie wir es bei jeder naturwissen¬
schaftlichen Disciplin sonst zu thun pflegen, und wie es bei jeder sonstigen
naturwissenschaftlichen Disciplin die schönsten Früchte gezeitigt hat. Offen¬
bar machen wir nicht etwa einen vermeidbaren Umweg, wenn wir eine
solche Methode verfolgen, sondern wir können entschieden nur auf solchem
Wege, durch eine solche experimentelle Forschung zu wirklich gesicherten,
bleibenden Resultaten gelangen.
„Wenn das aber zugegeben wird, wenn es anerkannt wird, dass die
wahre Förderung der hygienischen Forschung in der Anwendung der expe¬
rimentellen Methode beruht, — und ich meine, die imponirenden Resultate,
welche Koch durch Anwendung dieser Forschungsmethede in den letzten
Jahren erzielt hat, sollten Jeden überzeugen, dass solche Annahme richtig
ist —, dann sind auch besondere hygienische Institute unerlässlich.
Denn das ist ganz undenkbar, dass etwa diese ganze experimentelle
Forschung, so wie ich sie eben angedeutet habe, in anderen medicini-
schen Fachinstituten stattfindet. Dazu erfordert die hygienische Forschung
einen viel zu eigenartigen und viel zu complicirten Apparat. Denken Sie
nur an die eine wichtigste Seite der hygienischen Forschung, an die myko-
logischen Untersuchungen. Dazu ist eine ganze Reihe von Räumen uner¬
lässlich, dazu bedarf es eines Mikroskopirzimmers mit hellem Lichte, dann
eines Culturenzimmers, welches keine schwankende Temperatur hat, also
am besten eines besonders aptirten Kellerraumes, zum Aufstellen der Brüt¬
öfen etc.; dann ferner sind unerlässlich Stallungen, die zweckmässig einzu¬
richten sind für inficirte und für nichtinficirte Thiere. Weiter erfordert
die hygienische Forschung dann häufig den ganzen Apparat eines chemi¬
schen Laboratoriums zur Untersuchung des Wassers, der Nahrung u. s. w.,
und dieses chemische Laboratorium muss wiederum wo möglich in einer
gewissen räumlichen Verbindung mit den Zimmern für die bacteriologi-
schen Untersuchungen stehen, da bei vielen Objecten eine combinirte An¬
wendung dieser beiden Methoden stattfindet. Denken Sie weiter, dass für
die Beobachtung der meteorologischen Instrumente, für die Bodenunter¬
suchungen und für die Grundwasserbeobachtungen Anlagen auf freiem
Terrain erforderlich sind, dabei aber doch wieder in nächster Nähe der In¬
stitute und in Verbindung mit diesen. Wie wäre es denkbar, alle derarti¬
gen Erfordernisse für eine experimentelle Forschung in einem der anderen,
gewöhnlich schon so wie so überfüllten mediciniscben Institute unterzu¬
bringen ?
„Ganz ähnlich steht es nun auch bezüglich des Unterrichts. Wenn wir
uns fragen, ob denn der Unterricht auch gerade an eigens dazu eingerich¬
teten hygienischen Instituten ertheilt werden muss, so ergiebt sich die Ant¬
wort einfach aus einer Darlegung des Unterrichtsbedarfs der Studirenden.
Offenbar haben die praktischen Aerzte nicht nur die Lehren der Hygiene
zu kennen, sondern sie müssen auch durch einen Einblick in die für die
wichtigsten der Lehrsätze erbrachten experimentellen Beweise sich ein eige¬
nes Urtheil über Art und Grad der Begründung verschaffen. In sehr vielen
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16 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Fällen müssen sie auch über die speciellen Untersuchungmethoden orientirt
sein. Wie ich vorhin andeutete, verlangt man ja von den Aerzten, dass sie
nicht nur die Schädlichkeiten kennen, die in der Wohnung, in der Nah¬
rung u. s. w. liegen, sondern dass sie auch manche der Methoden beherr¬
schen , durch welche diese Schädlichkeiten aufgefunden und nachgewiesen
werden können, wenn sie auch nicht in die Lage zu kommen brauchen,
diesen Nachweis selbständig zu führen. Ich möchte ferner darauf hin-
weisen, dass die praktischen Aerzte auch gründlich in den Einrichtungen
der öffentlichen Gesundheitspflege orientirt sein müssen. Diese ragen ja so
vielfach in das Leben, wenigstens eines jeden Städters, hinein, dass es un¬
ausbleiblich ist, dass häufig Auskunft und Belehrung vom praktischen Arzt
verlangt wird über die Construction und Benutzung dieser oder jener
hygienischen Einrichtung. Es ist daher entschieden wünschenswerth', dass
der praktische Arzt in diesen Dingen orientirt sei und dass er über solche
Einrichtungen ein sachverständiges Urtheil abgeben könne. — Für den be¬
amteten Arzt ist dann sogar eine solche Beherrschung der Methoden der
Hygiene nothwendig, dass er selbst auch hier und da untersuchend ein-
greifen kann; denn ihm liegt ja oft die Pflicht ob, die Ursache von Schädi¬
gungen, welche sich innerhalb seines Wirkungskreises documentiren, und
namentlich die Ursache von ausgebrochenen Epidemieen, aufs Rascheste
aufzufinden und nach Maassgabe solcher Untersuchung Mittel zur Abhülfe
in Vorschlag zu bringen. Der beamtete Arzt muss daher zweifellos die
Untersuchungfimethoden vollständig beherrschen, und zwar muss er sie selbst
ausführen oder wenigstens die Ausführung durch einen Sachverständigen
überwachen können.
„Der hieraus resultirende Unterrichtsbedarf kann nun wiederum aus¬
schliesslich nur mit Hülfe von selbständigen hygienischen Instituten gedeckt
werden nnd mit Hülfe einer Vorlesung, welche aufs Reichste ausgestattet
ist mit Demonstrationen und Experimenten, und welche zugleich Gelegen¬
heit giebt, die praktischen Institutionen der öffentlichen Gesundheitspflege
in natura kennen zu lernen. Eine einfache theoretische Vorlesung würde
ganz sicher nicht genügen, um den Studirenden einen klaren Einblick in
die Art und Methode der hygienischen Forschung zu geben. Auf solche
Weise würde der Studirende gewiss nicht in den Stand gesetzt werden,
selbständig hygienisch zu denken und demnächst in der Praxis im gegebenen
Einzelfalle ein sicheres und richtiges hygienisches Urtheil abzugeben. Viel¬
mehr muss diese Vorlesung, wenn auf sie der Unterricht einmal beschränkt
bleiben muss, wenigstens mit zahlreichen Zeichnungen, Modellen, Apparaten
und Experimenten ausgestattet sein. Es müssen die pathogenen Mikro¬
organismen und die Culturen von Mikroorganismen gezeigt werden, es
müssen die Methoden zur Wasseruntersuchung, zur Nahrungsmittelanalyse,
zur Demonstration gelangen; es muss gelehrt werden, wie eine Ventilations¬
bestimmung auszuführen ist; einzelne der hierzu nöthigen Apparate müssen
in Fällen aus der Praxis, in Schulhäusern, in Arbeiterwohnungen zur An¬
wendung kommen; es müssen Excursionen mit den Vorlesungen verbunden
werden, bei denen eine Besichtigung der Schlachthäuser, der Anlagen zur
Entfernung der Abfallstoffe, der Rieselfelder, der Wasserversorgungs-
anlagen u. s. w. stattfindet.
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17
Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts.
„Für den beamteten Arzt ist ausserdem ein hygienisches Practicum', ein
Cursus in praktisch-hygienischen Uebungen, unbedingt erforderlich. Nur
durch solch ein Practicum, wo er selbst Gelegenheit bekommt, die Methoden
zu üben und zu appliciren, kann dem beamteten Arzt Gelegenheit gegeben
werden, die hygienische Methodik so beherrschen zu lernen, wie er es für
seinen Beruf wünschen muss.
„Nun, ein derartiger Unterricht, wie ich ihn eben skizzirt habe, kann
auch offenbar nicht etwa so nebenher in einem anderen mediciuischen
Institut ertheilt werden. Wie wäre es möglich, ohne ein eigenes hygieni¬
sches Institut den ganzen Apparat für die Vorlesungen zu beschaffen, die
Experimente vorzubereiten, die Arbeitsplätze für ein hygienisches Practicum
zu gewinnen ?
„Und so sehen Sie, meine Herren, dass sowohl die Zwecke der For¬
schung wie die Zwecke des Unterrichts uns ganz dringend und immer
wieder darauf hinweisen, dass selbständige hygienische Institute an den
Universitäten eingerichtet werden müssen. Eine Skepsis bezüglich der
Kosten dieser Institute wäre ja sehr wenig angebracht, denn Sie müssen
nur bedenken, wie eine einzige Entdeckung gerade auf hygienischem Ge¬
biete zehnfach den Kostenbetrag eines solchen Instituts wieder aufbringt,
Sie müssen bedenken, wie z. B. nur eine rationelle Correction in den Des-
infectionsmaassregeln eine Ersparniss schafft, die den Kosten für die Er¬
richtung solcher Institute mindestens gleichkommt.
„Glücklicherweise sind wir nun in Deutschland in der Lage, betreffs
der Zukunft der Hygiene bei den maassgebenden Behörden die vollste Ein¬
sicht und den besten Willen voraussetzen zu dürfen. Sie wissen, dass schon
einige hygienische Institute an Universitäten bestehen, und wir haben die
gegründete Aussicht, in der Folge noch mehr derartige Institute errichtet
zu sehen. Es scheint die Absicht zu bestehen, dass zunächst noch an
einigen wenigen Universitäten weitere hygienische Laboratorien geschaffen
werden und dass dann, nach dem Einsammeln weiterer praktischer Er¬
fahrungen und nachdem sich die Vortheile solcher Iustitute und der da¬
mit erzielten Förderung der Hygiene deutlicher gezeigt haben, auch an
den übrigen Universitäten diese Ergänzung des hygienischen Unterrichts
erfolgt. Und das ist ja jedenfalls ein Plan, mit dem wir uns einstweilen
einverstanden erklären können. Die Gegnerschaft der hygienischen Uni¬
versitätsinstitute wird jedenfalls von Tag zu Tag geringer und es werden
bald nur Wenige noch sich finden, die, wenn die experimentellen For¬
schungen so wie bisher Erfolge erzielen, gegen die Errichtung weiterer
hygienischer Institute sich erklären. Ich glaube, Sie werden mir Recht
geben, wenn ich behaupte, dass die Gegner der Institute wesentlich nur
desshalb Gegner sind, weil sie sich die Ziele und die Aufgaben der Hygiene
nicht hinreichend klar gemacht haben.
„Gerade weil so ausserordentlich viel darauf ankommt, dass man sich
die Aufgaben der Hygiene und der hygienischen Institute möglichst deut¬
lich vor Augen führt, möchte ich es zum Schluss unternehmen, Ihnen eine
kurze UeberBicht über die Thätigkeit der hygienischen Institute zu geben,
so wie wir dieselbe erstreben. — An diesen Instit"+en müsste zunächst eine
Viertejjahrsschrift für Gesundheitspflege, 1885. 2
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18 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpfig. zu Hannover.
Vorlegung gehalten werden, und zwar etwa vierstündig, an grösseren Uni¬
versitäten in jedem Semester, an kleinen Universitäten vielleicht nur in
jedem zweiten Semester. Ich will Ihnen kurz den Inhalt dieser Vorlesung
skizziren, hauptsächlich um Ihnen zu zeigen, wie innig Demonstrationen,
Experimente und Excursionen mit in diese Vorlesungen hinein verflochten
sein müssen.
„Wir scheiden die Vorlesung über Hygiene in zwei Haupttheile: der
erste Haupttheil umfasst A. die natürliche, der zweite B. die künstliche
Umgebung des Menschen (beide werden jedoch aus praktischen Gründen
nicht überall streng geschieden gehalten; der Schwerpunkt der Disposition
ist nur auf die einzelnen Capitel zu legen). Im ersten Capitel werden
die Mikroorganismen besprochen, ihre Systematik, ihre Lebensbedingungen
und Lebensäusserungen, ihre Absterbebedingungen und die Mittel zur Des-
infection, die Constanz und Veränderlichkeit ihrer Arten. Zur Demonstra¬
tion kommen bei diesem Capitel die wichtigsten Gährungs- und Fäulniss-
organismen, sowie die wesentlichsten Krankheit erregenden Pilze in
Zeichnungen, mikroskopischen Präparaten und in Culturen. Die Methoden
der Cultur, namentlich auf festem Nährboden, werden gezeigt; ebenso
die Methoden zur Prüfung von Desinfectionsmitteln; die verschiedenen
De8infection8mittel und -apparate werden, letztere in Form von Zeich¬
nungen oder Modellen, vorgeführt; eine grössere Desinfectionsanstalt
wird besichtigt. Das zweite Capitel bespricht die hygienischen Bezie¬
hungen der Luft. Es wird zunächst das physikalische (meteorologische)
Verhalten der Luft behandelt, wobei die Apparate zur Bestimmung der
Temperatur, der Luftfeuchtigkeit, der Luftgeschwindigkeit etc. gezeigt und
bezüglich ihrer Gebrauchsweise erläutert werden. Es folgt die Besprechung
des chemischen Verhaltens der Luft, wobei namentlich die verschiedenen
Methoden zur C0 3 -Bestimmung, und zum Nachweis von sonstigen gasigen
Beimengungen deraonstrirt werden. Weiter werden die morphologischen
Bestandtheile der Luft, ihre Bedeutung für den Organismus und ihre Be¬
stimmung durch die verschiedenen aeroskopischen Methoden abgehandelt.
Im dritten Capitel wird der Boden, der Einfluss seiner äusseren Ge¬
staltung, die mechanische Structur des Bodens, seine physikalischen Eigen¬
schaften, das Verhalten der Mikroorganismen im Boden erörtert; daran
schliesst sich die Bodenluft und das Bodeu- resp. Grundwasser mit seinen
zahlreichen hygienischen Beziehungen. Dieses Capitel wird illustrirt durch
Vorführung der entsprechenden Methoden zur Bestimmung der Bodenwärme,
zur Messung des Grundwasserstandes, zur Analyse der Bodenluft, zur Unter¬
suchung auf Mikroorganismen etc. Das vierte Capitel giebt die wich¬
tigsten Lehren über die hygienische Bedeutung des Wassers, die Methoden
der Wasseruntersuchung werden gezeigt, die einzelnen Theile einer öffent¬
lichen Wasserversorgungsanlage besichtigt Das fünfte Capitel bespricht
die Nahrung; zunächst die Ernährungsgesetze und allgemeinen Eigen¬
schaften der Nahrungsmittel; dann die einzelnen Nahrungsmittel, Milch,
Butter, Fleisch etc. Tabellen, plastische Darstellungen und Präparate wer¬
den demonstrirt, die wichtigsten Methoden zur Milch-, Butter- und Fleisch¬
untersuchung etc. werden gezeigt, Excursionen nach einem Schlachthause
und nach einer Centralmolkerei eingefügt.
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19
Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts.
„B. Die specielle künstliche Umgebung des Menschen bietet ein
erstes Capitel über Kleidung, in welchem das Verhalten der Kleidung
zum Körper erörtert und die mikroskopisch-physikalische Untersuchung der
Kleidung gezeigt.wird. Das zweite ausgedehnte Capitel umfasst die
Wohnung. Zunächst ist der Bau des Hauses, der Baugrund, Bauplan, das
Baumaterial, die Ausführung des Baues, die Vertheilung der Wohnräume
zu besprechen; Pläne und Zeichnungen, die Methoden zur Untersuchung des
Baumaterials und der Mauerfeuchtigkeit sind anzufügen. Sodann erfordert
die Regulirung der Temperatur, die Heizung, die Ventilation und die Be¬
leuchtung des Wohnhauses eingehende Erörterung, illustrirt durch die
Methoden zur Prüfung der Heizanlagen, durch Vorführung von Ventilations¬
bestimmungen, durch die Methoden zur Prüfung der Leuchtmaterialien, so¬
wie durch Excursionen in einige mit charakteristischen Heiz- und Venti¬
lationsanlagen versehene Gebäude. Weiter sind die verschiedenen Systeme
zur Entfernung und Verarbeitung der Abfallstoffe zu schildern, und mit
Abbildungen und Modellen zur erläutern; Excursionen zur Besichtigung
von Canalanlagen, Rieselfeldern, Abfuhrdepöts, Poudrettefabriken, müssen
die Darstellung ergänzen. Endlich sind die weiter gehenden Wohnungs¬
anlagen , Strassen, Städteerweiterungen; dann gewisse besondere Woh¬
nungsanlagen, Schulen, Lazarethe, Gefängnisse, Arbeiterwohnungen, endlich
Leichenhäuser und Friedhofsanlagen zu besprechen, die sämmtlich durch
Pläne und Modelle, vor Allem aber durch den Besuch der Anlagen selbst
und dort an Ort und Stelle gegebene Erläuterungen zu genauerer Kenntniss
gebracht werden müssen. — Als weiteres Capitel tritt hinzu der Einfluss
der Beschäftigung: dahin gehören die Gewerbekrankheiten, die Gefahren
durch Verkehrsmittel; ferner ein Capitel, das die Beobachtungen über In-
fectionskrankheiten und die Schutzmaassregeln gegen dieselben recapitulirt;
ein solches, welches die Grundzüge der statistischen Methode und die wich¬
tigsten Resultate der hygienischen Statistik giebt; und endlich ein Capitel,
das die sanitäre Gesetzgebung und die Organisation des öffentlichen Gesund¬
heitswesens behandelt. *
„Sie sehen, wie überall ein bedeutender Apparat von Demonstrationen
nnd Experimenten die Vorlesung begleitet, und dass letztere ohne diese
ihres wichtigsten Inhalts beraubt sein würde.
„Neben der Vorlesung ist dann an den hygienischen Instituten ein
hygienisches Practicum einzurichten. Dasselbe ist nur berechnet
für solche Studirende, die ein regeres Interesse für Hygiene haben oder die
entschlossen sind, sich demnächst um eine amtliche Stellung zu bewerben.
Der Zudrang zu diesem Practicum seitens der Studirenden wird voraus¬
sichtlich nicht gross sein; es wird genügen, wenn dasselbe jedes zweite
Semester, am besten im Sommersemester, in wöchentlich vier Stunden
gehalten wird. Viele Mediciner gewinnen nun aber erst grösseres Interesse
an der Hygiene oder entschliessen sich, in eine amtliche Stellung zu treten,
wenn sie bereits die Universität verlassen und die Praxis eine Zeit lang be¬
trieben haben. Ich halte es für sehr wichtig, dass diesen Aerzten passende
Gelegenheit gegeben wird, sich nachträglich inniger mit den hygienischen
Methoden vertraut zu machen, und dazu ist nichts geeigneter, als ein sol¬
ches hygienisches Practicum, das aber auf kurze Zeit zusammengedrängt
2 *
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20 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
werden müsste. Ich glaube es wird am passendsten sein, wenn an jedem
hygienischen Institute jährlich einmal ein Practicum von sechs wöchentlicher
Dauer für praktische Aerzte eingerichtet wird, und dass dann während der
Dauer des Practicum8 die Arbeiten etwa sechs Stunden täglich in Anspruch
nehmen.
„Gegenstand des Practicums bilden alle die wichtigeren unter den
hygienischen Methoden, die auch in der Vorlesung gezeigt werden; nur
dass hier die Praktikanten lernen müssen, die Methode selbständig auszu¬
führen und zu appliciren. Sie müssen die Untersuchung auf Mikroorganis¬
men, die Anlage von Culturen und namentlich von Reinculturen lernen, sie
müssen mit der Beobachtung der meteorologischen Instrumente vertraut
werden, die einfachsten Methoden zum Nachweis der Nahrungsmittel¬
fälschungen kennen lernen, sie müssen Grundwasser- und Bodentemperatur¬
beobachtungen anstellen, Heizanlagen prüfen, Ventilationsbestimmungen
ausführen, die vollständige Untersuchung einer inficirten Oertlichkeit vor¬
nehmen u. 8. w.
„Durch diese praktischen Uebungen wird dann leicht bei einzelnen
Medicinern das Interesse an der Hygiene so gross werden, dass sie den
Wunsch haben, genauere Studien darin anzustellen und namentlich sich an
eigenen Forschungen zu versuchen. Dies führt mich dann auf die
dritte Thätigkeit der hygienischen Institute, auf welche ein besonderer
Werth zu legen ist, auf die wissenschaftlichen Untersuchungen durch Fort¬
geschrittenere. Eine ausserordentlich grosse Reihe hygienischer Fragen
eignet sich vortrefflich zur Bearbeitung durch solche relativ wenig in Labo¬
ratorium sarbeiten geschulte und über wenig Zeit disponirende Hülfskräfte;
ich will Ihnen hier nur einige wenige Beispiele solcher Themata aus ein¬
zelnen Gebieten der Hygiene geben. — Auf dem Gebiete der Lehre von den
Mikroorganismen ist z. B. eine genauere Charakteristik und Isolirung der
auf den Oberflächen des normalen menschlichen Körpers häufiger vor¬
kommenden Pilze zu liefern; sodann ist das Schicksal der in den Körper
gelangenden Pilze näher zu studiren, es ist z. B. zu ermitteln, in wie weit
eine Aufnahme von Pilzen durch den Darm stattfindet, ob eine Ausscheidung
von Pilzen aus dem Körper durch den Harn oder sonstige Excrete erfolgt,
ob durch irgend welche Einflüsse ein Absterben gewisser Mikroorganismen
im Körper des Warmblüters erfolgt. Ferner ist an Reinculturen von Pilzen
eine Reihe von biologischen Fragen zu untersuchen; ihre chemische Zusammen¬
setzung ist zu ermitteln, die Stoffwechselproducte sind zu studiren, nament¬
lich mit Rücksicht auf die Production von freien Säuren, von aromatischen
Producten und von Alkaloiden. Die Bedingungen der Sporenbildung sind
näher festzustellen; weitere Prüfung von Desinfectionsmitteln an pathogenen
Pilzen ist auszuführen. — Auf dem Gebiete der Ernährungsfragen sind die
bisherigen Versuche nach gewissen Richtungen hin auszudehnen; es ist z. B.
die Grenze genauer festzustellen, bis zu welcher die einzelnen Nahrungs¬
mittel gegeben werden können, ohne die Ausnutzbarkeit der gesammten
Nahrung zu beeinträchtigen; die Bedeutung gewisser billiger Nahrungsmittel,
der abgerahmten Milch, gewisser Käsearten, sowie billiger Surrogate etc.
für die Ernährung ist zu ermitteln; die Veränderung der Ausnutzbarkeit
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Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts. 21
der Nahrungsmittel durch gewisse Zubereitungsmethoden, z. B. die neueren
Kochapparate, ist zu studiren. Ferner ist die Verbreitung der Mikroorga¬
nismen auf Nahrungsmitteln zu untersuchen; namentlich sind hier solche
Nahrungsmittel in Betracht zu ziehen, die roh genossen werden, wie Früchte;
ferner Nahrungsprfiparate, z. B. Gebäck, Bier, Conserven. — In den Fragen
der Wohnung sind prficisere Bestimmungen über den Einfluss der Luft¬
feuchtigkeit auf den Organismus anzustellen und die Abhängigkeit des
Feuchtigkeitsgehalts der Zimmerluft von der Einwirkung der Wände und
Gegenstände und von anderen Einflüssen ist klar zu legen; durch genauere
Untersuchung der Temperatur, der Feuchtigkeit, des Luftwechsels und durch
mykologische Untersuchungen ist eine Erkenntniss des schädlichen Ein¬
flusses der Kellerwohnungen anzubahnen. Mit Rücksicht auf die Ent¬
fernung der Abfallstoffe sind namentlich Studien über das Schicksal von
pathogenen Organismen in Flüssigkeiten bei gleichzeitiger Anwesenheit
von Gähr- oder Fäulnissorganismen anzustellen; ferner darüber, wie sich
einzelne Pilze und Pilzgemenge im porösen Boden verhalten; ob hier etwa
eine Vernichtung, Entfernung oder Conservirung der Mikroorganismen und
Sporenbildung eintritt. Diese Untersuchungen sind dann auf die Erd- und
Torfclosets, sowie auf Rieselfeldanlagen auszudehnen. Des Weiteren ist das
Verhalten von Pilzgemengen in Flüssen und die Bedingungen ihres Zu¬
grundegehens in denselben; endlich das Eindringen von Keimen ins Wohn¬
haus von Abtrittanlagen aus, mit Hülfe der neuen verbesserten bacteriolo-
gischen Methoden zu prüfen.
„Das sind so einige Beispiele von Aufgaben, die ich nur einzelnen
Theilen des hygienischen Gebietes entnommen und mit besonderer Berück¬
sichtigung ihrer Bedeutung für die öffentliche Gesundheitspflege aus¬
gewählt habe, die aber genügen mögen, um Ihnen auch über diese Seite
der Thätigkeit der hygienischen Institute einen ungefähren Ueberblick zu
gewähren.
„Sie sehen, meine Herren, die Aufgaben für die hygienischen Institute
sind ausserordentlich zahlreich und interessant, und die Lösung dieser Auf¬
gaben ist zweifellos in höchstem Grade nutzbringend; hoffen wir, dass sich
von Jahr zu Jahr nun auch die Stätten mehren, an welchen mit voller Hin¬
gabe wissenschaftliche Hygiene gelehrt und gefördert wird.“
Vorsitzender Oberingenieur Meyer theilt mit, dass der Correfe-
rent, Herr Generalarzt Prof. Dr. Roth (Dresden) leider dienstlich verhindert
sei zu erscheinen und desshalb seine Thesen zu dem vorstehenden Thema
eingeBandt habe, die er lebhaft bedauere nicht selbst motiviren zu können.
In diesen Thesen habe Herr Generalarzt Dr. Roth noch die Vertheilung des
hygienischen Unterrichts auf die verschiedenen Lehranstalten und die Prä-
ciflirung der einzelnen Zweige desselben für die verschiedenen Berufsarten
dargelegt und so seien diese Thesen in vieler Beziehung als eine nützliche
Ergänzung des Referates des Herrn Professor Flügge anznaehen.
Es lauten die
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22 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Thesen
von Generalarzt Professor Dr. Roth.
1. Der Unterricht in der Hygiene zerfallt in den auf den Universitäten
für Mediciner (Studirende und Aerzte) und in den auf anderweitigen
Fachbildungsanstalten. Derselbe ist in der gewöhnlichen Schule
nicht zu ertheilen, eine kurze Anweisung der Hülfeleistung bei Un¬
glücksfallen ist dort mit dem Turnunterricht zu verbinden.
2. Der Unterricht in der Hygiene für die Mediciner auf der Universität
hat die drei Hanpttheile der Hygiene: Den biologischen (darin die
Bacteriologie), chemischen und technischen Theil in seinen Haupt¬
sachen zu umfassen. Derselbe wird für die Studirenden wegen Man¬
gel an Zeit hauptsächlich demonstrativ sein müssen, es muss jedoch
Gelegenheit zum eigenen Arbeiten namentlich für mikroskopische und
chemische Fragen gegeben sein. Das eigene praktische Arbeiten
wird besonders den auf der Universität studirenden Aerzten zufallen,
zumal wenn sie später Medicinalbeamte werden wollen. Zur Aus¬
bildung in den technologischen Fragen müssen Sammlungen guter
Modelle vorhanden sein.
3. Der Unterricht an besonderen Fachbildungsanstalten: Technische
Hochschulen, Bergakademieen, Kriegsakademieen, Kriegsschulen und
Seminaren hat diejenigen Theile der Hygiene besonders zu berück¬
sichtigen, welche nach der besonderen Verantwortlichkeit
der dort Auszubildenden hauptsächlich in Betracht kommen. Hier¬
nach werden auf Bauakademieen etc. die ConBtruction der Wohnungen
und die Hygiene der Gewerbe, auf militärischen Anstalten die Ver¬
hältnisse des Soldaten, auf Seminaren die Schul- und Erziehungs¬
hygiene besonders zu berücksichtigen sein.
4. Das Lehrpersonal wird hauptsächlich aus Aerzten zu nehmen sein,
welche das ganze Gebiet der Hygiene kennen, es sind jedoch hygie¬
nisch gebildete Nichtärzte, namentlich Techniker, nicht auszuschliessen.
5. Als besonders wichtig ist der Anschauungsunterricht zu betrachten,
so dass gegebene hygienische Verhältnisse zu beurtheilen sind. Hier¬
zu wird die Verallgemeinerung hygienischer Sammlungen oder Museen,
welche in allen grösseren Städten gute hygienische Muster zur An¬
schauung des Publicums bringen, ein mächtiges Unterstützungsmittel
sein und ist daher die Schöpfung derartiger Sammlungen bei Be¬
hörden wie Privaten möglichst zu fordern.
Bei der nun folgenden Discussion erhält zunächst das Wort
Docent Dr. med. B. Blasius (Braunschweig). Derselbe schliesst
sich den von Herrn Prof. Flügge vorgetragenen Thatsachen und Wünschen
vollkommen an und will nur die Frage auch vom Standpunkte der tech¬
nischen Hochschule kurz erörtern. Als Lehrer an der technischen
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Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts. 23
Hochschule zu Braunsohweig habe er Gelegenheit gehabt, einige der von
Herrn Prof. Flügge erwähnten Desiderien speciell in Bezug auf die tech¬
nische Seite der Hygiene näher kennen zu lernen, insbesondere den in
These 3 des Herrn Generalarzt Roth berührten Punkt, der von den an den
verschiedenen Fachbildungsanstalten besonders zu berücksichtigenden Zwei¬
gen der Hygiene handele. In den fünf Jahren, während deren er jetzt Vor¬
lesungen über öffentliche Gesundheitspflege in Braunschweig halte, habe er
häufig zu bemerken Gelegenheit gehabt, wie wichtig es speciell für eine
Hauptabtheilung der technischen Hochschulen, für die Architectur sei,
dass die Studirenden der Architectur, die späteren Bauleute und Baubeamten,
die Grundbegriffe der Wohnungshygiene mit in das praktische Leben hin¬
einnehmen. Täglich noch komme es vor, dass Gebäude, öffentliche wie
private, in einer den Principien der Hygiene schnurstracks zuwiderlaufenden
Weise gebaut werden und es sei dies auch vollkommen erklärlich, da die
Hygiene noch eine sehr junge Wissenschaft sei und die jetzt amtirenden
Baubeamten zum grossen Theil gar nicht in der Lage gewesen seien, sich
mit diesen hygienischen Grundsätzen auf den höheren Lehranstalten, in
denen sie ausgebildet worden seien, zu beschäftigen. Man könne ihnen
hieraus so wenig einen Vorwurf machen, wie einem grossen Theil der Aerzte,
die auf Universitäten öffentliche Gesundheitspflege nicht haben hören können
und noch viel weniger Gelegenheit gehabt haben, praktisch darin zu
arbeiten.
Ganz ähnlich verhalte es sich auf den technischen Hochschulen mit
dem nicht minder wichtigen Fach der Ingenieurwissenschaft, bei der
in Bezug auf Reinhaltung von Grund und Boden, auf Canalisations- und
Entwässerungsanlagen, auf Wegschaffung der Excremente etc. die Hygiene
eine so wichtige Rolle spiele. Wenn Herr Prof. Flügge sage, dass bei
allen diesen Fragen die grundlegenden Voruntersuchungen in den hygie¬
nischen Laboratorien gemacht werden müssen, so stimme er dem zwar voll¬
kommen bei, damit sei die Sache aber noch nicht abgethan; es handele sich
nachher darum die Sache in die Praxis überzuführen, gerade wie z. B. die
Herstellung schöner neuer Farben in einem chemischen Laboratorium die¬
selben darum noch nicht praktisch für eine grosse Färberei, für eine chemische
Fabrik verwendbar mache. Diese Frage müsse vornehmlich den technischen
Hochschulen zufallen, weil diese eine Reihe Docenten besitzen, die sich wesent¬
lich mit diesen Fragen zu beschäftigen haben, Chemiker und Physiker, die
wie an den Universitäten wissenschaftlich den Hygieniker unterstützen
müssen, weiter aber auch Architekten, Lehrer für Bauconstruction, Wasser¬
bauingenieure und andere Ingenieure, die in steter directer Verbindung mit
ihren hygienischen Collegen die praktische, auf das Leben anwendbare Seite
der Hygiene cultiviren und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung
praktisch verwerthen. Es sei dies ein besonderer Vortheil der technischen
Hochschulen, dass an ihnen jene beiden Classen von Docenten angestellt
seien und zusammen lehren.
Weiter seien die Pharmaceuten zu erwähnen, aus deren Reihen
bereits eine grosse Zahl tüchtiger Hygieniker hervorgegangen sei, die viel¬
fach, namentlich in den Ländern, die keine eigenen Universitäten haben,
ebenfalls in den technischen Hochschulen ihre Ausbildung empfangen und
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24 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
die wenigstens in Braunschweig die eifrigsten Zuhörer in den hygienischen
Vorlesungen seien. So lange die Zahl der hygienisch durchgehildeten
Aerzte noch keine grosse sei, seien die Apotheker für die Praxis, nament¬
lich für die Bedürfnisse des Landes ausserordentlich wichtig, da ihnen die
chemisch-hygienischen Untersuchungen ohnehin nahe liegen; auch sei es
beim Volke Sitte, sich in vielen Fragen, wenn man keinen Arzt, keinen
Hygieniker zur Hand habe, an den Apotheker zu wenden und sich von ihm
Bath zu holen.
Dies seien die Punkte, die speciell vom Standpunkte der technischen
Hochschulen hervorzuheben seien; wichtig sei es dafür natürlich auch,
dass auf den technischen Hochschulen hygienische Laboratorien und hygie¬
nische Sammlungen angelegt würden und dass den Lehrern Gelegenheit ge¬
geben werde, Excursionen mit den Studirenden zu machen, die wichtigsten
Fabrikanlagen kennen zu lernen etc., in ganz ähnlicher Weise, wie dies
seitens des Herrn Prof. Flügge für die Universitäten verlangt worden sei.
Docent Dr. Hueppe (Wiesbaden) hält das Bedürfnis nach hygie¬
nischen Instituten für ein tief empfundenes. Als an ihn im vergangenen
Frühjahr die Aufforderung herangetreten sei, die Einrichtung und Leitung
eines derartigen Instituts in Wiesbaden zu übernehmen, sei scheinbar aus
localen Gründen wenig Aussicht auf Erfolg gewesen; aber kaum sei das¬
selbe eingerichtet gewesen, seien alle Erwartungen übertroffen worden, so¬
wohl durch Zuspruch von Aerzten als von Technikern und Pharmaceuten.
An dem Bedürfniss nach hygienischen Instituten und besonders auf den
Universitäten zweifele heutzutage wohl Niemand mehr, von Seiten des
Herrn Cultusministers werde den hygienischen Bestrebungen in wünschens¬
werter Weise Unterstützung zu Theil; freilich müsse auch die Hygiene, als
die jüngBte der Doctrinen, nicht unbescheiden in ihren Forderungen sein.
Die Forderungen der beiden Herren Vorredner seien sehr wohl zu ver¬
einen, die Bedürfnisse der Mediciner, Techniker und Pharmaceuten Hessen
sich sehr wohl in Verbindung bringen durch Vorlesungen mit Demonstra¬
tionen über das Gesammtgebiet der Hygiene und durch praktische Curse,
die, wenn man sie auf das Notwendige beschränke, meist so anregend
seien, dass die Studirenden ausführlichere Curse nehmen und selbständig
weiter arbeiten. Dabei müsse man freilich stets im Auge behalten, dass
nicht in erster Linie Hygieniker gebildet werden sollen, sondern vor Allem
hygienisch denkende Aerzte und Techniker, die im Stande seien, den hygie¬
nischen Forschungen zu folgen. Die Aufgabe so aufgefasst und nicht als
Heranbildung hygienischer Specialisten werde viel dazu beitragen, den viel¬
fach noch bestehenden Widerspruch der älteren Disciplinen gegen die Hygiene
zu beseitigen und ihr Anerkennung zu verschaffen.
Bei dem hygienischen Unterricht handele es sich dann aber noch um
eine zweite Frage, nämlich die Ausbildung der speciell für die Hygiene sich
interessirenden Medicinalbeamten. Hier seien Feriencurse vorgeschlagen
worden, kurze, praktische Curse, die sich natürlich viel interessanter und
praktischer gestalten lassen, wenn der vorausgegangene, von jedem Arzte
geforderte Unterricht der Hygiene schon ein gewisses hygienisches Denken
angeregt habe. Bis jetzt sehe es hiermit noch schlimm aus, eine Physicats-
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25
Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts.
prüfung werde zwar verlangt, aber von öffentlicher Gesundheitspflege komme
da wenig vor. Die Ablegung des Physicatsexamen sei durchaus kein Maass¬
stab, dass ein besonderes Wissen in der Hygiene erreicht sei, es lasse nur
allenfalls den Schluss zu, dass, wer soviel Interesse habe, um bei den jetzigen
Physicatsverhältnissen überhaupt das Examen zu machen, durch dieses
Interesse eine viel grössere Garantie gebe, als durch die Ablegung des
Examens selbst.
Wie der hygienische Unterricht speciell gestaltet werden solle, werde
von der Persönlichkeit des Lehrers und von localen Verhältnissen abhängen,
nach der Schablone könne das nicht geschehen und es würde sehr zu be¬
dauern sein, wenn man etwa irgend einer Moderichtung zu liebe die auf¬
blühende Hygiene in bestimmte Richtungen einseitig hineinzwängen wollte.
Im Grossen und Ganzen aber müsse man mit Herrn Prof. Flügge darin
übereinstimmen, dass die Errichtung hygienischer Lehrstühle und hygie¬
nischer Institute eine dringende Nothwendigkeit sei.
Kreisphy8icus Dr. Nötzel (Colberg) betont vom Standpunkte des
Medicinalbeamten aus das Bedürfniss nach den erwähnten hygienischen
Fortbildungscursen, die leider bis jetzt kaum irgendwo beständen und für
die überwiegende Mehrzahl der Medicinalbeamten schon der pecuniären
Opfer wegen noch vollkommen unerreichbar seien. Das Bedürfniss nach
solchen Cursen sei schon auf dem im vorigen Jahre neu gegründeten Medi¬
cinalbeamten verein ausgesprochen und allgemein anerkannt, merkwürdiger¬
weise freilich auch von manchen Seiten, selbst von Medicinalbeamten als
kaum erfüllbar angesehen worden. Der ganze Stand der Medicinalbeamten
werde der Versammlung sehr dankbar sein, wenn sie einer Resolution bei-
stimme, in welcher sie hygienische Fortbildungscurse, zunächst für Medicinal-
beamte, nach Art der Fortbildungscurse, wie solche schon längst mit grossen
finanziellen Beihülfen von Seiten des Staates für Militärärzte und namentlich
für die jüngeren Militärärzte aus dem Beurlanbtenstande eingerichtet seien,
für dringend wünschenswerth erkläre. Gerade die Einrichtung der militär¬
ärztlichen Fortbildungscurse werde ein naheliegendes Beispiel dafür bieten,
in welcher Weise der Besuch dieser Fortbildungscurse einem grossen Theil
der Medicinalbeamten wenigstens ermöglicht werden könne und werde auch
ungefähr übersehen lassen, mit welchen Beihülfen von Seiten des Staates
dies geschehen könne. Ein Anfang sei in alleijüngster Zeit dadurch ge¬
macht worden, dass seitens der Regierung einzelne Medicinalbeamte zu
einem bacteriologischen Fortbildungscursus im Reichsgesundheitsamte ein¬
berufen werden, offenbar weil das Näherrücken der Cholera es durchaus
nothwendig erscheinen lasse, in jedem Regierungsbezirk wenigstens einen
oder den anderen Medicinalbeamten zu besitzen, der im Stande sei, Komma¬
bacillen aufzufinden und deren Anwesenheit zweifellos festzustellen. Dies
sei natürlich nur ein ganz kleiner, immerhin sehr erfreulicher Anfang in
der vorgeschlagenen Richtung. Er beantrage desshalb folgende Resolution:
„Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege erklärt
die Einrichtung von hygienischen Fortbildungscursen, zunächst für
Medicinalbeamte, und die Erleichterung des Besuches dieser Curse
durch staatliche Beihülfe für dringend wünschenswerth.“
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2G Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Gymil&siAldirector Dr. Fulda (Sangershausen) lenkt die Aufmerk¬
samkeit auf den in §. 1 der vom Herrn Generalarzt Dr. Roth vorgeschla¬
genen Thesen, in welchem es heisse: Der Unterricht in der Hygiehe „ist
in der gewöhnlichen Schule nicht zu ertheilen* und begrüsst diesen Satz
mit Freude, da in demselben ausgesprochen sei, dass an den allgemeinen
Bildungsanstalten ein früher wohl von hygienischer Seite geforderter syste¬
matischer Unterricht in der Hygiene nicht stattfinden solle. Mit diesem Satze
solle aber nicht gesagt sein, dass eine Berücksichtigung der Hygiene an den
allgemeinen Bildungsanstalten überhaupt nicht stattfinden solle, eine solche
könne sehr wohl an verschiedenen Stellen des allgemeinen naturkundlichen Un¬
terrichts eintreten, der nach den neueren preussischen Verordnungen in allen
Classen, von den untersten bis zu den obersten, in zwei Stunden wöchentlich
ertheilt werden müsse und bei welchem auch ein elementarer Unterricht in
Anthropologie vorgesehen sei. Hier liege es sehr nahe und sei vielfach
auch schon geschehen, einschlägige hygienische Fragen mit zu berücksichtigen,
z. B. bei der Lehre von den Functionen der Lungen die mannigfachen Ur¬
sachen und Gefahren der Luftverderbniss, hei den Functionen des Magena
Manches aus der Hygiene der Nahrungsmittel u. dergL, ebenso werde in der
Physik bei der Lehre von der Wärme sich die Kleidungsbygiene natur-
gemäss anschliessen und Anderes mehr. Das diene einerseits dazu, den
Unterricht lebendiger und anschaulicher zu gestalten, andererseits befördere
es Interesse und Verständniss für mannigfache wichtige Fragen der öffent¬
lichen und privaten Gesundheitspflege. Es empfehle sich daher nach dem
Satze in These 1: „Derselbe (der hygienische Unterricht) ist in der gewöhn¬
lichen Schule nicht zu ertheilen u , einzufügen:
„doch erscheint es wünschenswerth, dass in derselben bei dem
allgemeinen naturkundlichen Unterricht die wichtigsten hygieni¬
schen Fragen in geeigneter Weise mit berücksichtigt werden. 1 *
Dr. Kalischer (Berlin) glaubt, dass die These 1 der vom Herrn Direc-
tor Fulda vorgeschlagenen Amendirung nicht bedürfe. In der These sei
offenbar nur der planmässige Unterricht der Hygiene in den gewöhn¬
lichen Schulen gemeint, das vom Herrn Director Fulda Gemeinte sei daher
nicht ausgeschlossen.
Hiermit ist die Discussion geschlossen.
Vorsitzender Oberingenieur Meyer fragt die Versammlung, ob
es ihre Absicht sei, über die Thesen des Herrn Generalarzt Roth im Ein¬
zelnen zu discutiren event. abzustimmen. In den letzten Jahren sei wieder¬
holt von einer Abstimmung abgesehen worden und die Versammlung habe,
auch wenn sie den Standpunkt des Referenten getheilt habe, das dargebotene
Material als einheitliches Ganzes entgegengenommen, zur Veröffentlichung
geführt und auf diese Weise zur vollen Wirkung gebracht. In dem vor¬
liegenden Falle habe die Versammlung es mit einem umfassenden und
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Ueber die Förderung des hygienischen Unterrichts. 27
durchgearbeiteten Vortrag zu thun und ausserdem mit Thesen, an welche
sich noch andere Anträge knüpfen und es frage sich nun, ob über die
Thesen und Amendements im Einzelnen discutirt und abgestimmt, oder ob
über dieselben en bloc abgestimmt werden solle oder ob yon jeder Ab¬
stimmung abgesehen und, wenn kein Widerspruch von irgend welcher Seite
erfolge, von Seiten des Präsidiums nur ausgesprochen werde, dass die Ver¬
sammlung sich mit den Herren Referenten in Uebereinstimmung befinde.
Sanitätsrath Dr. Graf (Elberfeld) Bpricht sich für den zuletzt seitens
des Herrn Vorsitzenden vorgeschlagenen Modus aus, da bei der speciellen
Berathung der einzelnen Thesen mancherlei Bedenken auftreten und Amen-
dirungen aufgestellt werden würden, die die Discussion ins Unendliche ver¬
längern könnten. Die Versammlung sei gewiss mit dem Gehörten im Grossen
und Ganzen einverstanden, nachdem Herr Prof. Flügge wesentlich die For¬
derungen für den Unterricht der Hygiene im Allgemeinen aufgestellt habe
und durch die dankenswerthen Thesen des Herrn Generalarzt Roth und
die Ausführungen der DDr. Blasius und Hueppe die Scheidung präcisirt
worden sei, wie an den technischen Hochschulen und anderen Lehranstalten
die Hygiene den ihnen vertretenen Berufsclassen angepasst werden solle.
Vorsitzender Oberingenieur Meyer fragt die Versammlung, ob
sie in Uebereinstimmung mit dem Vorschläge des Herrn Sanitätsrath Dr. Graf
einverstanden sei, dass er in seiner Stellung als Vorsitzender erkläre:
„Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hat den
Vortrag von Herrn Prof. Dr. Flügge und die vom Herrn General¬
arzt Prof. Dr. Roth aufgestellten Thesen über das Thema der För¬
derung des hygienischen Unterrichts mit grossem Interesse ent¬
gegengenommen , spricht den beiden Herren Referenten für ihre
Mühe und Arbeit Dank aus und fühlte sich im Grossen und Ganzen
mit ihnen einig.“
Die Versammlung stimmt diesem Vorschläge mit grosser Majorität zu.
Hiermit ist die Tagesordnung des ersten Tages erledigt und nach eini¬
gen geschäftlichen Mittheilungen wird die erste Sitzung geschlossen.
Schluss der Sitzung V 2 I 2 Uhr.
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28 bäte Versammlung d. D. Vereins f. off. Gsndpflg. zu Hannover.
Zweite Sitzung.
Dienstag, den 16. September, Vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender Oberingenieur Meyer eröffnet die Versammlung
und erhält das Wort zum Referate über den zweiten Gegenstand der
Tagesordnung:
Die hygienische Beaufsichtigung der Schule
durch den Schularzt
Privatdocent Dr. A. ßftglnsky (Berlin).
„Meine Herren! Es ist nicht das erste Mal, dass innerhalb dieses
Vereines und auch innerhalb der hygienischen Section der Versammlung
Deutscher Naturforscher und Aerzte gelegentlich der Berathungen über
Verbesserungen der hygienischen Einrichtungen der Schulen die Frage
der Beaufsichtigung der Schulen durch den Schularzt zur Discussion steht.
Indess hat bisher gerade über diesen Theil der Schulhygiene ein sonder¬
barer Unstern geschwebt, und es ist neben dem Danke, welcher dem leiten¬
den AusschuBBe des Vereins gebührt dafür, dass er consequent die Frage
von Neuem auf die Tagesordnung gebracht und die Möglichkeit einer ein¬
gehenden Discussion angebahnt hat, einem guten Geschick von vornherein
der Dank dafür zu sagen, dass nicht auch dieses Mal irgend ein Unvorher¬
gesehenes die Verhandlungen verhindert.
„In der Section für öffentliche Gesundheitspflege auf der Naturforscher¬
versammlung in Innsbruck hatten sich die Herren Reel am und Varren-
trapp in das Thema „Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege
an das Schulwesen“ so getheilt, dass der Erstere die gesundheitspflegerische
Ueberwachung des Schulwesens im Allgemeinen, der Letztere „den Schul¬
bau“ zum Referat übernommen hatte. Lang hin geschleppte Discussionen
über reine Formfragen verhinderten innerhalb der Section eine eingehende
wissenschaftliche Berathung der von den beiden Herren aufgestellten Vor¬
schläge, so dass, wenn ich anders den aus dem I. Bande der Vierteljahrs¬
schrift entnommenen Bericht richtig verstanden habe, dieselben nur zur
Vorlesung kamen. Unter diesen Thesen befindet sich eine von Reel am
aufgestellte mit folgendem Wortlaut:
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 29
„Jede Schulbehörde (Schulvorstand, Schulcommission, Schul¬
synode), welche die Aufsicht des Staates über die Schulen einer
Gemeinde ausübt — sowie jede höhere Schulbehörde einer Provinz
oder eines Staates —, habe unter ihren Mitgliedern einen Arzt.
Dieser besitzt die gleichen Rechte, wie die übrigen Mitglieder,
und nimmt an allen Sitzungen, Berathungen und Abstimmungen
Theil“.
„Auf der Naturforscherversammlung zu Breslau im Jahre 1874 hatte
eine in Breslau gewählte Commission für die nächstjährige Naturforscher-
Versammlung in Graz neben anderen Themata das folgende zur Berathung
aufgestellt: „Welche Anforderungen hat die Hygiene im Interesse des
Schutzes der Gesundheit der Schüler an die Schuleinrichtungen zu stellen?
Ist der Lehrer behufs Ausführung solcher Anforderungen in der Hygiene
auszubilden, und welche Machtvollkommenheit soll dem Arzte gegeben
werden behufs Ueberwachung der Schale in hygienischer Beziehung? Zu
Referenten waren die Herren Yarrentrapp und Gau st er ernannt.“ —
Der Referent über die Verhandlungen in Graz berichtet: „Ein eigener
Unstern schwebt über diesem Thema, wenn es in der hygienischen Section
auf das Programm gesetzt ist.“ Um kurz zu sein — wie im Jahre 1869
war auch dieses Mal Herr Yarrentrapp am Erscheinen in der Section
verhindert, die Berathungen waren für eine frühe Morgenstunde nach einer
am vorigen Tage ausgeführten Gebirgspartie festgesetzt, das Berathungs-
local war verlegt worden, die einzuladenden Mitglieder der Section für
wissenschaftliche Pädagogik hatten die Einladungen zu spät oder gar nicht
erhalten. Nur vor wenigen Anwesenden entwickelte der zweite Referent,
Herr G aast er, seine Thesen. Unter diesen, welche sich auf alle mög¬
lichen hygienischen Verbesserungen beziehen, finden sich zwei, für unser
heutiges Thema interessante:
1. Es ist nöthig, dass die unbedingt nothwendige sanitäre Fürsorge
der Lehrer für die Schüler beim Unterricht durch gesetzliche Vor¬
schriften und Amtsinstructionen überall möglichst klar gestellt und
präcisirt werden, und dass die pädagogische und sanitäre Schulauf¬
sicht auf deren Beobachtung genau Acht haben und
2. Es ist unbedingt nothwendig, dass in den Lehrerbildungsanstalten
die Gesundheitslehre überhaupt und die Pflege der Gesundheit in
und durch die Schule insbesondere unter die obligat zu hörenden
Lehrgegenstände aufgenommen wird.
„Eine wesentliche Einwirkung auf die schulhygienische Entwickelung
haben die Grazer Verhandlungen nicht gehabt.
„Für die fünfte Versammlung unseres Vereins in Nürnberg im Jahre
1877 hatte der Ausschuss von Neuem die Schulhygiene zum Berathungs-
thema gewählt. Ein hervorragender Pädagoge und ein eben solcher Hygie¬
niker sollten sich in dem Referat über den Gegenstand theilen. Zum ersten
Male wollte man Fachmänner aus den beiden zumeist betheiligten Kreisen
über den Gegenstand vernehmen. — Das Geschick beschloss es anders. Der
hervorragende Pädagoge, Realschuldirector Dr. Ostendorf, starb kurze
Zeit vor dem Zusammentritt der Versammlung, oder wie der zweite Refe-
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30 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
rent, Herr Finkelnburg, selbst sich ausdrückt: „in demselben Augen¬
blicke, als er sich anschickte, der heutigen Aufgabe mit dem eingehendsten
Ernste näher zu treten, welche er allen seinen Bestrebungen zu Grunde
legte . . . .“ Herr Märklin, welcher nach dem Tode von Ostendorf in
das Referat neben Herrn Finkelnburg ein trat, plaidirte am Schlüsse
seiner Ausführungen dafür: „dass dem Arzte, als ständigem Mitglieds der
Schulbehörden, ein nicht minder grosser und wichtiger Wirkungskreis (in
der Schule) wird zuerkannt werden müssen, als dem Schulmanne u , und die
Versammlung entschied sich für die Annahme der These V: „In allen Schul¬
behörden müssen neben dem Verwaltungsbeamten und den Mitgliedern der
Vertretungen, welchen die Bewilligung der Geldmittel zusteht, auch Schul¬
männer und Aerzte Sitz und Stimme haben. tf
„Wiederum stand im folgenden Jahre für die sechste Versammlung
unseres Vereins in Dresden die Schulhygiene auf der Tagesordnung. Man
wollte in die Details der Ueberbürdungsfrage eingehen, die beste Art
der Vertheilung des Lehrstoffes auf die einzelnen Tagesstunden erörtern.
Sanitätsrath Sander hatte neben einem Pädagogen das Referat übernom¬
men; doch auch der erlebte den Sitzungstag nicht, und Dr. Chalybäus
aus Dresden musste für den verstorbenen Collegen eintreten. Die Ver¬
handlungen, denen sich Jeder, der damals zugegen war, mit einer gewissen
Genugthuung erinnern wird, weil sie ein ernstes Stück Arbeit repräsentiren,
in welchen namentlich auch die divergirenden Anschauungen der Herren
Pädagogen in lebhafter Weise zum Ausdruck und zur Berathung kamen,
haben nicht wenig dazu beigetragen, die sogenannte „Ueberbürdungsfrage“
aus den Redensarten heraus auf die richtige Bahn wissenschaftlicher Be¬
handlung zu führen. — Die Frage der hygienischen Ueberwachung der
Schule durch den Arzt kam bei dieser Discussion nicht zur Berathung."
„Mit mehr oder weniger Glück wurde weiterhin in den Sitzungen der
internationalen hygienischen Congresse die Schulfrage erörtert. In Turin
plaidirte im Jahre 1880 Ghini aus Florenz dafür, dass in den Schullehrer-
seminarien überall ein Lehrcursus für häusliche und private Gesundheits¬
pflege, sowie für Schulhygiene eingerichtet werden solle, mit besonderer
Berücksichtigung der Lehre von den Schuleinflüssen auf die Erkrankungen
der Kinder, und dass dieser Unterricht durch einen Arzt ertheilt würde. —
In demselben Jahre wurde gelegentlich der Verhandlungen der Aerzte-
kammer von Mittelfranken über die rechtsBchiefe Currentschrift auf Antrag
der Herren Aub und Dörfler einstimmig beschlossen, an das Cultus-
ministerium die Bitte zu richten: dasselbe wolle im Verordnungswege be¬
stimmen, dass in jeder Schulcommission, welche sich am Wohnsitze von
Aerzten befindet, ein Arzt obligatorisch Sitz und Stimme habe. — Auf
dem internationalen hygienischen Congresse in Genf im Jahre 1882 brachte
Prof. Hermann Cohn eine Reihe von Thesen über „die Nothwendigkeit
der Ernennung von Schulärzten in allen Ländern und ihre Obliegenheiten"
ein. Cohn war selbst nicht in Genf anwesend, und die von ihm ein¬
gereichten Thesen, die, wie ich gleich erwähnen will, nicht mit dem Zu¬
sammenfällen, was ich als Aufgabe der Schulärzte bezeichnen würde,
wurden ohne Discussion von der Versammlung angenommen — sehr zu
Unrecht, wie wir vielleicht in der weiteren Verhandlung noch sehen werden.
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 31
„Aus dem kurzen Ueberblicke über die Verhandlungen des Gegen¬
standes in öffentlicher Discussion geht hervor, dass trotz der mannigfachen
Störungen, welche dieselben erlitten haben, sich zwei Tendenzen zur Gel¬
tung bringen, auf der einen Seite die Tendenz, dem Arzte Sitz und Stimme
bei der Ueberwachung der hygienischen Maassnahmen für die Schule zu
geben, auf der anderen Seite, den Arzt dadurch entbehrlich zu machen,
dass die Lehrer hinreichend hygienisch vorgebildet werden, um selbst¬
ständig die hygienischen Maassnahmen für die Schule und die Schüler zu
treffen.
„Meine Herren! Es kann nicht in meiner Absicht liegen, Sie an die¬
ser Stelle mit der Geschichte der Entwickelung der hygienischen Fortschritte
in den Schulen, speciell im Deutschen Reiche und den Nachbarstaaten, zu
behelligen; nur in soweit, als die Frage der hygienischen Ueberwachung
durch den Arzt davon berührt wird, kann ich gewisse Hinweise auf diese
Entwickelung nicht umgehen. — In der Literatur ist die Forderung, dem
Arzte einen definitiven Einfluss auf die hygienische Gestaltung der Schule
zu gewähren, eine alte. — Peter Frank stellt in dem I. Bande seines
1786 geschriebenen classischen Werkes „System einer vollständigen medi-
cinischen Polizei“ neben den bis auf den heutigen Tag unübertroffenen
hygienischen Regeln für die Einrichtungen der Schule und des Unterrichts¬
systems die ausdrückliche Forderung auf, „dass die Sanitätspolizei sich um¬
zusehen hat, dass in die öffentliche Erziehung kein die Jugend entnerven¬
des, oder ihre Fasern vor der Zeit steifmachendes System sich mische“.
„Sie muss die Regeln und Vorschriften, welche die jugendlichen Beschäfti¬
gungen, Spiele und Vergnügungen, welche ihre Seelen- und Leibesübungen
leiten sollen, genau prüfen und mit gleicher Aufsicht, Ueberspannung
und Vernachlässigung der Kräfte .... zu verhüten trachten M .... und
weiter: „So vieles bisher über Erziehung geschrieben worden ist, so finde
ich doch, dass man den Artikel Gesundheit in den mehrsten öffentlichen
Schulen und Erziehungshäusern noch am wenigsten bedacht habe, und es
verdient ein jeder der hier berührten Gegenstände nachgeholt und von
einem Arzte unter solcher Gesichtslage besonders betrachtet zu werden.“ —
Es folgen auf diese Einleitung drei ausgezeichnete Abhandlungen über
Schulhygiene. Der bekannte Aufruf Lorinser’s (1836) zum Schutze
der Gesundheit in den Schulen gab den Antrieb dazu, dass die Aerzte sich
mit den Schulfragen überhaupt ernster zu befassen anfingen. Eine syste¬
matische Anordnung des der Schulhygiene und der sanitären Ueberwachung
zugehörenden Stoffes finden wir erst bei Pappenheim in dessen Hand¬
buch der Sanitätspolizei, Artikel Schulwesen (1858) und später bei Falk
(1868) in dessen „Sanitätspolizeiliche Ueberwachung höherer und niederer
Schulen“. Von da an begegnet man immer häufiger der von Aerzten auf-
gestellten Forderung, eine ärztliche Ueberwachung der Schulen eintreten
zu lassen. V e r n o i s verlangt wenigstens für die Lyceen und Internate
eigens an gestellte Aerzte, welche jährlich einen genauen Bericht über die
Anstalten abgeben sollen, in welchem alle hygienischen Verhältnisse der An¬
stalten Berücksichtigung finden. Ein besonders anzustellender Arzt, Specialist
für Hygiene, soll diese Berichte zusammenfaBsen und einen jährlichen Rap¬
port über den Gesundheitszustand der sämmtlichen Lyceen veröffentlichen.
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32 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Die Aerzte sollen Beisitzer im Verwaltungsrathe der Lyceen sein t und dem
Vorsteher derselben jährlich eine Liste der nothwendigen Verbesserungen
einreichen, deren Ausführungen überwachen (s. Virchow, Hygienischer
Jahresbericht 1868, S. 477). — In ähnlicher Weise verlangt Alois Gruber
(1870) besondere Schulinspectoren, die gewisse Schulen zu inspiciren haben,
überdies aber die ihuen zugewiesenen Schulbezirke der Stadt controliren
sollen. — Farquhar (1873) verlangt eine von den Lehrern geführte
Krankenstatistik in den Schulen, deren Listen dem Schulgesundheitsbeamten
'Und dem OrtsgeBundheitsrathe übermittelt werden sollen. Daran anknüpfend
sollen Schulrevisionen und selbst Revisionen in den Wohnungen der Schul¬
kinder Btatthaben. Mit ganzer Energie sind überdies für die Anstellung
von Schulärzten eingetreten Ellinger (der ärztliche Landesschulinspector),
Baumeister (Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 1883),
Cohn in seiner neuesten Publication (Die Hygiene des Auges in den Schulen),
und auch ich habe sowohl in der ersten 1875 erschienenen Auflage meines
Handbuches der Schulhygiene wie auch in der zweiten 1883 erschienenen
für dieselbe plaidirt.
„Wenn man weiterhin die amtlichen Kundgebungen berücksichtigt, so
muss zugestanden werden, dass die Bemühungen der Einzelregierungen
des Deutschen Reiches in den letzten Jahren in continuirlich steigendem
Maasse zugenommen haben. Neben eingehenden, die gesammten äusseren
Einrichtungen der Schulen betreffenden Verordnungen, wie solche seitens
der königlich württembergischen Regierung aus dem Jahre 1870, welche
von Haus aus den begutachtenden Einfluss von Aerzten für dieselben
sicherstellt, sind noch in Einzelrescripten (so vom 28. Januar 1876) sani¬
tätspolizeiliche Visitationen der Gemeinden und speciell der Schulen vor¬
geschrieben. Allerdings wird für jede Gemeinde Württembergs nur in
sechsjährigem Turnus eine Visitation zum Gesetz gemacht. — Aehnliche
Verordnungen sind der Reihe nach in Baden, Bayern, Hessen erfolgt, stets
mit der ausdrücklichen Anweisung, dass die Pläne für neue Schulbauten in
gesundheitlicher Beziehung unter Begutachtung der Bezirksärzte zu stel¬
len sind.
„Die Regierungen Hessen sich indess, augenscheinlich unter dem Drucke
der nicht verstummen wollenden Klagen über „Schulüberbürdung der Jugend“
und der parlamentarischen Interpellationen und Petitionen an diesen Ver¬
ordnungen nicht genügen, vielmehr sehen wir dieselben der Reihe nach
den fruchtbringenden Weg betreten, hervorragende aus ärztHchen und
Verwaltungskreisen zusammengesetzte Commissionen zur Berathung schul¬
hygienischer Fragen zusammen zu berufen. — So entstanden in neuester
Zeit die gutachtlichen Aeusserungen der medicinischen Sachverständigen¬
commission in Eisass-Lothringen, die Berathungen in Württemberg und
Hessen und in seiner ganz hervorragenden Bedeutung das Gutachten der
königlich preussischen wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen.
„Im Grossherzogthum Baden bestehen über die Erbauung und Ein¬
richtung der Schulgebäude der höheren Lehranstalten (Mittelschulen) keine
allgemeinen Vorschriften. Es werden vielmehr die Pläne nach dem vorlie¬
genden Bedürfnisse und unter Berücksichtigung der bestehenden Verhält¬
nisse unter der Leitung und Aufsicht des Oberschulraths (bezw. bei den
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 33
wesentlich von den Gemeinden zu unterhaltenden Realschulanstalten (Real¬
gymnasien und höheren Bürgerschulen) im Zusammenwirken der Gemeinde¬
behörden und des Oberschulraths) festgestellt und ausgeführt. — Ueber die
gesundheitBpolizeiliche Beaufsichtigung der Schulhäuser und der Schul¬
jugend besteht eine Vorschrift vom Jahre 1841,-dass die Bezirksärzte wenig¬
stens zweimal jährlich die Mittelschulen ihres Bezirks besuchen sollen, um
sich von dem Gesundheitszustände und dem äusseren Ansehen der Schul¬
jugend zu überzeugen, ferner um von der Beschaffenheit der Schulhäuser
und Schulzimmer Einsicht zu nehmen und über das Ergebniss der Besich¬
tigungen an das Ministerium zu berichten. Zum Vollzüge dieser Anord¬
nung ist unter dem 16. October 1844 eine Instruction erlassen, welche die
Thätigkeit der Amtsärzte bei Neubauten, Bauveränderungen, sowie bei
Fragen der inneren Einrichtung der Schulhäuser feststellt und denselben
die Sorge für das körperliche Wohl der Schüler durch Nachforschung nach den
Ursachen vorhandener Krankheitsanlagen oder wirklicher Krankheits¬
zustände und Ergreifung geeigneter Maassregeln dagegen zur Pflicht
macht. — Hinsichtlich der Beschaffenheit der Subsellien ist eine Verord¬
nung des Oberschulraths vom 26. Mai 1868 auch für die Mittelschulen
maassgebend; es sind in Ziffer 5 dieser Verordnung die Dimensionen der
Schulbänke sowohl für Elementarschüler als für Schüler, welche über dem
schulpflichtigen Alter stehen, vorgeschrieben.
„Für Elsass-Lothringen haben die vom Oberpräsidenten unter
dem 3. Juli 1876 erlassenen Bestimmungen über die Anlage, Einrichtung
und Ausstattung der Elementarschulhäuser auf dem Gebiete des niederen
Unterrichtswesens das Erforderliche angeordnet. Für Neu- und Umbauten
höherer Schulen, sowie für die Beschaffung des Ausstattungsmaterials der¬
selben fehlen dagegen allgemeine Bestimmungen, welche die Sicherheit
schaffen, dass auf die Gesundheit der Schüler die erforderliche Rücksicht
genommen werde. Den Erlass derartiger Bestimmungen halten wir für ein
dringendes Bedürfniss. Nicht minder wichtig erscheint uns eine regel¬
mässige Inspection der höheren Schulen durch sachverständige Aerzte bezw.
Medicinalbeamte, welche über ihre Wahrnehmungen an den Oberschulrath
zu berichten und Mittel zur Abhülfe der vorhandenen Mängel anzugeben
hätten. Es bedarf einer solchen Inspection auch für die bestangelegten
Schulen, damit in denselben nicht etwa die Vorzüge der ersten Einrichtung
durch geringe Sorge für die Instandhaltung beeinträchtigt werden. Die
Reinhaltung der Räume, namentlich die Beseitigung des nach vielen Richtun¬
gen hin der Gesundheit schädlichen Staubes, muss in jeder Schule auf das
Dringendste gefordert werden. Sache des Arztes ist es, sich zu überzeugen,
dass die darauf bezüglichen Anordnungen in ihrem vollen Umfange zur
Ausführung kommen. Wird es ihm möglich gemacht, sich von Zeit zu
Zeit durch Besichtigung der Anstalten von der Handhabung der getroffe¬
nen Bestimmungen zu überzeugen, so lässt sich einerseits hoffen, dass dem
Eindringen gesundheitsgefährlicher Zustände in solche Räume vorgebeugt
wird, welche wir uns auf Grund der zu erlassenden Normativbestimmungen
in der möglichst zweckmässigen Weise hergestellt denken, und andererseits
erwarten, dass auf die Verbesserung mancher alten, einer Erneuerung be¬
dürftigen Räume die Aufmerksamkeit der zuständigen Behörde dauernd
Vierteljahraschrift für Gesundheitspflege, 1889. 3
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34 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
hingelenkt werde; — und ein Satz der praktischen Schlussfolgerungen
heisst: Entwürfe für Um- und Neubau einer höheren Schule sind nach
Maassgabe der Normativbestimmungen von einem sachverständigen Arzte
bezw. Medicinalbeamten zu prüfen und zu begutachten.
„In dem Gutachten der königl. preussischen wissenschaftlichen
Deputation für das Medicinalwesen finden sich aber folgende höchst be-
merkenswerthe Sätze. Nachdem von den Verpflichtungen der Lehrer, in
höherem Maasse als bisher bei den Schülern zu individualisiren, die Rede
gewesen ist, heisst es: „Es giebt kein constantes Maass, wonach die Grenze
zwischen Ueberbürdung und zulässiger Belastung bestimmt werden kann.
Was in gewissen Fällen^oder Zeiten Belastung ist, wird in anderen Üeber-
bürdung. Die Zeichen, dass letztere eingetreten ist, ergeben sich erst nach¬
träglich aus der Beobachtung. Ob eine solche Beobachtung sich durch die
eigenen Organe der Schule in genügender Weise und ohne ärztliche Mitwirkung
ausführen lässt, das ist freilich eine sehr zweifelhafte Sache ... Wir folgern
also, dass selbst für die Sammlung eines genügend sicheren Beobachtungs-
materiais über die Wirkung der einzelnen belastenden Momente die Mit¬
wirkung von tüchtigen und zuverlässigen Aerzten nicht wird entbehrt wer¬
den können “, und weiter bezüglich der einzelnen ursächlichen Momente der
Ueberbürdung: „Eine exacte Antwort wird erst ertheilt werden können,
wenn es möglich werden sollte, in den Schulen eine zuverlässige ärztliche
Controle der pädagogischen in geeigneter Weise hinzuzugesellen.“ Im
Schlussergebnis8 wird darauf hingewiesen, dass an einzelnen, besonders ge¬
eigneten Orten die Hauptfragen (der Untersuchungen) durch Aerzte in An¬
griff zu nehmen sind. — Es kann ergänzend hinzugefügt werden, dass, so¬
weit ich persönlich unterrichtet bin, dieser Weg seitens des preussischen
Cultusministeriums neuerdings rüstig betreten worden ist.
„In der Schweiz sind nach der Verordnung des Züricher Regierungs-
rathes, betreffend die örtlichen Gesundheitsbehörden (1877), dieselben ge¬
halten, die Situations- und Baupläne der Schule zu prüfen, überdies aber
auch eine fortwährende Controle über die Schulen zu üben, eventuell nach
Bedürfniss Nachschau in Öfteren unregelmässigen Fristen zu halten und
„fortlaufendes Protokoll zu führen“. Die Schulen sind hierbei allen übrigen
Objecten der Observation gleichgestellt.
„Meine Herren! Es erübrigt, nur noch einige Worte bezüglich des
Standes der Dinge in ausserdeutschen Staaten hinzuzufügen. — Oester¬
reich hat seit dem Jahre 1873 nahezu denselben Weg ein geschlagen, wie
Deutschland. In den österreichischen Schulcommissionen fungiren Aerzte als
ständige Berather und Aufsichtsbehörden der Schulen. — In Italien sind die
Medici condotti diejenigen, denen die Beaufsichtigung der Schulen obliegt.
Die Schulhygiene selbst liegt aber nach dem Urtheile von Uffelmann
trotz derselben sehr darnieder. — Einen definitiven Anfang mit einer conti-
nuirlichen Ueberwachung der Schulen durch eigens angestellte Schulärzte
hat neuerdings Paris gemacht; ich habe mir erlaubt, das betreffende Reglement
in deutscher Uebersetzung jüngst in der Vierteljahrsschrift zur Publication
zu geben. — Ueber die englischen Verhältnisse entnehme ich den jüngsten
Veröffentlichungen von Weber: (Verhandlungen des dritten Congresses für
innere Medicin. Wiesbaden 1884), die Angabe, dass England keine von der
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 35
Regierung angestellten ärztlichen Inspectoren für Schulen und Schulgebäude
und auch keine speciellen Gesetze über Einrichtungen von Schulen hat. Die
Schulen fallen einfach in das Gebiet der Public Health Act von 1875, welche
Regulationen über die Einrichtung des Hauses hat. Weber fügt hinzu :
„Die Ueberwachung der Ausführung der Regulationen ist nichtärztlichen
Inspectoren anvertraut, welche nicht besonders streng sind. Dagegen hat
das Local Government Board , speciell der Theil, welchen wir Gesundheits¬
amt nennen, und welcher aus mehreren ausgezeichneten Aerzten besteht, die
sich ausschliesslich diesem Amte widmen v die Gewohnheit, das Education
Department auf Mängel in den Schulen aufmerksam zu machen, welche in.
den Berichten der Medical Officers of Health bemerkt werden. Diese Offi-
cers of Health halten es nämlich für ihre Pflicht, auf die öffentlichen Ele¬
mentarschulen ihrer Districte ihre Aufmerksamkeit zu richten.“ Man sieht
also, dass hier eine Art freiwilliger hygienischer Ueberwachung der Schulen
statt hat.
„Abgesehen aber davon verlangen in ihren neuesten Publicationen
The Lancet und British medical Journal die Anstellung von eigentlichen
Schulärzten. Es heisst in Nr. 1233 des British medical Journal ,
16. August 1884:
In our great public schools, the medical supervision of the boys and
the sanitary arrangements of the buildings should be under the absolute
and andivided control of one medical offleer, who should be responsible
to the governors only, and independent of the head master; while for eie¬
rn entary schools there should be a staff of medical inspectors under the
education department, ranking with H. M. inspectors of schools.
„Aehnlich in The Lancet , Nr. IV, 9. August 1884, p. 224:
We believe there will be provided in due course a much more
minute supervision of our public schools by an officer of health absolutely
independent of and free from the authority of head master, of house
mastere, and the governing authority of schools, whatever it may be; an
offleer responsible to the local sanitary authority and through that autho¬
rity to the Local Government Board. At no very distant time no build-
ing will be permitted to be occupied for school purposes, either private
or public, which has not been inspectet and approved by a public sanitary
authority. We believe ever more that this to be desirable in the interest
of the schoolboys, and that there should be special and periodical in-
spections of all our schools, public and private, by officers of the sani¬
tary department of the Local Government Board for all there functions
in hygiene whith are fast passing out of the sphere of the medical atten-
dant on the sick.
„In den scandinavischen Ländern begegnet man ganz ausgezeichneten,
mit allen neuesten hygienischen Anforderungen ausgerüsteten Schulgebäuden
und Schuleinrichtungen. In wie weit eine ärztliche Ueberwachung der
Schulen statt hat, ist mir aber nicht möglich gewesen zu eruiren 1 ). — Aus
- •
*) Nach einem mir vor wenigen Tagen zngegangenen Bericht des Herrn Dr. Hertel
aus Kopenhagen hin ich im Stande mitzutheilen, dass in den Schulen Dänemarks sehr ein¬
gehende ärztliche Untersuchungen der Schulkinder statt habe. Ich verweise auf die dem¬
nächst erscheinenden Mittheilungen im Archiv für Kinderheilkunde.
3*
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36 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Amerika sind einheitliche Einrichtungen des Schulwesens überhaupt nicht
zu berichten. Aus einem Berichte von Prof. Hitchcock geht hervor, dass
in dem Amherst College in Massachusetts ein Mediciner als Lehrer angestellt
ist mit folgenden Verpflichtungen: 1) Turnunterricht zu ertheilen; 2) den
Gesundheitszustand der Studirenden zu überwachen; 3) die physische Seite
der Beredsamkeit zu lehren; 4) von Zeit zu Zeit hygienische Belehrungen
zu geben, gestützt auf die Elemente der Anatomie und Physiologie; 5) der
betreffende Lehrer muss ein gebildeter Arzt und der Gesundheitszustand
der Zöglinge jederzeit Gegenstand seiner besonderen Aufmerksamkeit sein.
„Es erübrigt nunmehr nur noch nachzutragen, dass ebenso wie oben
schon gelegentlich der Beschlüsse des in Turin abgehaltenen hygienischen
Congresses erwähnt wurde, der Wunsch nach hygienischem Unterricht in
Lehrerbildungsanstalten, auf den Versammlungen unseres Vereins in Nürn¬
berg und in Dresden, auf letzterer in dem Vortrage des Herrn Roth, aus¬
gesprochen wurde, und dass in Bayern, nach Mittheilung des Herrn
Hessler, das Ministerium für Schulangelegenheiten der Unterricht in den
Grundprincipien der Hygiene in Schullehrerseminarien, höheren Töchter¬
schulen und in den oberen Classen der Volksschulen schon seit dem Jahre
1878 eingeführt habe.
„Meine Herren! Nach dieserUebersicht über den Entwickelungsgang,
den die Einführung ärztlicher Organe in die Beaufsichtigung der Schulen ge¬
nommen hat, kann ich an die mir gestellte Frage definitiv herantreten.
Ich habe vor einigen Wochen Gelegenheit genommen, in der Deutschen
Gesellschaft für Öffentliche Gesundheitspflege zu Berlin meine Stellung¬
nahme zu der Frage zu skizziren und bin kaum in der Lage^, dem
damals Ausgeführten hier etwas Neues hinzuzufügen. Im Wesentlichen
kann ich auf diese früheren Erörterungen zurückgehen und dieselbeh hier
recapituliren. Man hat bezüglich der Einführung der hygienischen Ueber-
wachung der Schulen durch den Schularzt drei Dinge von vornherein zu
trennen :
1. Ist diese Ueberwachung überhaupt nothwendig?
2. Wie kann die Thätigkeit des Schularztes, falls sich die Nothwendig-
keit ärztlicher Ueberwachung der Schulen herausstellen sollte, der-
artig gestaltet werden, dass sie für die Culturaufgaben der Schule
nicht hemmend, sondern förderlich ist?
3. Ist nach der augenblicklichen Beschaffenheit des ärztlichen Standes
und den vorhandenen Verhältnissen in Stadt und Land die Einfüh¬
rung von Schulärzten überhaupt durchführbar?
„Die Antwort auf die erste dieser drei Fragen wird von dem Ergeb-
niss einer Untersuchung abhängig sein, welche darthnt, in wieweit die Ein¬
flüsse der Schule auf den kindlichen Organismus derartig sind, dass sie
überhaupt dauernd und für dessen Entwickelung bestimmend zur Geltung
kommen; denn Alles, von dem sich erweisen lässt, dass es in mehr oder
weniger directer W^ise die physische Beschaffenheit der Menschen beein¬
flusst, gehört, in dem weitesten Sinne des Begriffs genommen, nothwendig
in den Beobachtungskreis des Arztes, — naturgemäss diejenigen Einflüsse
am meisten und am strictesten, deren directeste Einwirkung auf den mensch-
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 37
liehen Organismus zu Tage tritt. — In der Schale sind es nun drei Grup¬
pen von Factoren, von welchen a priori eine Beeinflussung des kindlichen
Organismus erwartet werden kann. 1) Obenan die äusseren, baulichen und
technischen Einrichtungen der Schulen. 2) Die inneren Einrichtungen des
eigentlichen Unterrichts nnd die damit in directester Beziehung stehenden
Ausstrahlungen auf die häusliche Beschäftigung der Kinder. 3) Das Zu¬
sammenströmen und Zusammenleben einer grösseren Gruppe von Menschen
überhaupt in einem abgeschlossenen Raume. — In dem ersten Augenblicke
dürfte es scheinen, als wären bezüglich der ersten zwei Gruppen gerade
die ärztlichen Urtheile und event. daraus fliessenden Befugnisse am wenig¬
sten am Platze, dass vielmehr in der ersten Gruppe der Architekt, in der
zweiten der Schulmann der eigentlich competente Beurtheiler der Verhält¬
nisse wäre; für die dritte Gruppe allenfalls könnte die ärztliche Function
als zweckmässig, wenn auch nicht nothwendig sich zu empfehlen scheinen.
Handelte es sich in der That nur um die rein objective Beurtheilung bau¬
technischer oder pädagogisch-technischer Fragen, so wäre diese Ausschei¬
dung ärztlicher Urtheile und ärztlicher Function gewiss am Platze, um so
mehr, als bekannt ist, dass der grosse Fehler oft begangen ist und es von
jeher zu recht bedeutsamen Uebeln geführt hat, wenn ärztliche Eingriffe
in rein technische Fragen erfolgten und dieselben gerade bei den wohl¬
wollendsten und sachkundigsten Fachmännern in Misscredit brachten. Aber
um rein technische Fragen handelt *s sich hier durchaus nicht, oder wenig¬
stens erat in zweiter Linie; die erste wichtige, und maassgebende Frage
lautet nicht dahin, in wieweit die genannten Einrichtungen technisch
an sich gut seien, sondern in wieweit sie auf den kindlichen Orga¬
nismus zur Wirkung kommen. In diesem Sinne ist diese Frage aber
geradezu eine physiologische und gehört von physiologischen Gesichts¬
punkten voll und ganz, ja durchaus einzig in das Gebiet ärztlichen Urtheils.
So kann also schon von vornherein eine gewisse Nothwendigkeit ärztlichen
Eingreifens in das Schulleben im Allgemeinen constatirt werden, und es
musB, dies zugegeben, nunmehr daran gegangen werden, diese Nothwendig-
keit auch im Einzelnen darzuthun und neben diesem Nachweise gleichzeitig
die Möglichkeit der ärztlichen, auf physiologischer Basis beruhenden Thätig-
keit erwiesen werden.
„Es würde zu weit führen und ist an dieser Stelle, wo volles Verständ-
niss für hygienische Fragen vorhanden ist, auch nicht nöthig, darzuthun,
wie bei der bekannten Einwirkung der Bodenluft und der Grandwasser¬
beschaffenheit auf die Bewohner eines Hauses schon die Wahl deB Bodens,
auf welchem ein Schulhaus errichtet werden soll, keine gleichgültige ist,
wie weiterhin bei der bekannten Wechselwirkung zwischen Beschaffenheit
des Baumaterials und der Ventilation durch die Wände, die zweckmässige
Auswahl des Baumaterials durchaus nicht gleichgültig ist für die späteren
Bewohner deB zu errichtenden HauseB. Die Orientirung deB Gebäudes, die
Beziehungen zu den Nachbargebäuden, die Anlage der Treppen, ferner die
Grössenverhältnisse der Räume, die Höhe derselben, das Verhältniss zwischen
Fensterfläche und Bodenfläche, die Art und Beschaffenheit der Heiz- und
Ventilation8anlagen, jedes im Einzelnen und alles im Verein ist das Maass¬
gebende für die Einwirkungen, denen die Bewohner der Räume unterliegen.
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38 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öf£ Gsndpflg. zu Hannover.
Hier sondert sich nun das rein technisch Beste von dem sanitarisch Besten
auf das Vielfachste, und nicht selten kann ohne Meinungsaastausch der
beiden in Concurrenz kommenden Richtungen bei dem besten Willen und
Wohlwollen das Verfehlteste und später Unbrauchbarste zur Anlage kommen.
Liesse man, um nur ein Beispiel anzuführen, dem Techniker unter der
Forderung der Beschaffung bestmöglichster und ausgiebigster Tagesbeleuob-
tung die absolut freie Wahl, so wird es gar nicht ausbleiben, dass die
Fensteröffnungen in den einzelnen Zimmern des Hauses so angelegt werden,
dass bei jedweder beliebigen Orientirung der Raume zum Gebrauche, das
Licht von mehreren Seiten zuströmt; die nach physiologischen Principien
verwerflichen Beleuchtungen von vorn oder von zwei gegenüberliegenden
Seiten werden gewiss nicht ausbleiben. Aehnliches liesse sich von den
Heizanlagen und von den übrigen oben angezogenen Momenten sagen. —
Weitaus noch mehr trifft dies aber für die eigentliche Ausstattung der
Schulräume zu, und hier wiegen technische Missgriffe um so schwerer, als
die Einrichtungsgegenstände noch weit direqter zu den Schulkindern in Be¬
ziehung treten und sonach intensiver auf deren Organismus bestimmend
einzuwirken vermögen. So sehen wir denn, dass so anscheinend kleinliche
Dinge, wie die Farbe und Bekleidung der Schultafeln, die Beschaffenheit
der Wandkarten von hervorragender physiologischer Bedeutung werden,
gar nicht zu reden von den Subsellien, deren normale Gestaltung erst an-
flng in richtige Bahnen zu kommen, %ls eingehendste physiologische Stu¬
dien die Gesetze des normalen Aufrecht sitzen 8 klar gemacht hatten, Studien,
welche bezüglich des normalen Sitzens beim Schreiben und Lesen bis zu
diesem Augenblicke noch nicht völlig zum Abschluss gekommen sind. In
der Erledigung dieser einen, vielfach verkannten, und doch noch bis zum
heutigen Tage gewiss nicht völlig gewürdigten Frage, hat die Technik all-
mälig das Heft fast ganz aus der Hand verloren, sie hat bis auf Kleinig¬
keiten gänzlich in den Dienst der Physiologie treten müssen, und da, wo sie
es versucht, eine gewisse Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu wahren,
ist sie heute noch ebenso wie früher in der Gefahr, Unbrauchbares zu Tage
zu fördern. Meine Herren, genug der Thatsachen und Beispiele auf diesem
ersten Theile des zu behandelnden Gebietes. Wohin Sie auch blicken, sehen
Sie geradezu die Unmöglichkeit einer normalen Gestaltung ohne die sach¬
kundige physiologische, die ärztliche Beihülfe; auf diesem Theile wird aber
auch thatsächlich die Nothwendigkeit einer ärztlichen Ueberwachung kaum
mehr bestritten. Alle früher erwähnten Verordnungen aller Staaten kom¬
men darin überein, dass eine ärztliche Controle der Baupläne, der Pläne
für Schuleinrichtungen etc. nothwendig sei.
„Wenn wir uns nun den Factoren der zweiten Gruppe, den Einflüssen
des eigentlichen Unter richte Wesens auf den kindlichen Organismus, zuwen¬
den, so ist zwar nach vielen Richtungen der Nachweis der Nothwendigkeit
ärztlicher Mitwirkung nicht schwierig. Niemand kann heute mehr be¬
streiten , dass die strenge Durchführung der Schulpfliohtigkeit, ohne
Individualisirung in den zur Schule herangezogenen jüngsten Alters¬
stufen, von früh an zu den ernsten Schädigungen der Gesundheit der
fehlerhafter Weise unter das Gesetz gestellten Kinder führen kann. Auch
dass Fehler in der Aenderung der Schulpläne, die Ueberzahl der Unter-
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 39
richtsstunden überhaupt x das. Aufeinanderdrängen vieler Sitzstunden, dass
d&s Zusammendrängen von Unterrichtsstunden, welche eine exclusive gei¬
stige Anstrengung erheischen, dass endlich eine fehlerhafte Vertheilung oder
geringe Ausdehnung der Erholungspausen für den kindlichen Organismus
auf die Dauer nachtheilig werden können, wird kein verständiger Pädagoge
heute leugnen. Dasselbe gilt für die Anwendung der häuslichen Arbeiten,
dasselbe für einzelne zur eigentlichen Schuldisciplin gehörige Einrichtungen,
für Schulstrafen etc. Und doch muss man zugestehen, dass auf keinem
Theile des ganzen Gebietes ein Zugeständnis für ärztliches Eingreifen von
Pädagogen und Behörden schwieriger zu erringen ist, pls hier, wo die Interna
des Unterrichts in Frage kommen. Die Ursache für die$e Erscheinung liegt
darin, dass einmal das Abgrenzen zwischen Erlaubtem oder sogar Erspriess-
lichem und Nachtheiligem überaus schwierig ist, und die absolute natur¬
wissenschaftliche Sicherheit in dem Abwägen den Arzt verlässt, der in vielen
hier einschlägigen Fragen noch keineswegs auf sicherem Boden steht, sodann
aber auch, weil der Pädagoge durch Einschränkung seiner Vollmachten in
Conflict gebracht wird mit der eigenen Ueberzeugung, dem Gefühl der
Pflicht, durch möglichst vollkommene Entwickelung von Geist und Gemüth
der ihm anvertrauten Kinder, die ihm heilige Berufs- und Culturmission zu
erfüllen. Ich habe schon in meinem Handbuch der Schulhygiene ausdrück¬
lich hervorgehoben, „dass die Hygiene in den Fragen, welche sich auf den
eigentlichen Unterricht beziehen, ihre Competenz gegenüber denjenigen
Forderungen, welche seitens der Erziehung aufgestellt sind, und zur Durch¬
führung gebracht werden müssen*, wohl abzuwägen habe“,’ und ich freue
mich, constatiren zu können, dass auch die preussische wissenschaftliche
Deputation für das Medicinalwesen dieser Auffassung im Wesentlichen bei¬
getreten ist; auch sie befindet, dass „eine einigermaassen genügende Lösung
der Einzelfragen (bezüglich der Dauer der Schul- upd Arbeitszeit) vom
medicinischen Standpunkte allein schwerlich gefunden werden könne; dazu
gehöre die Mitwirkung, und zwar die entscheidende Mitwirkung der Päda¬
gogen“.
„Wenn dies nun aber offen und geradeaus zugestanden werden muss,
so bleibt auf der anderen Seite ebenso sicher die Thatsache bestehen, dass
die ärztliche Mitwirkung selbst bei den Internis des Unterrichts nicht mehr
ausgeschlossen werden kann. Wenn in der That du^ch die oben angeführ¬
ten Momente beim Unterricht Schädlichkeiten eipgeführt werden können,
welche sich in dem kindlichen Organismus abspiegeln, so bleibt kaum etwas
Anderes übrig, als dass bei der Festsetzung der Bestandtheile des Unter¬
richts, also der Unterrichtspläne, die ärztliche Mitwirkung herbeigezogen
wird, und dass weiterhin da, wo bisher eine genügende Erfahrung über das
Maass des Nützlichen und den Beginn des Schädlichen noch nicht vorliegt,
durch ärztliche Mitwirkung dieses Maass allmälig festgestellt wird.
„Am energischsten spricht sich in jüngster Zeit Baumeister in
dieser Frage aus. Es heisst bei ihm (s. diese Vierteljahrsschrift, Bd. XV,
p. 448): Der öffentliche Unterricht, mit Ausnahme der Volksschule, ist bis
jetzt ein allseitig verschlossenes, in unbeschränkter Gewalt der Fachleute, d. h.
der Philologen, befindliches Gebiet. Während der Richter in den Schöffen
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40 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
und Geschworenen, der Verwaltungsbeamte in den Bezirksräthen den aus¬
gleichenden und ergänzenden Gegensatz findet, während für viele andere
wichtige Interessen das Laienelement zur Theilnahme an den Aufgaben des
Staates berufen wird, ist der Gymnasiumsdirector einsam auf der Höhe seiner
fachlichen Autorität geblieben. Kein Mensch, der sich einem speciellen Beruf
mit seiner ganzen Arbeitskraft hingiebt, wird sich vor gewissen, aus der
auferlegten Beschränkung erwachsenden Einseitigkeiten schützen können,
am wenigsten der Lehrer, welchem in seinem amtlichen Wirken nur das
nachgiebige oder zum Widerstand unberechtigte Material der Jugend gegen¬
übersteht. Ein treffliches Correctiv hiergegen wäre eine Schulcommission
von Mitgliedern aus bürgerlichen und ärztlichen Kreisen. Der Wirkungs¬
kreis würde wesentlich umfassen: allgemeine Aufsicht über Unterricht,
Schulzucht und Gesundheitspflege, Genehmigung für schwere Strafen, ins¬
besondere für den Ausschluss von Schülern, gutachtliche Mitwirkung bei
Anstellung und disciplinärer Behandlung von Lehrern, Auswahl von Schul¬
requisiten, Anzeige wahrgenommener Missstände. Namentlich wäre der
zuletzt genannte Punkt wichtig, indem die Schulcommission ein lebendiges
Bindeglied sein würde zwischen der Schule einerseits, der Oeffentlichkeit
und der Familie andererseits, welchen gegenwärtig eine solche Vermitte¬
lung gänzlich fehlt. Die Eltern scheuen sich bekanntlich und begreiflich,
mit Klagen gegen einen Lehrer hervorzutreten, weil sie die Vergeltung
fürchten, welche in unbeikömmlicher Weise von dem Angeschuldigten an
ihren Kindern geübt werden kann. Oder es werden Denunciationen gemacht,
am schlimmsten solche in der Presse, unter schwerer Schädigung der Schule,
besonders der Lehrerautorität. Den Mitgliedern einer Schulcommission
dagegen werden erfahrungsmässig Beschwerden wohl an vertraut, und kann
dann für loyale Erledigung gesorgt werden. Die Betheiligung des Laien¬
elements wird daher sicherlich das gegenwärtig vielfach erschütterte Ver¬
trauen zur Leitung der Schule kräftigen, das Verständniss für die Zwecke
und Bedürfnisse der Schule fördern, den isolirten Fachmann dem Volke
wieder näher bringen.
„Indem die vorstehenden Erörterungen meines Erachtens den Nutzen
von Schulcommissionen einleuchtend darlegen, ist auf der anderen Seite die
Besorgniss nicht unerwähnt zu lassen, dass es zwischen Fachmännern
und Laien leicht zu Reibungen kommen könne, in welchen schliesslich
der Laie unterliegt, somit vergeblich dasitzt. Allerdings pflegt gerade bei
Schulmännern das Bewusstsein der Unfehlbarkeit stark ausgeprägt zu sein,
und der Laie gegenüber dem Anspruch einer solchen „Autorität“ einen
schweren Stand zu haben. Aehnliches ist aber in allen gemischten Com¬
missionen mehr oder weniger der Fall, und sollte von der besprochenen
Einrichtung um so weniger abhalten, als sich dieselbe in beschränktem
Umfang bereits bewährt hat. In bestimmten wirklichen Fachfragen pflegt der
Laie sich willig unterzuordnen, in allgemein culturellen Fragen aber braucht
er sich eben nicht als Laie anzusehen, sondern als Glied seiner Nation,
welche denn doch, trotz des bekannten Rufes der Deutschen, glücklicher¬
weise noch nicht von lauter Schulmeistern regiert wird. Von diesem
Moment werden wir nun noch zu einer weiteren Ausdehnung der Frage
von der Mitwirkung der Laien im Schulwesen geleitet.
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 41
„Es giebt wohl kaum ein Gebiet des öffentlichen Lebens, welches einem
so allgemeinen Interesse begegnet wie das Schulwesen. Keines greift so
tief in das Privat- und Familienleben ein, keines ist andererseits so wichtig
für das geistige Gedeihen des ganzen Volkes. Und doch ist von diesem
Gebiet nur die Elementarschule Gegenstand gesetzgeberischer Mitwirkung
der Volksvertretung, die Mittelschule aber bisher lediglich durch Behörden
regiert. Auf Klagen und Wünsche, welche gelegentlich der Budgetberathung
in allen Landtagen geäussert worden, ist der Tenor der höflichen Antwort
nur zu oft ein ignoratis gewesen, während bei wichtigen, doch auch
specielle Kenntnisse erfordernden Interessen der Volkswirtschaft, der
Justiz u. 8. w. Laien zur Mitwirkung an der höchsten entscheidenden Stelle
berufen sind und herzhaft mitstimmen. Ueber jeden Pfennig Steuern übt
die Volksvertretung Controle, aber die weit kostbareren Güter, unsere
Kinder, müssen ohne ein geregeltes Recht des Einflusses den „Fachmän¬
nern“ überlassen werden. Es hat wohl des übergrossen Respectes der
Deutschen vor Schalen und Gelehrten bedurft, um ein so unnatürliches
Verhältniss bis in unsere Tage aufrecht zu erhalten. Erst jetzt treten in
Hessen und in Baden die ersten Merkmale einer Correctur hervor. Möge
man sich nicht einschüchtern lassen durch die Behauptung, über die Frage
der Bildung verständen nur Schulmänner zu entscheiden. Wir alle sind
dazu mit berufen, sofern wir wenigstens nach höherer Bildung streben oder
sie besitzen, und als Väter wollen wir die uns gebührende Verantwortung
für Wege und Ziele der Jugendbildung nicht abwerfen. Auf die „Forde-
derungen der Cultur“ berufen sich freilich heutzutage alle Parteien, auch
diejenigen, welche der sittlichen und der intellectuellen Barbarei zutreiben,
aber werden die Schulmänner, soweit es an ihnen liegt, einer solchen
Zukunft nicht freudiger und wirksamer entgegenarbeiten, wenn sie den
geistigen Halt an den Laien, an der Volksvertretung besitzen? Und
schlimmsten Falles haben wir uns in unheilvolle Beschlüsse zu ergeben,
beim Schulwesen so gut wie bei anderen öffentlichen Fragen, weil wir eben
Glieder unseres Volkes sind.“ Soweit Baumeister.
„Nach meiner Auffassung kann aber, wie die Sachen augenblicklich
liegen, den Pädagogen eine gewisse Mitwirkung der Aerzte an dieser Stelle
nur lieb sein, denn bei Erfüllung der Aufgabe wird dem Arzt das Studium
der als echte Schulkrankheiten beschriebenen Krankheitsformen, die Unter¬
suchung ihrer Abhängigkeit von Schuleinflüssen obenan zufallen, und hier
eröffnet sich nunmehr dasjenige Gebiet, in welchem verständige Pädagogen,
eingedenk des alten „Mens sana in corpore sano“, die ärztliche Thätigkeit
gewiss nur als Unterstützungsmittel für die eigene Berufsarbeit mit Freuden
werden begrüssen können, wobei noch der Vortheil erwächst, dass die ein¬
gehende und sorgfältige Forschung im Stande Bein wird, die Schule und das
Unterrichts wesen an vielen Stellen von Vorwürfen zu befreien, die denselben
von gedankenlosen und nur nach dem post hoc ergo propter hoc urtheilenden
Menschen ohne Weiteres gemacht werden. Was auch immer an Ueberbür-
dungszeichen, Kopfschmerzen, Nasenbluten, Kurzsichtigkeit, an Verkrüm¬
mungen der Wirbelsäule und all den übrigen unter den Schulkrankheiten
aufgeführten Krankheitsformen bei Kindern Vorkommen mag, so wird
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42 Elfte, Versammlung d, D, Vereins f, öff. Gsndpflg. zu Hannover.
immerhin erst die sorgfältige, von Aerzten geführte Enquete qnd eine um¬
fassende, durchaus wissenschaftliche Statistik das Maass der Verschuldung
der Schulen an diesen Uehelp festzustellen habe?.
„Nun, meine Herren, wenn ich auch überzeugt davon bin, dass es
fehlerhaft ist, wenn Aerzte in Dingen zur Entscheidung herbeigezogen wer¬
den, die ausserhalb der Möglichkeit eines wissenschaftlich absolut sicher zu
begründenden Urtheils liegen, und dies wäre bezüglich der Frage, was man
Kindern in bestimmter Altersstufe an geistiger Arbeit zumuthen könne, der
Fall, so muss ioh doch sagen, dass ich nicht einsehen kann, warum nicht
Schulvorsteher und Aerzte in der Feststellung der Schulpläne etc. so sich
theilen sollen, dass der Pädagoge vom Arzt den Rath einholt, ob nicht das
Eine oder Andere in der Masse und Anordnung des Lernstoffes das geeignete
Maass überschreite. Nur berathend soll ja der Arzt sein, und wenn unter
gemeinsamer Berathung nach den allgemeinen Normativbestimmungen der
Regierung für die einzelnen Schulen die Pläne entworfen sind, würde es ja
immer bei den höheren Behörden stehen, die so festgestelRen Pläne einem,
von Pädagogen und höher gestellten Aerzten zusammengesetzten Rathe zu
einer nochmaligen Correction zu unterbreiten. Eine solche Einrichtung
würde sicher dazu beitragen, ebensowohl die heissspornige Ueberstürzung
von Pädagogen, wie diejenige von naturschwärmenden Aerzten im Zaume
zu halten, würde endlich im Publicum wesentlich dazu beitragen, die Beun¬
ruhigung wegen Ueberbürdung zu beseitigen,
„Indem ich mich der dritten Gruppe der oben erwähnten Schädlich-
keitsfactoren zu\vende, kann ich mir an dieser Stelle wohl ersparen, den
Nachweis zu führen, dass eine Benacbtheiligung der Gesundheit durch das
Zusammensein vieler Personen auf einem Raume möglich ist, nnd dass diese
Möglichkeit um so näher liegt, je mehr sich diese Personen in einer gewis¬
sen Prädisposition zu gewissen Erkrankungen überhaupt befinden. Diese
Prädisposition ist aber für contagiqse Krankheiten bei Schulkindern, ins¬
besondere der jüngeren Altersstufen, in ausreichendem Maasse vorhanden.
Sonach kann es keinem Zweifel unterliegen, dass eine ärztliche Controle
unter solchen Verhältnissen direct geboten ist, und zwar um so mehr, je
mehr sich her^usstellt, dass Uebertragungen zu einer Zeit stattfanden, wo
die Krankheiten noch keineswegs vollkommen entwickelt sind, sondern sich
noch in dem Stadium der ersten Entwickelung befinden; so ist es bekannt,
dass die Verbreitung der Masern durch den Masernschnupfen statt hat,
längst bevor ein eigentliches Masernexanthem zum Ausdruck gekommen
ist; ähnlich ist das Verhältnis beim Keuchhusten, und wahrscheinlich auch
hei der Diphtherie und dem Scharlach. Wer wird leugnen wollen, dass
hier ein geschultes und geübtes ärztliches Auge Gelegenheit haben dürfte,
Unheil zu verhüten, ünd doch gestehe ich offen, dass gerade an dieser Stelle,
wo die eigentliche Domäne der ärztlichen Wirksamkeit in der Schule zu
liegen scheint, letztere völlig illusorisch wird ohne die thätige und sach¬
verständige Mitwirkung der Lehrer. Bei dem Maass von Thätigkeit, wel¬
ches dem Arzte in der Schule überhaupt wird zugemessen werden können,
ist es fast unmöglich, dass er auch nur zu einem kleinen Theile die Ueber-
tragungsquelle verstopfen kann, weil er die Kinder ja nur für Minuten
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 43
sieht. Hier ist der Lehrer, welcher die Kinder stundenlang unter Augen
hat, ihr Aussehen, ihr Naturell kennt, sonach auch etwaige Veränderungen in
ihrem Wesen beobachtet, vielmehr im Stande, prophylactisch einzugreifen,
als der Arzt. Der Arzt wird in vielen Fällen nur dazu beitragen können,
dem Lehrer in den zu treffenden Maassnahmen zu Hülfe zu kommen und
demselben etwa die richtige Direotive zu geben.
„Gerade hier ist also eine gewisse Kenntniss nicht nur hygienischer
Thatsachen, sondern auch derjenigen Erscheinungen am kindlichen Orga¬
nismus, welche in den Anfangsstadien infectiöser Krankheiten zu Tage
treten, für den Lehrer sehr wünschenswerth. Neuerdings sind übrigens
gerade über diese Dinge seitens des Herrn Ministers der geistlichen, Unter¬
richts- und Medicinalangelegenheiten und des Herrn Ministers des Innern in
Preussen sehr wichtige Bestimmungen getroffen worden. In der betreffen¬
den Verordnung vom 14. Juli 1884 heisst es:
1. Zu den Krankheiten, welche vermöge ihrer Ansteckungsfähigkeit be¬
sondere Vorschriften für die Schulen nöthig machen, gehören:
a) Cholera, Ruhr, Masern, Rötheln, Scharlach, Diphtherie, Pocken,
Flecktyphus und Rückfallfiebej:.
b) Unterleibstyphus, contagiöse Augenentzündung, Krätze und
Keuchhusten, der letztere sobald und so lange er krampfartig
auftritt.
2. Kinder, welche an einer in Nr. la und b genannten ansteckenden
Krankheit leiden, sind vom Besuche der Schule auszuschliessen.
3. Das Gleiche gilt von gesunden Kindern, wenn in dem Hausstande,
welchem sie angehören, ein Fall der in Nr. la genannten Krank¬
heiten vorkomrat; es müsste denn ärztlich bescheinigt werden, dass
das Schulkind durch ausreichende Absonderung vor der Gefahr dor
Ansteckung geschützt ist.
4. Kinder, welche gemäss 2 und 3 vom Schulbesuch ausgeschlossen
sind, dürfen zu demselben erst dann wieder zugelassen werden, wenn
entweder die Gefahr der Ansteckung nach ärztlicher Bescheinigung
für beseitigt anzusehen, oder die für den Verlauf der Krankheit
erfahrungsmässig als Regel geltende Zeit abgelaufen ist.
5. Für die Beobachtung der unter Nr. 2 bis 4 gegebenen Vorschriften
ist der Vorsteher der Schule (Director, Rector, Hauptlehrer, erster
Lehrer, Vorsteherin etc.), bei einclassigen Schulen der Lehrer (Leh¬
rerin) verantwortlich. Von jeder Ausschliessung eines Kindes vom
Schulbesuch wegen ansteckender Krankheit — Nr. 2 und 3 — ist
der Ortspolizeibehörde sofort Anzeige zu machen.
„Man sieht aus diesen Paragraphen, wie die höchsten Behörden zwar
eine ärztliche Ueberwachung der Schulen durch den Arzt nicht annehmen,
indess die ärztliche Function neben derjenigen der Schulvorstände ausdrück¬
lich zur Geltung bringen. Noch deutlicher tritt dies zu Tage in dem Para¬
graphen 9, welcher von der Schliessung der. Schule handelt. Wir kommen
alsbald auf denselben zurück.
„Die ärztliche Function ist übrigens auf diese Thätigkeit an dieser Stelle
nicht beschränkt, vielmehr treten hier neue Aufgaben an den Arzt heran,
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44 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
dahin gehend, die bisher überhaupt noch nicht aufgeklärten Fragen der Art
und Weise der Uebertragung von Infectionskrankheiten in und durch die
Schule zur Entscheidung zu bringen. Noch fehlt uns hier die positive
wissenschaftliche Erkenntniss; insbesondere ist die Frage, in wie weit die
Uebertragung durch gesunde Mittelspersonen Btatthaben kann, noch durchaus
in der Discussion, und doch hängen von ihrer definitiven Entscheidung die
legislatorischen Maassnahmen ab, die zu treffen sind, insbesondere bezüglich
der Zulassung zur Schule von Kindern, in deren Familien Erkrankungen an
acuten Infectionskrankheiten vorgekommen sind. Könnte es doch fast
scheinen, wenn man die jüngsten Publicationen von Kerschensteiner
über den Gegenstand verfolgt, als sei man in der Frage zu rigoros vor¬
gegangen. Wie man sieht, würde sich hier an die ärztliche Ueberwachungs-
thätigkeit gleichzeitig ein Stück ärztlichen Forschens anknüpfen, und gerade
ein solches Stück, bei welchem Lehrer und Arzt gemeinschaftlich thätig
sein können.
„Wie dem allem nun auch sei, so geht wohl aus der ganzen Summe
von Ausführungen hervor, dass die ärztliche Mitwirkung zum Zweck der
hygienischen Ueberwachung und die damit Hand in Hand gehende ätio¬
logische Forschung in der Schule nicht entbehrt werden kann. Ich habe
mich nach diesen Erwägungen veranlasst gesehen den ersten Theil meiner
Sätze aufzustellen.
1. Trotz der vielfachen Verbesserungen, welche sowohl die äusseren
Einrichtungen der Schulen, wie auch die Gestaltung des Unterrichts¬
systems erfahren haben, gehen noch Schädlichkeiten aus dem Schul¬
besuch hervor, welchen der kindliche Organismus unterworfen ist.
2. Die Frage der Verbesserungen ist aus diesem Grunde keine rein
technische, von Architekten und Pädagogen zu lösende, sondern in
hervorragender Weise eine physiologische.
3. Daher gebührt dem Arzte eine Stellung bei der Entscheidung der
Verbesserungen, welche bezüglich der äusseren Einrichtungen der
Schulen und des Unterrichtssystems einzuführen sind.
„Ich wende mich nunmehr der zweiten, oben gestellten Frage zu:
Wie kann die Thätigkeit des Schularztes gestaltet werden, um nicht die
Culturaufgabe der Schule zu hemmen, sondern sie zu fordern? Zunächst
ist hier die Frage zu beantworten, ob die ärztliche Ueberwachung der
Schule eine continuirliche sein müsse, oder ob zeitweilige, in gewissen Zeit¬
räumen ausgeführte ärztliche Schulvisitationen dem in Aussicht genomme¬
nen Zwecke, der Beseitigung der Schädigung der Gesundheit der Schul¬
kinder durch die Schule, genügen. Schon die Thatsache, dass die der Schule
' zugeschriebenen Uebel, mit Ausnahme der Infectionskrankheiten, chronische,
langsam und stetig sich entwickelnde und fortschreitende sind, musste
darauf hinführen, denselben durch ein ebenso stetiges und dauernd wirk¬
sames Mittel entgegenzutreten; hier kommt ein einfaches, in der ärztlichen
Praxis ebenso wie in allen Lebens Verhältnissen geübtes Princip zur Geltung.
Ich konnte sonach der Forderung zeitweiliger Schul Visitationen, wie Falk
(dessen hohe Verdienste um die ganze Schulfrage übrigens durch die viel¬
fachen Bestrebungen und Arbeiten der letzten Jahre etwas in den Hinter-
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 45
grund gedrängt erscheinen, die aber hervorzuheben ich an dieser Stelle für
meine besondere Pflicht halte) dieselben forderte, nicht beistimmen, sondern
musste mich für eine continuirliche hygienische Ueberwachung der Schulen
aussprechen. Was kann es bei der rapiden Zunahme der Kurzsichtigkeit
der Schulkinder nützen, wenn halbjährige Visitationen den Fortschritt con-
statiren und erst dann die demselben zu Grunde liegenden Uebelstände
beseitigt werden, was bei den ebenso stetig auftretenden, aber je nach den
Individuen wechselnden, anderweitigen Anomalieen, wie Kopfschmerzen,
Nasenblutungen etc.; insbesondere leidet unter den vereinzelten Visitationen
die Beaufsichtigung und Ueberwachung des einzelnen Schulkindes, und
gerade bei der Schule hat jedes Individuum volle Berechtigung der Rück-
sichtsnahme. Ueberdies ist, wie ich in meinem Buche betont habe, nicht
ausgeschlossen, dass bei den vereinzelten Schulvisitationen der beaufsichti¬
genden Sanitätsbehörde Schädlichkeiten entgehen oder gar künstlich ver¬
borgen gehalten werden, welche nunmehr Zeit haben, ihren deletären Ein¬
fluss auf längere Dauer hin zur Geltung zu bringen. Wirklich nutzbringend
und wirksam wird also nur die dauernde stetige Controle.
„Wird dieses Princip einmal angenommen, so gliedert sich die Thätig-
keit des Schularztes in folgender Weise. Man wird zu unterscheiden haben
zwischen einer Art von Extraordinarium der Thätigkeit und einem Ordi-
narium derselben. Zu ersterem rechne ich diejenigen Functionen, welche
der Arzt nur ausnahmsweise, vielleicht überhaupt nur ein einziges Mal in
Beinern Wirkungskreise zu erfüllen hat; hierher gehört also die sanitäre
Beurtheilung eines Baugrundes für eine neu zu erbauende Schule, der Bau¬
pläne und der Ausstattungseinrichtungen, hierher würde ferner gehören die
ärztliche Untersuchung und Beurtheilung besonderer und ausnahmsweis zu
Tage getretener Schädlichkeiten in einem schon längere Zeit hindurch in
Gebrauch stehenden Schulgebäude, die Nachforschung nach den Ursachen
einer plötzlich hereingebrochenen Epidemie u. s. f. In dem Ordinarium der
Thätigkeit lassen 'sich weiterhin zwei Gruppen von Functionen unter¬
scheiden , die erstere diejenige Thätigkeit umfassend, welche nur nach
gewissen längeren Zeiträumen für den Arzt wiederkehrt, die letztere die¬
jenige, in deren Ausübung er alltäglich betheiligt ist. ^ Zur ersteren gehört
die ärztliche Controle der von dem Schulvorstande aufgestellten Schulpläne,
die Beihülfe bei der Aufnahme neuer Schulkinder, die Feststellung des
Gesundheitszustandes derselben, mit besonderer Berücksichtigung der
Leistungsfähigkeit der Augen und Ohren, ferner die Hand in Hand damit
gehende Anpassung der Schulbänke u. s. w.; zu der letzteren endlich würde
der alltäglich sich wiederholende Besuch der Schulclassen während des
Unterrichtes, mi^Ausübung aller damit in Verbindung stehenden Leistungen,
der Ueberwachung sowohl des hygienischen Zustandes der Schule im Gan¬
zen, wie des Gesundheitszustandes deB Schülers im Einzelnen, soweit dieB
überhaupt möglich ist, gehören.
„Bei allen diesen Functionen wird indess, und dies kann nicht häufig
genug betont werden, die volle Rücksicht auf die Lehrer und auf
die Endzwecke der Schule als Lehr- und Unterrichtsanstalt,
statthaben müssen. Der Arzt wird nie vergessen dürfen, dass die Schule
noch andere als rein gesundheitliche Zwecke zu verfolgen hat, und in dem
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46 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
steten Eingedenken der Culturaufgabe des Unterrichtes wird er in sich
schon das Maass und die Grenze finden für seine immerhin bedeutende
und weit umfassende Thätigkeit.
„Ueberdies liegt es in der Natur der Sache und in der Art der soeben
skizzirten Functionen, dass eine souveräne, ganz selbständige
Thätigkeit des Arztes in der Schule überhaupt ausge¬
schlossen ist. Der Arzt wird in der Schule zumeist nur als berathender,
äusserst selten, und zwar nur wenn pericülum in mora ist, als selbständig
beschliessender Factor zur Geltung kommen können, wenngleich seine
berathende Stimme zumeist als eine gewichtige wird betrachtet werden
müssen, ln diesem Sinne kann der Schularzt also nur gedacht werden als
ein Mitglied einer Commission, welche jeder Schule vorgesetzt ist. Dieser
Einrichtung hat aber das oben erwähnte Rescript der preussischen Mini¬
sterien Rechnung getragen. Die Paragraphen, welche von der eventuellen
Schliessung der Schulen handeln (§. 7, 8, 9), sprechen vom Schulvorstande
(Curatorium), der Ortspolizeibehörde, dein Landrathe (Amtshauptmann) und
Kreisphysicus, welche bei der NothWendigkeit des Schulschlusses gemein¬
sam zu handeln haben, jene erstgenannten beiden, indem sie Anzeige
machen, die letztgenannten, indem sie gemeinsame Entscheidung treffen.
„Es ist nun leicht zu übersehen, wie mit Zugrundelegung dieser Art
von Behörde die Organisation einer sanitären Controle der Schulen zu
ermöglichen ist. Sehr einfach gestaltet sich die Organisation für kleinere
Städte oder Dörfer, wo nur je eine Schule vorhanden ist; hier wird ein
Arzt einer gewissen Anzahl von Commissionen angehören können. In
grösseren und insbesondere in ganz grossen Städten werden die bisherigen
DiBtrictsschulcommissionen ohne Weiteres bestehen bleiben können mit ein¬
facher Hinzuziehung von Aerzten; so würde es speciell für die Berliner
Commune ein Leichtes sein, unter Bestehenlassen der bisherigen Eintheilung
in Schulinspectionen und diesen untergeordneten Schulcommissionen, die
eigentlichen Sanitätsfunctionäre den Inspectionen einzufügen. Nach oben
hin würde sich die Schulbehörde, ganz wie bisher, den früheren Organen
einzureihen haben.
„Eine derartige Einrichtung von Schulcommissionen würde von vorn¬
herein heis88pornige Uebergriffe von Schulärzten unmöglich machen, sie
würde aber auch übertriebenen Anforderungen von Pädagogen Zügel an-
legen. Speciell aber würde sie übereilten Anforderungen an den Säckel
der Communen Vorbeugen, ebenso wie sie allzu selbständige Handlungen
des Arztes, wie sie unter Anderem bezüglich der Schliessung von hygienisch
nicht ganz normalen Schulen von Cohn vorgeschlagen wurden, durchaus
verhindern würde. •
„Ich kann demnach die aufgestellten Grundsätze in den Sätzen 4, 5
und 6 zusammenfassen.
4. Jede der Schule Vorgesetzte Schulcommission soll gehalten sein,
einen sachverständigen Arzt als Mitglied zu haben.
5. Die Thätigkeit jeder Schulcommission im Ganzen, und diejenige des
Arztes im Speciellen, soll eine continuirliche sein. Periodische
Revisionen erfüllen den anzustrebenden Zweck nicht.
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt 47
6. Keinem Mitgliede der Schnlcommis&ion kann das Recht absoluter,
selbständiger und entscheidender Thätigkeit, soweit dieselbe Aende-
rungen in der Gestaltung der Schule und des Unterrichtes bedingt,
zugestanden werden; — auch dem Arzte nicht
„Bei der Beantwortung der dritten Frage, welche sich auf die Durch¬
führbarkeit der schulärztlichen Ueberwachung bezieht, hat man zunächst ins
Auge zu fassen, wie viel Kinder dem einzelnen Arzte und eventuell der
einzelnen Schulcommission überwiesen werden dürfen, und weiterhin, was
damit in Zusammenhang steht, wie oft die ärztlichen Besuche in den ein¬
zelnen Schulen stattzufinden haben. Ich habe in meinem Buche den Wunsch
ausgesprochen, dass dem einzelnen Arzte nicht mehr alß circa 1000 bis
1200 Schüler in grossen und 500 bis 600 Schüler in kleinen Städten an¬
vertraut Werden sollen. Nach reiflicher Ueberlegung erscheint es mir
unmöglich, die Fikirung dieser Zahlen festzuhalten, insbesondere ist die
Zahl für so grosse Städte wie Berlin zu niedrig gegriffen. Damit soll natür¬
lich nicht gesagt sein, dass es nicht wünfcchens werth sei, dem einzelnen
Arzte je eine möglichst kleine Anzahl von Kindern AnzuVertraüen; sicher
wird die ärztliche Controle in dem Mäasse, wie dies geschieht, besser ; aber
es wird sehr wesentlich nach den localen Verhältniseren variiren. Dieselbe
kann grösser sein, wo die Grösse der Schulen die Beaufsichtigung räumlich
erleichtert, während kleine weit aüB einander liegende Schulen, wie solche
auf Dörfern sind, die Beaufsichtigung erschweren und eo ipso Zeitraubender
machen. Ueberdies darf hier mit den Anforderungen thatsächlich nicht zu
weit gegriffen werden, weil damit die ganze Angelegenheit in Frage gestellt
werden kann; denn einmal ist bei der Anforderung, die oben gestellt ist,
die entsprechende Anzahl von Sanitätsbeamten resp. Schulärzten überhaupt
nicht zu haben und die Kosten übersteigen überdies meistens die Kräfte
der ohnedies unter der Schullast seufzenden Communen. Für Berlin dürf¬
ten z. B. unter der Annahme von 18 Schulinspectionen je 2 Aerzte für jede
Inspection genügen müssen, so dass im Ganzen 36 Aerzte die Ueberwachung
der Schulen führten. Denselben würden allerdings circa 150 000 Schul¬
kinder in 285 Schulen mit circa 3200 Schulclassen Zufällen. Da aber hier¬
bei also circa 90 Classen auf den einzelnen Arzt kommen, so würde der¬
selbe, wenn er allmonatlich je einmal in jeder der Classen anwesend
gewesen sein soll, täglich drei Classen zu besuchen haben, was allerdings
nicht als zuviel erscheint und noch als eine ausreichende Controle angesehen
werden dürfte, wenn dieselbe, wie voraüsgeBitzt, geeignet gehandhabt wird.
Allerdings kommen hinzu üoch die früher erwähnten, eventuell ausser¬
ordentlichen und die periodisch wiederkehrenden ordentlichen Arbeiten des
Schularztes. Bei alledem lässt sich überblicken, dass auch der Kostenpunkt
die Kräfte der Commune Berlin nicht übermässig in Anspruch nehmen
würde, namentlich dann nicht, wenn, was sehr gut anginge, diejenigen
Aerzte, welche bisher schon als Armenärzte der Commune fungiren, mit
sanitärer Ueberwachung der Schulen betraut würden und mutatis mutandis
würde das Gleiche für andere Communen Platz greifen.
„Die Herren Collegen, welche aber eventuell die Schulüberwachung
Übernehmen würden, würden allerdings gehalten sein müssen, den Nach¬
weis zu führen, dass sie sich mit schulhygienischen Fragen beschäftigt
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48 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
haben. Jeder praktische Arzt kann dies nicht, und in diesem Sinne habe
ich also in Satz 7 ausgesprochen:
7. Jeder praktische Arzt kann Mitglied der Schulcommission werden,
sofern er durch ein Examen seine Befähigung erweisen kann. Das
Bestehen des Physicatsexamens giebt diese Befähigung.
„Es würde aber eigentlich nichts Anderes nöthig sein, als dass bei der
Staatsprüfung, bei welcher ja jetzt auch im Schlussexamen die Hygiene
geprüft wird, die schulhygienischen Fragen etwas schärfer vorgenommen
werden als bisher. Im Uebrigen aber ist gar nichts dagegen zu sagen, dass
der Kreisphysicus, der als Behörde functionirende Arzt, wo es irgend an¬
geht, diese Stellung übernimmt.
„Dies, meine Herren, ist dasjenige, was ich zu erörtern hatte. Ich bin
am Schlüsse meiner Ausführungen, möchte aber doch nicht schliessen, ohne
noch einige allgemeine Worte hinzuzufügen.
„Meine Herren! wenn wir nach dem Auslande reisen und die anderen
Nationen kennen lernen, so bekommen wir einen sonderbaren Eindruck
von der körperlichen Entwickelung unserer Nation. Wenn man sieht, wie
andere Nationen in Bezug auf Abhärtung, in Bezug auf Körperübungen
alles Dasjenige leisten, was wir thatsächlich nicht leisten (Widerspruch),
oder wenigstens sehr Vieles, meine Herren, wenn man dies sieht, dann muss
man darauf aufmerksam werden, dass sehr Vieles bei uns mit Bezug auf
körperliche Entwickelung gebessert werden muss. Wenn Jemand Sympathie
hat für die Schule, so sind es ganz bestimmt die Aerzte. Wir sind die¬
jenigen, welche zuletzt die wirklich gedeihliche Fortentwickelung unserer
Jugend hemmen würden. Aber unsere Aufgabe ist es, auf der anderen
Seite aufzupassen, dass unter der geistigen Entwickelung die körperliche
thatsächlich nicht unterliegt. Unser Turnunterricht genügt nicht. Vieles,
was wir bei den Engländern gewissermaassen lächerlich finden, ihren Sport,
die Öffentlichen Spiele von Jung und Alt, das energische Bergsteigen, das
Schwimmen, Rudern, Fischen und Angeln fehlt uns in Deutschland that¬
sächlich (Widerspruch), und würden wir nicht bei uns die ausgezeichnete
militärische Ausbildung haben, würden wir nicht das Glück gemessen, dass
unsere Jugend im zwanzigsten Lebensjahre, sogar mit einiger Strenge und
Rücksichtslosigkeit hergenommen wird zur körperlichen Entwickelung, so
dass nicht in jedem Augenblicke gefragt wird: ob der junge Mann das
Eine oder das Andere leisten kann oder nicht, sondern dass ein gewisser
Zwang über seine körperliche Entwickelung geübt wird; wenn wir dieses
grosse Glück nicht gemessen würden, dann, meine Herren, würden wir in
Deutschland rückwärts gehen in der körperlichen Entwickelung der Jugend.
Nun, meine Herren, ein grosser Procentsatz unserer Bevölkerung geniesst
dies Glück nicht, zunächst gemessen es unsere Frauen nicht, und aus
diesem Grunde halte ich es für meine Pflicht, darauf den Ton zu legen,
dass die Herren Pädagogen Hand in Hand mit uns Aerzten gehen mögen,
diejenigen Dinge, welche sie vielleicht doch nicht so beurtheilen können,
wie wir, diejenigen Dinge, welche dazu beitragen können, einen wirklich
ausgezeichneten Volksstamm normal zu erhalten, geistig und körperlich,
gemeinsam mit uns zu bearbeiten/
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 49
Correferent: St&dtschulr&th Profe8SOr Br. Bertram (Berlin):
„Geehrte Herren! Mit einigem Zagen bin ich der Aufforderung des
Ausschusses Ihres geehrten Vereins gefolgt, in der Frage über die Schul¬
ärzte hier das Correferat zu übernehmen. Mein Amt führt mich ja von
selbst dahin und meine Sympathie noch mehr, yon den Bestrebungen Ihres
Vereins möglichst Früchte zu ziehen; aber es ist mir bisher nicht vergönnt
gewesen, als Mitglied an seinen Arbeiten theilzunehmen, nnd nun kann ich
mir nicht verhehlen, dass ich in dieser Frage, wo ich unter Ihnen zum
ersten Male das Wort nehmen soll, mich vielleicht mit der grossen Mehr¬
zahl der geehrten Herren im Gegensätze befinde. Indess ich habe mir
gesagt: es würde unrecht sein, Wenn eine Frage gestellt wird, sie nicht
offen und ehrlich so zu beantworten, wie ich es im Interesse der Sache für
dienlich halte, und ich werde auch von der Hoffnung geleitet, dass wir
gemeinsam den Weg finden werden, um zu dem grossen Ziele zu gelangen,
in dem wir alle einig sind: Erziehung der Jugend zu einem kräftigen
und charaktervollen Geschlecht.
„Einigermaassen ist mir die Aufgabe durch den Vortrag des Herrn
Prof. Flügge erleichtert. Er hat den wesentlichen Grund meiner De-
ductionen bereits ausgesprochen. Er nannte wenigstens einen Theil der
Lehrsätze der Hygiene hypothetisch, und wenn Herr Prof. Flügge das
vielleicht auch hauptsächlich auf die mikrobiologischen Untersuchungen
bezogen hat, so werden Sie es uns Pädagogen nicht verdenken, dass wir
ähnliche Zweifel auch auf andere Fragen "ausdehnen, und wir werden ja
darin auch durch das von dem Herrn Referenten bereits genannte Gut¬
achten der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen in Preussen
bestärkt, welches ja an verschiedenen Stellen ausspricht, dass für fast alle
diese Fragen der Schulhygiene noch die wissenschaftlichen Grundlagen
fehlen. Wenn Sie ferner den Abriss der Schulhygiene überblicken, welchen
Prof. Erismann in dem Werke von Pettenkofer und Ziemssen über
Hygiene geliefert hat, so werden Sie sehen, dass fast an jeder Stelle, bei
jeder bedeutenden Frage der Schluss dahin lautet: Im Allgemeinen ist die
Frage noch zweifelhaft.
„Wenn Sie die Fj*age von den Schulkrankheiten durchgehen, so ist die
erste Frage die: wird das Kind, wenn es in die Schule eintritt, durch die
Anstrengungen, die Disciplin der Schule in seinem körperlichen Befinden
zurückgedrückt oder wird es gehoben? Die Frage ist unentschieden, und
wenn wir da aus eigener Beobachtung reden sollten und uns — diese
Unterscheidung muss man ja immer machen — zunächst zur Volksschule
wenden, so glauben wir da zu beobachten, und wir können die Herren
Aerzte nur bitten, die Beobachtungen mit uns auch anzustellen, dass gerade
ein Fortschritt in der körperlichen Entwickelung, ein besseres leibliches
Befinden eintritt, j& höher man mit den Classen hinaufgeht. Ich habe
Gelegenheit gehabt, mit einem früheren Unterstaatssecretär im Unterrichts¬
ministerium gerade solche Schulen zu beobachten, und ihm selbst stiess das
auf, wie in den untersten Gassen am meisten der Druck bemerkbar ist, den
die Enge, die Dürftigkeit der häuslichen Verhältnisse auf die Entwickelung
der Kinder ausgeübt hat, wie aber, je mehr diese Kinder in das für sie
ViertlcjAlirMchrift für Gesundheitspflege, 1886 . 4
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50 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
geeignete öffentliche Leben der Schule eintreten, desto mehr die Entwicke¬
lung gesunder, normaler wird, und das kann ja nicht Wunder nehmen,
wenn man sieht, wie in unseren jetzigen Scbulhäusern die Kinder während
der Schulstunden in gesunderer Luft sind, als in ihrer Wohnung, in besserer
Haltung, in normalerer Bewegung, in besserer Thätigkeit, als zu Hause.
„Also über diese Frage ist man noch zweifelhaft, und nun nehmen Sie
die so vielfältig besprochene Frage von der Schulskoliose. Auch hier kann
man noch nicht mit Bestimmtheit sagen, dass gerade die Schule diese Krank¬
heit befördert habe, und wenn Sie noch andere Fragen nehmen,— ja, meine
Herren, der Herr Referent hat die Beleuchtung, die richtige Anbringung
der Fenster erwähnt; Sie können für fast jede Weltgegend, nach der die
Fenster hinausliegen sollen, eine ärztliche* Autorität finden.
„Nun, meine Herren, ich möchte diese Zweifel hier jetzt nicht weiter ver¬
folgen, wir werden vielleicht im Laufe der Discussion noch auf einzelne zurück¬
kommen, aber wenn das der Zustand der jungen Wissenschaft der Hygiene
ist, wenn er es ist trotz der hohen Verdienste, die eine Reihe von Forschern
sich um sie erworben haben, so, glaube ich, ist es noch nicht an der Zeit, mit
neuen organischen Einrichtungen störend in die Verhältnisse der Schulleitung
einzugreifen, es ist noch nicht an der Zeit, mit neuen Anforderungen die
Lasten der Gemeinden in Bezug auf die Schuleinrichtungen zu vermehren.
„Machen wir uns doch darüber keine Illusionen, meine Herren; dass
es Schulübel giebt, geben wir Alle zu, und das beklagen wir und suchen es
zu bessern; aber dass die Schule an sich eine ausgezeichnete hygienische
Einrichtung ist, das werden Sie Alle nicht bezweifeln, und soweit sind wir
noch nicht einmal, dass wir allen den Schulpflichtigen an allen Orten die
gehörigen Schulen nur können zukommen lassen. Es ist noch gar nicht
lange her, dass der Lehrermangel überwunden ist, und mit dem Aufbau der
Schulhäuser, mit der Creirung der Schullehrerstellen, mit der Beseitigung
der Ueberfüllung der Classen sind wir noch lange nicht fertig. Wenn Sie
nun die Gemeinden, die bei Erfüllung ihrer Pflichten in Bezug auf die
Schulen mit den allergrössten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, jetzt
noch in neue Schwierigkeiten dadurch versetzen, dass sie in das ganze
Getriebe der verschiedenartigsten Interessen, welche bei dem Ankäufe des
Schulgrundstückes, bei der Herstellung des Baues, bei der Einrichtung der
Classen zu überwinden sind, neue Instanzen hineinbringen, so werden wir
von dem Ziele, zunächst nur für die Schulpflicht einigermaassen zu sorgen,
noch weit zurückgeworfen.
„Aber, meine Herren, Sie dürfen nicht glauben, dass die Pädagogen
sich ablehnend gegen die Anforderungen der Hygiene verhalten; Sie dürfen
nicht glauben, dass sie sich nicht überzeugen lassen von dem, was besser
zu machen ist, und Sie dürfen nicht glauben, dass die Bestrebungen der
Hygieniker nicht schon ihre grosse Wirkung gethan haben. Sie können die
einzelnen Fragen, selbst wenn sie noch nicht völlig erledigt sind, hierauf
prüfen. Nehmen Sie die so viel ventilirte Frage der Subsellien. Da können
wir ja nicht sagen, dass die Untersuchungen über die Mechanik des Sitzens,
in welchen der Züricher Anatom Meier bahnbrechend gewesen ist, zu Ende
geführt seien. Ich wage nicht, hier in anatomische Erörterungen einzutre¬
ten, aber bei Betrachtung der Mechanik des Sitzens muss ich sagen, ioh
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 51
bin nicht davon überzeugt, dass einzig und allein die hintere Sitzlage die
vortheilhafte sei, dass es nicht auch möglich sei, eine vordere Sitzlage her¬
zustellen, die den hygienischen Ansprüchen genügt, oder vielmehr, dass es
nicht möglich sei, die Subsellien so zu construiren, dass vor Allem der dem
menschlichen Organismus so nöthige Wechsel in verschiedene Haltungen
hervortreten kann. Ich halte diese Frage also für unentschieden, und doch,
vergleichen Sie die Subsellien heutzutage mit denen vor 20, vor 30 Jahren!
Da ist überall ein enormer Fortschritt! Auch wenn die jetzt für eigentlich
normal erklärten Subscllien sich nicht überall finden, so ist immer die neue
Construction eine bessere, sie liefert mehr Raum, bessere Gelegenheit zum
geraden Sitzen, zur Bewegung, als die alten. Die wissenschaftliche Bewegung
hat also gewirkt, nur auf eine bestimmte Formel war sie noch nicht zu
bringen, und so wird es uns in sehr vielen Fragen gehen.
„Nehmen Sie weiter diö Untersuchungen über die Kurzsichtigkeit.
Ja, meine Herren, sie sind vielleicht diejenigen, die am weitesten geführt
sind und die auch das preussische Gutachten am meisten anerkannt hat,
aber fertig sind sie auch nooh nicht. Wir sehen und erkennen an, dass
sich im Allgemeinen unter den Schülern der höheren Lehranstalten mehr
Kurzsichtige finden als in den Volksschulen, und auch mehr unter den
jungen Leuten, die in der freien Natur aufwachsen; wir sehen das An¬
wachsen der Kurzsichtigkeit in den höheren Classen, aber es wird schon
bemerkt, dass in der obersten Classe vielleicht ein Stillstand im Anwachsen
eintritt, und es ist sehr fraglich, ob dieser Einfluss der Beschäftigung mit
Lesen und Schreiben überhaupt durch die beste Schuleinrichtung wird
beseitigt werden können, ob er nicht immer da gewesen ist und immer
bleiben wird. Es liegt auf der Hand, dass die Beschäftigung mit den
Wissenschaften auf die Entwickelung des Auges einen ganz anderen Ein¬
fluss ausüben muss, als die Beschäftigung des Jägers oder des Hirten, und
da ist noch nicht nachzuweisen, dass wir durch die vollkommenste Schul¬
einrichtung diesen Einfluss beseitigen können, und dennoch, der Impuls,
der durch die wissenschaftlichen Untersuchungen gegeben ist, hat weithin
gewirkt und wird weiter wirken. Betrachten Sie die Art der Beleuchtung
jetzt und vor 20, vor 30 Jahren, die Construction der Fenster! Immer
mehr brechen sich die Gruppenfenster Bahn, so dass fast die ganze eine
Seite der Classe durch eine Glasfläche eingenommen ist; immer heller,
immer höher, immer luftiger werden die Räume. Das ist die Folge der
wissenschaftlichen Untersuchungen, und wenn wir die Resultate noch nicht
auf bestimmte Formeln bringen können — und die aufgestellten Formeln
widersprechen sich ja in der mannigfachsten Weise —, so werden wir, da
wir nicht auf den Schluss der wissenschaftlichen Untersuchungen warten
können, die Schulen so gut einrichten, wie es nach der gegenwärtigen
Erkenntniss und nach den Verhältnissen möglich ist.
„Und nun, meine Herren, ich bin bei der Begründung meiner ersten
Thesen ich glaube an diesen beiden Beispielen gezeigt zu haben, dass das
kräftigste Mittel zur Förderung der Schulhygiene diese wissenschaftlichen
Untersuchungen sind. Sie wirken — dafür sind wir wenigstens in Deutsch¬
land das intelligente Volk —, auch wenn sie nachher nicht in amtlichen
Vorschriften ausgeprägt sind, sie werden weiter wirken auch auf andere
4*
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52 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Fragen der Schulhygiene. Wir sind ausserordentlich begierig auf die
Beantwortung solcher Fragen. Da tritt z. B. eine Frage auf: Welches ist
das richtige Lebensalter für den Anfang des Schulunterrichtes und wie ist
der Schulunterricht in den ersten Schuljahren zu leiten, um der Entwicke¬
lung des Skeletts, der Sinnesorgane möglichst wenig Hindernisse in den
Weg zu legen? Da treten solche Fragen auf wie: Ist es richtig, in Bezug
auf die allgemeine Schulpflicht so zu verfahren, wie es in England geschieht,
dass das Ende der Schulpflicht nicht von einem zurückgelegten Lebensalter
abhängig ist, sondern von dem Besitze gewisser erworbener Kenntnisse und
Fertigkeiten? Ja, meine Herren, das ist eine weitgreifende Frage, und die
Folge des jetzigen Zustandes in England, wo das Kind erst nach bestande¬
ner Prüfung von der Schulpflicht entbunden wird, ist die, dass das Kind
übermässig früh, mit drei, vier Jahren, in die Schule geschickt wird, damit
es nur möglichst bald dies Minimum von Kenntnissen erwerbe und dann
für den eigentlichen Erwerb zur Disposition stehe.
„So giebt es für die höheren Schulen Fragen, welche die Pädagogen
lebhaft beschäftigen, für die ein Anhalt gewiss aus physiologischen Unter¬
suchungen zu entnehmen sein wird, wenn sie zu Ende geführt sind, z. B.
die Frage: Wie stellt sich die Arbeit des Gehirns bei der Erlernung einer
fremden Sprache? Ist es richtig, diese Arbeit in so jungem Lebensalter,
wie es jetzt geschieht, mit dem neunten Jahre, mit voller Consequenz aus-
führen zu lassen, oder liegt nicht vielleicht gerade an der Stelle der Mangel
der Entwickelung, der nachher zu der Erscheinung führt, die jetzt mit
Ueberbürdung bezeichnet wird?
„Meine Herren, ich wollte an diesen Beispielen darthun, dass es nicht
ein leerer Schall sein soll, wenn ich in der These sage: Die Schulhygiene
wird am wirksamsten gefördert durch wissenschaftliche Erörterungen, welche
von Aerzten ausgehen, die über Schuleinrichtungen umfassende Beobach¬
tungen anstellen, und ich darf hinzufügen: das ist auch der Standpunkt
des preussischen Gutachtens. Auch das sagt an seinem Schlüsse: „Wir
möchten daher meinen, dass es an der Zeit sei, endlich einmal einen prak¬
tischen Anfang zu machen, und wenn nicht sofort im ganzen Staate, so
doch an einzelnen besonders geeigneten Orten, die Hauptfragen durch
Aerzte in Angriff nehmen zu lassen. Um ein Beispiel zu nennen, bietet
Berlin für alle Arten von höheren Schulen ein so reiches Feld, dass recht
wohl ein voll durchgeführter Versuch gemacht werden könnte, durch die
ärztlichen Organe die nöthigen Untersuchungen vornehmen zu lassen. Auf
diese Weise würde nicht bloss ein sofort zu verwertendes Material gewon¬
nen werden, sondern die königliche Staatsregierung würde sich auch über¬
zeugen können, ob in der That die Mitwirkung der Aerzte einen erheblichen
Nutzen gewährt.“
„Nun, meine Herren, die Consequenz der ersten These ist die zweite.
Wenn es in Bezug auf die Reformen der Schule, die einen physiologischen
Bezug haben, die anatomischen Untersuchungen erfordern, Fragen giebt,
über die wir alle einig sind, ja dann sehnen wir uns nach den Autoritäten,
die auf solche Fragen je nach dem gegenwärtigen Standpunkte der Wissen¬
schaft Antwort geben können, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den
Stand des gegenwärtigen Wissens und Forscbens in dieser Beziehung ken-
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 53
nen zu lernen, die dann mit ihrer eingehenden Kenntniss das Urtheil ab¬
geben können, wie es zur Zeit das mögliche ist. Darauf ist stets hinzuwirken,
dass diese Männer an bestimmten Stellen vorhanden sind, und die Pro¬
fessoren der Hygiene werden wohl die Männer sein, die hier zunächst in
Aussicht zu nehmen sind. Wenn diese da sind, dann wird sich das ganz
von selbst ergeben, dass ihr Rath in allen diesen Fragen eine wichtige
Rolle spielt, nur ist es nicht erforderlich, dass es Überall in allen Städten,
in allen Orten dergleichen Männer gebe, denn so kommen ja unsere Schal¬
einrichtungen, so kommen unsere Lehrpläne gar nicht zu Stande, dass sie
singulär an einzelnen Stellen gemacht würden. Da giebt es vom Staate
geordnete Centren und im Allgemeinen ist ja die Schulleitung so centrali-
sirt, dass in Bezug auf innere Einrichtungen das Ministerium das Centrum
ist. Von da aus werden die Einrichtungen vorgeschrieben, und wenn sie
specialisirt werden, so werden sie zunächst bei den Provinzialbehörden
specialisirt. Also das sind die Stellen, wo der ärztliche Rath einzuholen ist.
„Nun aber drittens: Der Herr Referent hat auch hervorgehoben, es
kommt nicht allein auf die Einrichtungen, es kommt darauf an, ob der
Betrieb normal ist, und da ist die Frage die: soll man das Vertrauen haben,
dass die Lehrer, dass die eigentlichen Schulaufsichtsbehörden diesen Betrieb
richtig leiten, oder ist dazu noch eine besondere ärztliche Aufsicht erforder¬
lich? Auch hier sind zwei Fragen zu trennen: die Frage von den höheren
Lehranstalten und die Frage von den Volksschulen. In dem einen Punkte
kann ich dem Gutachten der Deputation nicht zustimmen, dass es für den
Arzt, der von Zeit zu Zeit die Classe besucht, möglich sei, auch darüber
ein Urtheil abzugeben, ob je nach der Entwickelung dem einzelnen Knaben
mehr individuelle Freiheit gewährt werden müsse, ob dieser oder jener
Knabe von einigen Arbeiten, von einigen Stunden zu befreien sei. Ja,
meine Herren, wenn diese Individualisirung das Heil sein soll — und es ist
möglich, dass wir zu sehr generalisirt haben —, dann muss von Seiten der
Unterrichtsbehörde den Leitern der Schulen die Ermächtigung zu solcher
Individualisirung gegeben werden, da müssen die Prüfungsreglements ge¬
ändert werden. Das sind Fragen, die der Erörterung werth sind. Aber
die Beobachtung der einzelnen Individuen ist Sache der Lehrer, die täglich
mit ihnen verkehren, die ihre volle Entwickelung kennen; das kann nicht
durch ein einmaliges oder seltenes Beobachten geschehen. Nun kommt
gerade bei den Zöglingen der höheren Lehranstalten hinzu: Wenn Sie den
Arzt in die Schule schicken, um das Befinden der Zöglinge unter dem Ein¬
flüsse der Schulen zu beobachten, nicht etwa zu dem Zwecke, eine allge¬
meine Instruction zu geben — da würde gar nichts dagegen zu sagen
sein —, sondern dauernd, ja, meine Herren, da nehmen Sie ja der Familie
die Sorge, die ihr obliegt, und die Erziehung, die jetzt durch die Schule
hinreichend verstaatlicht ist, wird noch mehr verstaatlicht.
„Etwas Aehnliches tritt für die Volksschule ein, nur in anderem Sinne.
Bei der Volksschule ist ja im Allgemeinen von Ueberbürdung nicht die Rede;
da ist die Rede von der gehörigen Reinlichkeit, Lüftung, Helligkeit, Hal¬
tung, und nun sollen diese Dinge nicht der Beurtheilung der Lehrenden
und von Schulwegen Beaufsichtigenden unterliegen, sondern besonderen
ärztlichen Inspectoren! Ja, meine Herren, der Versuch ist allerdings
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54 Elfte Versammlung 4 D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
begonnen, soweit wir wissen, er ist begonnen in Paris, wie Ihnen Herr
Dr. Baginsky auch eben mitgetheilt hat, vom 1. Januar 4 J. ab; aber
man muss eine solche Instruction, wie die der Pariser Schulärzte, nur lesen,
um sich die Frage vorzulegen: Ist denn das ausführbar? und wenn es aus¬
führbar ist: Nehmen wir nicht den Schulen das, was sie für die Disciplin
am allerersten brauchen, die Autorität der Lehrer? Also der Schularzt,
der etwa 15 bis 20 Classen bekommt, soll monatlich zweimal jede Gasse
revidiren, er soll zunächst die Reinlichkeit des Hauses und der Anstalten
prüfen, die mit ihm verbunden sind, und darüber ein Protocoll aufnehmen,
er soll aber auch die einzelnen Kinder prüfen, und zwar diese mindestens
monatlich einmal nach Artikel 13 in Bezug auf Zähne, Augen, Ohren und
Gesnndheitszustand. Ja, wie viel Zeit er bei einer Gasse von 50, 60 dazu
braucht, wenn das einen Effect haben soll, das ist schwer zu Übersehen,
und was soll dann geschehen? Dann werden die Eltern benachrichtigt,
also wieder die Erziehung, die den Eltern gehört, in die Schule genommen.
Es ist sehr fraglich, wie weit denn für den Staat das Recht geht, sich um
die Kinder zu bekümmern, für die Erziehung, für die Bildung des Charak¬
ters zu sorgen. Wir sorgen auch für die Gymnastik, für die körperliche
Entwickelung, aber das hat Grenzen, die durch die geschichtliche Ent¬
wickelung gegeben sind. Es ist sehr bedenklich diese Grenzen noch weiter
auszudehnen. Ja, meine Herren, schliesslich ist die beste hygienische Ein¬
richtung eine gute Ernährung, und die Folge würde sein, dass die Schule
auch verpflichtet ist für gutes Essen und Trinken bei den Kindern zu sorgen.
„Aber, meine Herren, trotz aller dieser Widersprüche geben wir ja
doch zu und erstreben wir, dass die hygienischen Gesichtspunkte befolgt
werden müssen, und damit dies geschehe, und zwar so gut als es unsere
gegenwärtige Erkenntniss gestattet, halte ich es allerdings auch für wün-
ßchenswerth, bei uns in unseren Schulen, die in Bezug auf das Lehrpersonal
überhaupt dadurch charakterisirt sind, dass der Lehrer nicht ein Pensum
abarbeitet, sondern als ein Mann vor dem Schüler steht, ganz anders wie
in Frankreich oder England; ich sage, ich halte es für wünschenswerth,
dass diese Lehrer auch gehörig über die hygienischen Gesichtspunkte, über
die Hauptsachen, die wir als hygienische Lehrsätze auffassen können, in-
struirt sind, und da wird man wieder unterscheiden zwischen den Lehrern
der Volksschulen und den Lehrern der höheren Lehranstalten, weil bei
beiden verschiedene Fragen Vorkommen. Man wird also in den Seminarien
hygienischen Unterricht ertheilen, und man wird auf den Universitäten die
Gesichtspunkte mit vortragen, die auch maassgebend sind in der Entwicke¬
lung eines für das gelehrte Studium zu erziehenden Knaben. In dieser
Beziehung stimme ich nicht mit der Definition der Wissenschaft der Hygiene
überein, welche Herr Prof. Flügge gestern gegeben hat. Ich glaube nicht,
dass wir die Hygiene als eine Specialwissenschaft auffassen sollen. Sie hat
Specialfacher, die hat Herr Prof. Flügge ja aufgeführt, aber das Charak¬
teristische und das, was sie als ein gesundes Product redlichen Strebens
charakterisirt, ist, dass sie eine ganz grosse Zahl der verschiedensten
Specialuntersuchungen unter einem leitenden Gesichtspunkte zusammenfasst,
und wenn das geschieht und systematisch geschieht, so ist ein solches
System, so weit es in die Praxis eiuzuführen ist, auch lehrbar, und darum
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 55
ist es sehr wohl möglich, dass durch die richtige Vorbildung der Lehrenden,
sei es, dass sie vor dem Eintritte oder unmittelbar nach dem Eintritte in
das Amt erfolgt, mit grösserer Exactheit bewirkt werden kann, dass die
hygienischen Vorschriften erfüllt werden, als durch so periodisch wieder¬
kehrende Revisionen, die seitens der Aerzte vorgenommen werden.
„Ganz ausserhalb des Rahmens dieser Betrachtung liegt die Frage von
der Sicherung der Schule bei ansteckenden Krankheiten. Ja, meine Herren,
hierüber ist im Augenblicke kaum Veranlassung, näher zu discutiren, denn
da ist jetzt eben seitens des Ministeriums eine Vorschrift ergangen, welche
den Aerzten, den Kreisphysikern eine ausgiebige Mitwirkung in Bezug
hierauf ertheilt. Ich möchte fast sagen, diese Mitwirkung ist so scharf
präcisirt, dass die Schulleitung in der schnelleren Sicherung vor anstecken¬
den Krankheiten fast gehemmt ist, denn dass jetzt — Ausnahmefälle bei
Seite gelassen — zunächst immer der Kreisphysicus auch befragt werden
muss, wenn nur eine Classe geschlossen werden soll, das wird in sehr vielen
Fällen den Effect der Schliessung mindern. Wir scbliessen, wenn wir
beobachten, dass eine grössere Zahl von Schülern von ansteckenden Krank¬
heiten, Masern, Scharlach u. s. w., befallen ist, und indem wir in demselben
Moment scbliessen, wo die Beobachtung gemacht ist, hindern wir die Ueber-
tragung. Gehen aber mit Verhandlungen von Behörde zu Behörde erst fünf,
sechs Tage vorüber, so bat sich während der Zeit das Uebel fortgesponnen.
„Also dass hier in Bezug auf die Epidemieenfrage der Arzt in Betracht
kommt, dass der Arzt der Ratbgeber sein muss in Fragen, wo der Lehrer
selbst und die Schulleitung selbst zweifelhaft sind, das versteht sich von
selbst. Das geschieht auch jetzt und wird ferner geschehen; das ist
Bedürfhiss. Aber das giebt noch keine Veranlassung zur Creirung besonde¬
rer Schulärzte, und am allerwenigsten zur Beaufsichtigung der Schulen
durch Schulärzte.
„Meine Herren, wenn Sie die Entwickelung der Schulen verfolgen, so
werden Sie es nicht verwunderlich finden, dass die Schulen gegen den
Begriff der Beaufsichtigung etwas empfindlich sind. Die Beaufsichtigung
kann von den verschiedensten Seiten in Anspruch genommen werden; nicht
bloss die körperliche, sondern auch die geistige Entwickelung haben die
Schulen zu fördern, und die ärztliche Aufsicht von der einen Seite giebt
die religiöse Aufsicht von der anderen, und der Verantwortliche, das ist der
Schulleiter und der Lehrer. Dessen Lebensaufgabe ist es, dahin zu wirken,
dass die Zöglinge sich entwickeln, kräftig entwickeln, aber auch wider¬
standsfähig entwickeln, muthig entwickeln, in dem Ertragen von Schwierig¬
keiten geübt. Unsere jungen Leute sind zum grossen Theile nicht in der
Lage, jede medicinische Schädlichkeit im Leben zu vermeiden; sie müssen
hinein in den Kampf des Lebens, und dafür sie zu stählen, dazu ist die
Schule mit da, und darum können Sie es den Schulmännern nicht verdenken,
wenn sie bei aller Hochachtung für die physiologischen Untersuchungen,
bei allem Streben, von denselben für ihr Amt, für ihren Beruf den möglich¬
sten Vortheil zu ziehen, doch danach trachten, auf ihrem Gebiete die
Selbständigkeit zu bewahren.“
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56 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. off. Gsndpflg. zu Hannover.
Die von den Herren Referenten vorgelegten Thesen lauten wie folgt:
Thesen
des Referenten Herrn Dr. Baginsky.
1. Trotz der vielfachen Verbesserungen, welche sowohl die äusseren
Einrichtungen der Schulen, vtie auch die Gestaltung des Unterrichts¬
systems erfahren haben, gehen noch Schädlichkeiten aus dem Schul¬
besuche hervor, welchen der kindliche Organismus unterworfen ist.
2. Die Frage der Verbesserungen ist aus diesem Grunde keine rein
technische) von Architekten und Pädagogen zu lösende, sondern in
hervorragender Weise eine physiologische.
3. Daher gebührt dem Aerzte eine Stellung bei der Entscheidung der
Verbesserungen, welche bezüglich der äusseren Einrichtungen der
Schulen und des Unterrichtssystems einzuführen sind.
4. Jede der Schule Vorgesetzte Schulcommission soll gehalten sein,
einen sachverständigen Arzt als Mitglied zu haben.
5. Die Thätigkeit jeder Schulcommission im Ganzen, und diejenige des
Arztes im Speciellen, soll eine continuirliche sein. Periodische
Revisionen erfüllen den anzustrebenden Zweck nicht.
6. Keinem Mitgliede der Schulcommission kann das Recht absoluter,
selbständiger und entscheidender Thätigkeit, soweit dieselbe Aende-
rungen in der Gestaltung der Schule und des Unterrichtes bedingt,
zugestanden werden; — auch dem Aerzte nicht.
7. Jeder praktische Arzt kann Mitglied der Schulcommission werden,
sofern er durch ein Examen seine Befähigung erweisen kann. Das
Bestehen des Physicatsexamens giebt diese Befähigung.
Thesen
des Correferenten Herrn Stadtschulrath Professor
Dr. Bertram.
1. Die Schulhygiene wird am wirksamsten gefördert durch wissenschaft¬
liche Erörterungen, welche von Aerzten ausgehen, die über Schul¬
einrichtungen umfassende Beobachtungen anstellen.
2. Aerztliche Autoritäten sollen bei der Entscheidung allgemeiner Fra¬
gen und der Aufstellung von Normativbestimmungen über Schul¬
hygiene zu Rathe gezogen werden.
3. Für die praktische Durchführung anerkannter Normen der Schul¬
hygiene sind geeignete Instructionen für die Lehrer zweckmässiger
als schulärztliche Revisionen.
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 57
Der Vorsitzende eröffnet hierauf die Discnssion.
Sanitätsrath Dr. Graf (Elberfeld) glaubt, dass bei den scharfen
Gegensätzen, welche sich zwischen den Auffassungen und Anträgen des Herrn
Referenten und denen des Herrn Correferenten herausgestellt haben, wohl
kaum Aussicht auf eine Verständigung zwischen den differirenden Parteien
sei, wenn man sich nicht zunächst die Gründe der grossen Renitenz gegen
die Schulärzte, wie sie der Herr Correferent vorgeführt habe, klar mache.
Diese Gründe seien wesentlich die, dass die Lehrer sich besonders gegen
die persönliche Controle der Schule, gegen die Controle des Lehrers durch
den einzelnen Arzt sträuben. Einen grossen Theil dieser Bedenken löse
aber die wichtigste der Thesen des Herrn Dr. Baginsky, die vierte,
welche sage, dass jede der Schule Vorgesetzte Schulcommission gehalten
sein solle, einen sachverständigen Arzt als Mitglied zu haben. Der Ein¬
fluss, den der Arzt auf die Schule, auf ihre technischen Einrichtungen, auf
den Unterricht, auf die aus dem Zusammenfluss von vielen Menschen her¬
vorgehenden Schädlichkeiten etc. ausüben solle, solle sich nicht in einer
persönlichen Oberaufsicht, sondern in dem Rahmen einer Commission geltend
machen. Mit dieser Auffassung der Stellung eines Schularztes gehe man
einer Menge von Schwierigkeiten aus dem Wege. Dem Lehrer solle die
volle Verantwortlichkeit für die Schule überlassen bleiben, darum solle er
auch eine möglichst reiche hygienische Bildung haben; er solle nicht, in
allen seinen einzelnen Maassnahmen, in den Einrichtungen der Schule der
permanenten persönlichen Einwirkung eines Arztes unterstellt werden, von
dem er dann mit Recht die Gefahr befürchten könne, dass derselbe in ein¬
seitiger, persönlicher Auffassung Anordnungen treffen und sich in Dinge
einmi8chen könne, von denen er vielleicht viel weniger verstehe, als der be¬
treffende Lehrer oder Director. Wohl aber habe der Lehrer die Pflicht
und zwar in Folge staatlicher Anordnung, sich in seiner Thätigkeit einer
Commission unterzuordnen und in derselben seinen Standpunkt geltend zu
machen, und in dieser Commission solle sich auch die Thätigkeit des Schul¬
arztes vollziehen, der hier stets den Einfluss bekommen werde, den er ver¬
diene. Desshalb sei es zweckmässig, bei der etwaigen Aufstellung von
Thesen, gerade diese Auffassung zu betonen, dass man nicht etwa auf die
französische Art der Aufsicht, wie sie der Herr Referent mitgetheilt habe,
hinziele, und zu dem Zwecke schlage er vor, statt der These 4 des Herrn
Referenten zu sagen:
1. „Die Versammlung erkennt die volle Berechtigung der Forderung an,
dass in jeder Schulcoramission, bei welcher dies durchführbar ist,
ein Arzt Sitz und Stimme habe.
2. „Die Competenz dieses Arztes ergiebt sich aus den einer solchen Com¬
mission zustehenden und ihm durch dieselben übertragenen Befugnissen.
3. „Die den Staatsärzten durch ihre amtliche Stellung ertheilten Rechte und
Pflichten zu selbständigen Revisionen werden hierdurch nicht berührt/
Im Uebrigen erscheine es gerade in einer gemischten Versammlung
nicht zweckmässig, bei etwaigen Beschlüssen so sehr ins Detail einzugehen,
wie einzelne der Thesen des Herrn Referenten dies verlangen, man möge
lieber den ernstlichen Versuch zum Ausgleich darin suchen, dass man aus-
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58 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
spreche, die Thätigkeit des Schularztes soll sich zunächst nur in dem Rah¬
men einer Commission vollziehen.
Hinisterialrath Dr. Wasserfuhr (Strasshurg). Die Frage, in
welcher Weise eine sanitäre Ueberwachung der Schulen am zweckmässigsten
herbeizuführen sei, gehöre nicht der wissenschaftlichen Hygiene, sondern
dem Gebiete der Verwaltung an, und zwar sowohl dem der Schulver¬
waltung, wie dem der Medicinalverwaltung. Die Auferlegung der Schul¬
pflicht seitens des Staates bedingt für denselben auf der anderen Seite die
Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass dem Gesetze genügt werden könne
ohne besondere, aus dem obligatorischen Schulbesuch sich ergehende Schä¬
den für die Gesundheit der Jugend. Dazu bedürfe es einerseits prophylak¬
tischer gesetzlicher Verordnungen, welche, da es sich um gesundheit¬
liche Fragen handle, nach Maassgabe ärztlicher Wissenschaft und Erfahrung
abgefasst sein müssen, andererseits amtlicher Organe, welche die Be¬
folgung dieser Verordnungen beaufsichtigen und überwachen.
Die in ersterer Beziehung unter den Aerzten stattfindende Bewegung,
welche dahin gehe, Schäden von der Gesundheit der Schüler abzuwenden
durch Vorschriften der Behörden über gesundheitsgeinässe Wahl der Bau¬
plätze für Schulen, über die baulichen Einrichtungen der Schulgebäude und
Schulzimmer, deren Beleuchtung, Heizung, Ventilation, Abtrittsanlagen, Spiel-
und Turnplätze, über die Beschaffenheit der Schulbänke, die gesundheits¬
unschädliche Regelung des Unterrichts und die Verhütung ansteckender
Krankheiten unter den Schülern sei allgemein bekannt. Dieselbe sei zwar
noch keineswegs zum Abschluss gelangt; in Einzelfragen herrschen unter
den Sachverständigen noch manche abweichende Meinungen, begünstigt
durch die Mangelhaftigkeit exacter und namentlich statistischer Grundlagen
für die Beurtheilung der Einflüsse, welche die Schule auf die Gesundheit
der Schüler ausübe; im Allgemeinen aber habe sich im Laufe des letzten
Jahrzehnts bezüglich der wesentlichen Forderungen, deren Erfüllung die
wissenschaftliche Schulhygiene von den Behörden durch gesetzliche Vor¬
schriften verlange, ein grosses Einverständnis herausgebildet, und wenn
der Herr Correferent das Gegentheil behauptet habe, so sei dies mit Unrecht
geschehen. Die deutschen Schulbehörden haben ja bekanntlich auch mehr
oder weniger begonnen, jenen Forderungen in grösserem oder geringerem
Umfange auf dem Verordnuugswege gerecht zu werden, und dass dies ge¬
schehen sei, dürfe die Medicin, und besonders der jüngste Zweig derselben,
die Hygiene, sich mit Recht als Verdienst um das Volkswohl und die Civi-
lisation anrechnen.
Anders liege es mit der zweiten Aufgabe der Behörden, nämlich der
Sorge für die Befolgung der erlassenen schulhygienischen Vorschriften. Eine
solche Sorge finde zwar schon jetzt principiell statt, insofern es zu den all¬
gemeinen Aufgaben der Obrigkeiten gehöre, die Ausführung ihrer Verord¬
nungen zu beaufsichtigen und zu sichern. Diese Beaufsichtigung entbehre
aber zur Zeit einer festen Organisation und werde, falls sie überhaupt vor¬
genommen werde, ungenügend ausgeübt, weil sie in den Händen von Leh¬
rern liege, welche der erforderlichen medicinischen Einsicht und Sachkennt¬
nis fast immer entbehren, häufig aber an einer bedenklichen Halbwisserei
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 59
leiden. Der Arzt begegne desshalb fast in jeder Schule hygienischen Unter¬
lassungen und Missgriffen, welche der Gesundheit der Schüler zum Schaden
gereichen. Solle diesem Fehler abgeholfen werden, so bedürfe es bei der
Aufsicht über die bezüglich der Schulgesundheitspflege erlassenen Verord¬
nungen einer geordneten Mitwirkung sachverständiger Aerzte.
Eine solche Mitwirkung werde daher seitens der Aerzte in allen europäi¬
schen Culturstaaten immer allgemeiner und dringlicher als öffentliches Be-
dürfniss hingestellt, und der Herr Referent habe sich mit Recht dieser Be¬
wegung angeschlossen. Aber über den Umfang und die Organisation jener
Mitwirkung finden Meinungsverschiedenheiten statt.
Für die deutschen Verhältnisse frage es sich: l) Was soll ärzt¬
licherseits in der Schule und bei den Schülern beaufsichtigt
werden? 2) Was für Aerzte sollen die Beaufsichtigung vor¬
nehmen?
Vor Allem müsse in ersterer Beziehung Klarheit geschaffen und müssen
Grenzen gesteckt werden. Von manchen Seiten Beien die dem sogenannten
Schulärzte zu überweisenden Functionen so allgemein und unbestimmt for-
mulirt worden, dass ihm ausreichende Anhaltspunkte für seine Zuständig¬
keit fehlen. Von anderen Seiten aber werden für ihn Befugnisse in Anspruch
genommen, welche theils über das Gebiet der ärztlichen Wissenschaft hin¬
aus in das des Unterrichts eingreifen und desshalb Conflicte mit den Lehrern
und Schulvorstehern unvermeidlich machen müssen; theils nicht mehr in
das Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege, von welcher die Schulgesund¬
heitspflege nur ein Zweig ist, sondern in das der Privathygiene gehören, in¬
sofern sie den Schularzt viel zu speciell mit den Gesundheitsverhältnissen
der einzelnen Schüler befassen, und so zu Collisionen mit den Familien
sowie den Haus- und Privatärzten führen müssen. Eine Beaufsichtigung
der einzelnen Schüler seitens des Schularztes würde sich nur auf die
Beziehungen ihres Gesundheitszustandes zu den Schuleinrichtungen und zu
anderen Schülern erstrecken dürfen, niemals weiter. Die vorbezeichneten
Klippen müssen bei Formulirung der dem Schulärzte zu übertragenden
Functionen umschifft werden. Dieselbe müsse einerseits bestimmt genug
sein, um ihm als Richtschnur für seine Dienstthätigkeit dienen zu können;
andererseits müssen seine Aufgaben sachlich sowohl nach der Seite des
Unterrichts als nach der der Privathygiene hin begrenzt werden. Beides
werde am zweckmässigsten erreicht, wenn dem Schulärzte zunächst keine
andere Mission ertheilt werde, als die Aufsicht über die Befolgung der sei¬
tens der zuständigen Behörden bezüglich der Schulhygiene erlassenen all¬
gemeinen Vorschriften in den Schulen seines Amtsbezirks. Die Mittel die¬
ser Beaufsichtigung würden in periodischen, unter Zuziehung des Schulvor¬
stehers vorzunehmenden, Inspectionen der Schulen und in regelmässigen
kritischen Berichterstattungen über die Befunde an die obere Schulauf¬
sichtsbehörde bestehen.
Die zweite Frage sei, welche Aerzte als sogenannte Schulärzte fun-
giren sollen. In dieser Beziehung könne es keinem Zweifel unterliegen,
dass nicht jeder Arzt für ein solches Amt befähigt sei und dass nicht jeder
für sachverständige Ausübung desselben die nöthige Gewähr biete. Ein
Arzt, der amtlich öffentliche Gesundheitspflege ausüben solle, müsse seiue
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60 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
specielle hygienische Sachkenntnis nachgewiesen haben. Die dürftige
halbstündige Prüfung in der Hygiene bei Ablegung der ärztlichen Staats¬
prüfung sei kein genügender Nachweis derselben, wohl aber die in fast
allen deutschen Ländern eingeführte Befähigung zur Anstellung in der Me-
dicinalverwaltung als Kreisphysicus, Bezirksarzt, Kreisarzt u. dergl. Eine
blosse Prüfung in der Schulhygiene sei unzweckmässig, weil letztere nur
ein Theil der öffentlichen Gesundheitspflege und nur die Anwendung all¬
gemeiner hygienischer Grundsätze und Erfahrungen auf die speciellen Ver¬
hältnisse der Schule und der Schüler sei. Es folge hieraus, dass als Schul¬
ärzte in der Regel nur solche Aerzte bestellt werden sollten, welche eine
staatsärztliche Prüfung abgelegt haben, d. h. Medicinalbeamte, oder, wo
solche nicht zu haben seien oder nicht ausreichen, doch solche Aerzte,
welche ihre Befähigung zur Anstellung als Medicinalbeamte vorschrifts-
mässig nachgewiesen haben.
ln dieser Weise geordnet würde die sanitäre Inspection der Schulen
sich leicht und zweckmässig an die in den einzelnen Staaten bestehenden
Organisationen der MedicinalVerwaltung anschließsen, ohne mit der Schul¬
verwaltung zu collidiren. Sie würde im Wesentlichen eine instructions-
mässig geordnete Function der Medicinalbeamten werden, und man könne,
falls ein nach den vorbezeichneten Gesichtspunkten aufgestelltes Programm
vorgelegt werde, darauf rechnen dürfen, dass letztere dasselbe als ein an
die vorhandenen Einrichtungen sich anlehnendes, wohiausführbares, mit ge¬
ringen Kosten verbundenes, ernstlich prüfen und berücksichtigen werden,
während zu befürchten sei, dass den durch das öffentliche Interesse gebotenen
Anforderungen an eine sachverständige Beaufsichtigung der Schulhygiene
bei den maassgebenden Stellen keine Folge gegeben werden würde, wenn
jene Anforderungen zu unbestimmt oder zu weit gehend gehalten seien, oder
besondere, neue Verwaltungseinrichtungen und Beamtenstellen erfordern.
Gymnasialdirector Dr. Fulda (Sangershausen) findet, so verschie¬
den auch der Standpunkt der beiden Referenten zunächst erscheine, doch
darin eine Uebereinstimmung, dass beide eine gewisse Mitwirkung hygieni¬
scher Sachverständiger wünschen. Der Correferent, Herr Schulrath Dr.
Bertram, wünsche diese Einwirkung wesentlich bei der Feststellung von
Normativbestimmungen eintreten zu sehen, und es sei ja jedenfalls von
vornherein klar, dass hier eine solche Mitwirkung Bedürfniss sei. Was
speciell PreuBsen betreffe, so habe man zwar bereits manche einzelne Be¬
stimmungen auf diesem Gebiete, aber ein umfassenderes Regulativ über die
auf die Gesundheitspflege bezüglichen Einrichtungen der Schule sei noch
nicht vorhanden. Es liege in der Natur der Sache, dass ein solches Regu¬
lativ nur die allgemeinsten Grundzüge bieten könne. Das sei schon darin
begründet, dass eben, wie sehr treffend hervorgehoben worden sei, die Fra¬
gen, um die es sich handele, vielfach noch im Flusse befindlich seien, dass
ferner die localen Verhältnisse ausserordentliche Verschiedenheiten bedingen.
Dies scheine darauf hinzuweisen, dass doch auch eine persönliche Mitwir¬
kung der hygienischen Sachverständigen wünschenswerth sei. Eine solche
sei ja nun von dem ersten Herrn Referenten vorgeschlagen worden und er
stimme in dieser Frage im Wesentlichen mit der Auffassung des Herrn
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 61
Sanitätsrath Dr. Graf überein, müsse hingegen ganz entschieden eine specielle
Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt ablehnen, wie sie von Herrn
Ministerialrath Dr. Wasserfuhr soeben ins Auge gefasst zu sein scheine.
Wenn sich gegenwärtig noch heraussteilen sollte, dass die hygienische Aus¬
bildung der Lehrer und speciell der Dirigenten noch nicht der Art sei, dass
ihnen überlassen werden könne zu beobachten, in wiefern die von den Be¬
hörden erlassenen Bestimmungen im gewöhnlichen Verlaufe des Schullebens
ausgeführt werden, so dürfe man zu dem deutschen Lehrerstande doch das
Zutrauen haben, dass er mehr und mehr sich diese hygienische Bildung an¬
eignen werde, und der Lehrer, und speciell der Dirigent einer Lehranstalt,
müsse im Grossen und Ganzen auch auf diesem Gebiete die Hauptverant¬
wortung behalten. Aber es sei nicht zu verkennen, dass dennoch vielfach
eine persönliche Mitwirkung des hygienischen Sachverständigen sehr wün¬
schenswert sei. Selbstverständlich sei dies in den Fällen des Eintritts
von Epidemieen. Bei Neubauten liege die Sache so, dass es sich nur in
vereinzelten^Fällen um solche Neubauten handele, bei denen man einfach
nach Normativbestimmungen verfahren könnte, es handele sich in der weit
überwiegender^Mehrzahl der Fälle dagegen um vorhandene Gebäude und
damit zusammenhängende Veranstaltungen. Es komme also meistens auf
die Erwägung an, in wie weit man den idealen Forderungen auf Grund
der realen gegebenen Verhältnisse gerecht werden könne, und diese Frage
sei keineswegs im concreten Falle so leicht zu lösen und vielfach würde
die Sache so liegen, dass der Director in den Bestrebungen, die er auf die¬
sem Gebiete verfolge, eine wesentliche Stütze an dem hygienischen Sach¬
verständigen erhalte, wenn dieser in der betreffenden Schulcommission
Mitglied sei. Es kommen ferner in solchen Commissionen auch bezüglich
der PersonalverhältnisBe der Lehrer mannigfache Angelegenheiten vor, bei
denen es sehr wünschenswerth sei, dass der Arzt Mitglied einer solchen
Commission ist. Er würde also principiell durchaus wünschen, dass ein
Arzt Mitglied der Localcommission würde, aber auch von der Aufstellung
dieser Forderung dürfe man sich nicht zu grosse Erfolge versprechen. Er
habe einmal auf einer Directorenconferenz fast genau dieselbe These, wie die
hier vorliegende, gestellt, da habe der Director eines königl. Gymnasiums
erklärt: für ihn sei diese These bedeutungslos, an seiner Anstalt bestehe
kein Curatorium und keine Commission irgend welcher Art. Gleiches treffe
in Preussen für sämmtliche königl. Anstalten zu, auch für eine grosse Zahl
von städtischen höheren Schulen, bei denen keine Behörde zwischen Magi¬
strat und Schule stehe, bei denen demnach eine solche locale Schulcommis¬
sion nicht vorhanden sei. Also schon deshalb dürfe man einen durchgrei¬
fenden Einfluss bezüglich des höheren Schulwesens von dieser Forderung
nicht erwarten. Auf dem Gebiete des Volksschulwesens aber ergeben sich
ähnliche Schwierigkeiten; auf dem Lande z. B. gebe es zwar vielfach Schul.
Vorstände, aber es sei überhaupt kein Arzt da.
Nach derartigen Erwägungen schon scheine es zweckmässig, eine per¬
sönliche Mitwirkung des hygienischen Sachverständigen noch in einer ande¬
ren Form zu befürworten, die allerdings von Herrn Dr. Baginsky als
weniger günstig bezeichnet sei, nämlich in der Form der periodischen In-
spectionen. Es scheine ihm sehr wünschenswerth, wenn solche Persönlich-
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02 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
keiten, die sieb ganz besonders mit der Schulhygiene beschäftigt haben und
das ganze Gebiet derselben beherrschen, von Zeit zu Zeit in eine Schule
hineintreten und sich den ganzen Zustand derselben vom hygienischen
Standpunkte aus ansehen, also z. B. alle baulichen und sonstigen äusseren
Einrichtungen; aber auch der Eindruck, den die Schüler in gesundheitlicher
Beziehung machen, würde zu berücksichtigen sein. Ein solcher Sachver¬
ständiger werde sich natürlich auch genaue Auskunft über Epidemieen
geben lassen, die vorgekommen seien; er werde aus den Schultagebüchern
entnehmen können, welche Arbeiten aufgegeben werden und welche Zeit
etwa zur Anfertigung derselben erforderlich sei. So werde er sich nach
den verschiedensten Richtungen hin über die gesammten in hygienischer
Hinsicht bedeutungsvollen Verhältnisse eingehend informiren, er werde
dann im Verkehr mit den Lehrern und Directoren Anregungen zu Ver¬
besserungen geben können, er werde endlich, wenn er Missstände treffe,
die entschieden eine Abhülfe erheischen, auch mit grösserer Autorität auf
eine solche Abhülfe an zuständiger Stelle dringen können, als es den Orga¬
nen der allgemeinen Schulaufsicht möglich sei.
Es komme auf diesem Gebiete gewiss, wie mehrfach hervorgehoben sei,
ganz besonders darauf an, dass die Einrichtungen, die geschaffen werden,
auch von beiden Seiten als zweckmässig anerkannt werden, und in dieser
Beziehung sei in Bezug auf diesen Vorschlag einer periodischen Inspection,
die vielleicht nur alle 5 bis 6 Jahre eine höhere Schule zu berühren brauche,
noch ein Moment anzuführen, das Hoffnung gebe, dass gerade diese Art
der Einwirkung der hygienischen Sachverständigen auch auf Seiten der
Schulmänner gerne angenommen werde. Genau denselben Vorschlag habe
er auf der vorhin erwähnten Directorenconferenz 1880 in Magdeburg
gemacht, die aus etwa 40 Schulräthen und Directoren bestanden habe.
Anfangs seien demselben wesentliche Bedenken entgegengetreten, aber das
Ergebnis8 einer sehr eingehenden Debatte sei gewesen, dass derselbe gegen
vier Stimmen angenommen worden sei. Ferner mache er darauf aufmerk¬
sam, dass in Preussen schon etwas ganz Aehnliches auf einem verwandten
Gebiete vorhanden sei. Neben den allgemeinen Revisionen der Schule
durch die Schulräthe gehen Special re Visionen des Turnunterrichts einher,
die von Lehrern der Turnlehrerbildungsanstalt in Berlin, namentlich von
Herrn Prof. Euler, von Zeit zu Zeit vorgenommen werden, und die Er¬
fahrungen, die bei dieser Einrichtung gemacht seien, sprechen gewiss nur
für eine weitere Verfolgung dieses Weges der Specialinspectionen durch
hervorragende Sachverständige. Auch sei schon in den in Aussicht ge¬
nommenen Untersuchungen auf dem Gebiete der Angenhygiene an den ein¬
zelnen Anstalten, die vorhin schon erwähnt worden seien, ein ähnlicher
Weg ins Auge gefasst und so lasse sich hoffen, dass derartige periodische
Inspectionen, die ja, wie erwähnt sei, auch den in Württemberg thatsächlich
bestehenden Verhältnissen sich einigermaassen annähern, in der That von
segensreichem Einfluss sein werden.
Endlich sei noch darauf hinznweisen, dass der Vorschlag solcher In¬
spectionen sich leicht praktisch ausführen lasse. Wenn man auch etwa
zwei Tage auf die Revision einer Anstalt rechne , so werde doch ein ein¬
ziger Sachverständiger, der sich lediglich damit beschäftige, für sämmtliche
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 63
preussischen höheren Lehranstalten ansreichen; er würde in noch nicht
fünf Jahren durch den ganzen Staat herum kommen. Wenn es sich nun
auch schwerlich empfehlen würde, nur einen Sachverständigen zu wählen
und ihn lediglich mit diesen Inspectionen zu beschäftigen, so ergebe sich
doch aus dieser Betrachtung, dass die vorgeschlagene Einrichtung ohne
Anforderung allzu grosser Mittel ausführbar sein werde. Diese Ausführun¬
gen wolle er in folgenden drei Sätzen zusammenfassen.
1. „Es erscheint wünschenswerth, dass Normativbestiranmngen über die
auf die Gesundheitspflege bezüglichen Einrichtungen der Schule
unter Mitwirkung von hygienischen und pädagogischen Sachverstän¬
digen erlassen werden.
2. „Es ist darauf Bedacht zu nehmen, dass alle localen Schulcommissio-
nen einen Arzt zum Mitgliede erhalten.
3. „Auch die Einführung von periodischen hygienischen Inspectionen
der Schule durch solche Sachverständige, welche auf dem Gebiete
der Schulhygiene besonders erfahren sind, erscheint wünschenswert!].*
Santtätsrath Dr. Spiess (Frankfurt a. M.) glaubt durch seine jetzige
Stellung als Stadtarzt in Frankfurt a. M. die Berechtigung zu haben einige
Bemerkungen dem Gehörten hinzuzufügen. Es sei ja nicht zu leugnen,
dass von mancher Seite Uebertreibungen ausgegangen seien, von Aerzten
wie von Behörden, in Versammlungen wie in Lehrbüchern, die die Lehrer
hätten kopfscheu machen müssen. Er sei seit 1 Vs Jahren in Frankfurt
a. M. Stadtarzt, in welcher Stellung er durchaus nicht als Mitglied der
Sanitätspolizei, sondern lediglich als hygienischer Beirath des Magistrats
in allen communalen Sachen thätig sei und da sei neben der Armenver¬
waltung gerade die Schulverwaltung das Gebiet, auf welchem er am meisten
Gelegenheit gehabt habe, thätig einzugreifen. Ehe die Stelle geschaffen
gewesen sei und er Bie bekleidet habe, habe er vielfach mit befreundeten
Schuldirectoren die lebhaftesten Discussionen und selbst heftige Kämpfe
gehabt, weil die Directoren, und meist mit dem Hinweise auf das Baginsky’-
sche Lehrbuch, nicht ganz ohne Grund vor dem Schularzt Scheu gehabt
haben; jetzt, seit er die Stelle eines Stadtarztes — und der Stadtarzt in-
volvire vielfach ja auch den geplanten Schularzt — inne habe, sei die
Sache wie umgewandelt, mit den Directoren, mit denen er stets im Streit
gewesen sei, wenn die Rede auf den Schularzt gekommen sei, stehe er jetzt
auf dem besten Fusse und von sämmtlichen Directoren der 27 öffentlichen
Schulen Frankfurts, mit denen er in vielfachen amtlichen Verkehr trete,
werde er als eine Stütze und ein Rathgeber und keineswegs als ein Feind
angesehen. So arbeite er in der schönsten harmonischen Weise mit
ihnen zusammen und dürfe wohl sagen, dass er in den 1V 2 Jahren bereits
sehr viel habe leisten können, sowohl im Kreise der Schulbehörden als im
persönlichen Umgang mit den Directoren und Lehrern, die sich vielfach in
hygienischen Dingen direct an ihn wenden. Da die jetzigen Lehrer grossen-
theils an Seminarien oder Universitäten ihre Studien gemacht hätten zu
Zeiten, in denen man an Hygiene noch nicht gedacht habe, sei es nicht
zu verwundern, dass sehr Viele in hygienischen Fragen nicht zu Hause
seien, ein grosser Theil aber arbeite sich eifrig hinein und nehme jeden
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G4 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndptig. zu Hannover.
hygienischen Rath und Wink dankbar an. In Frankfurt lägen die Ver¬
hältnisse vielleicht besonders günstig, die Schulbehörde bethätige ein leb¬
haftes Interesse und reges Verstau dniss für alle sch ul hygienischen Fragen,
Frankfurt besitze eine grosse Reihe neuer Schulbauten, die allen Anforde¬
rungen der Hygiene entsprächen — Alles in erster Linie die Frucht der
rastlosen Thätigkeit Varrentrapp’s. Neuerdings sei auf Wunsch der Stadt¬
verordneten für eine Doppel Volksschule eine Concurrenz ausgeschrieben
worden und es seien 52 Pläne eingegangen; aber Neues habe man aus
ihnen nicht gelernt, alle besseren Pläne haben sich genau geglichen. So
fest stehend seien heutzutage die wesentlich auf die Forderungen der
Hygiene aufgebauten Grundsätze für Schulneubauten. Hier habe der
Schularzt wirklich nichts zu thun als aufzupassen, dass der Baumeister
nicht etwa aus architektonischen Rücksichten von den feststehenden hygie¬
nischen Forderungen abgehe und etwa die Pfeiler zu breit, die Fenster
nicht bis gegen die Decke reichend etc. entwerfe. Weit wichtiger sei hin¬
gegen die Thätigkeit des Schularztes bei der Ueberwachung der Schulen
in hygienischer Hinsicht und hier habe er in Frankfurt vielfach Gelegen¬
heit gehabt, auf sanitäre Missstände im Bau oder in der Handhabung auf¬
merksam zu machen und deren Abstellung soweit thunlich zu bewirken.
Immer aber habe er dazu bei den Directoren der betreffenden Schulen Ver¬
ständnis und Mitwirkung gefunden, da ihnen ja die Gesundheit der Jugend
nicht weniger am Herzen liege als dem Schulärzte. In Frankfurt bestehe so¬
mit der Schularzt und, wie er glaube, zum Nutzen der Schule, zum Nutzen
der Schüler und auch zum Nutzen der Lehrer. Wenn andere Städte in
ähnlicher Weise vorgingen und die Sache versuchten, würden die Aerzte bald
einsehen, dass die Schulmänner nicht so schlimm seien, wie die Aerzte sie oft
hinstellen, und die Aerzte nicht so schlimm, wie sie die Schulmänner ansehen.
Landesrath Fnss (Danzig) hat aus den bisherigen Verhandlungen
den sehr erfreulichen Eindruck gewonnen, dass eigentlich ein klaffender
Gegensatz zwischen den verschiedenen Ansichten im Grossen und Ganzen
nicht mehr existire, da die Lehrer erklären, mit lebhaftem Interesse von
Allem Kenntniss nehmen zu wollen, was die hygienischen Anforderungen
an das Schulwesen betreffe und um recht eingehende Instruction bitten, die
Aerzte andererseits versprechen, keine Uebergriffe machen, den Lehrern
die Freude am Lehrberuf nicht verleiden und, wie er hinzusetzen möchte,
auch den Communalbeamten das Leben nicht zu schwer machen zu wollen.
Wolle man aber an die Fassung von Thesen herantreten, wie sie von den
Herren Referenten vorgeschlagen worden seien, so werden sich unüber¬
windliche Differenzen zeigen und zwar desswegen, weil damit der Verein
in ein Element hineingreife, das seiner Competenz fern liege. Es handele
sich hierbei in erster Linie um eine Organisationsfrage, und dabei sei doch
nicht zu vergessen, dass der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheits¬
pflege es sei, der hier Beschlüsse fassen solle, die dann doch für ganz Deutsch¬
land, für die einzelnen Staaten des Deutschen Reiches Geltung haben sollen.
Wenn Herr Sanitätsrath Graf in seinen Thesen als die Quintessenz der
ganzen Frage die Forderung stelle, dass in jeder SchulcommisBion ein Arzt
Mitglied sein solle, so frage er, als Verwaltungsbeamter, was eigentlich eine
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt 65
Schulcommission sei. Sei damit eine locale Commission gemeint, eine
Commission an jedem Orte, wo eine Schule sei, dann sei das Postulat absolut
unausführbar; man denke nur an die Dorfschulen, speciell in den östlichen
Provinzen, wo oft kaum halbwegs gebildete Menschen seien und der Schul¬
lehrer der einzige Mann sei, der gewandt die Feder zu führen vermöge; da
werde eine solche Schulcommission schön ausfallen und ein Arzt, wenn er
überhaupt zu haben sei, werde sieb bedanken hier Mitglied zu werden.
Sei aber unter Schulcommission eine höhere Behörde zu verstehen, die,
nach preussischen Begriffen zu reden, am Orte der Kreis- oder Regierungs¬
verwaltung ihren Sitz habe, so sei das ja schon vorhanden, der Kreis-
phyöicus, der Regierungsmedicinalrath übe die verlangten Functionen aus.
Wolle der Verein aber beschliessen, in welcher Weise dieser Arzt seine
Functionen ausüben solle, ob als Mitglied einer Commission, ob nach
periodischen Revisionen, ob nach continuirlichen Revisionen, da lasse sich
kein Beschluss fassen, der für alle Theile des Vaterlandes passend sei. In
Sachsen existire der Bezirksarzt als besondere Behörde mit dem Recht
selbständiger Requisition, in anderen Gegenden, z. B. in Preussen, sei der
Arzt weiter nichts als eine begutachtende Instanz; und im Wesentlichen sei
man damit wohl zufrieden.
Er beantrage desshab, die Thesen, wie sie von den beiden Herren
Referenten aufgestellt worden seien, dankbar anzunehmen als Ausdruck des
Standpunktes, der auf der einen Seite wesentlich übereinstimmend von den
Aerzten, auf der anderen Seite von den Scbulmännern eingenommen werde.
Es sei ja sehr wünschenswerth, dass die Aerzte aussprechen, wie sie ihren
Einfluss allmälig zu gewinnen denken und andererseits sei es sehr zu wün¬
schen, dass seitens der Schulmänner und auch seitens der Verwaltungen
den ärztlichen Forderungen in ihnen zustehende Bedeutung beigemessen
werde. Sollte wirklich einmal in dem Eifer für hygienische Einrichtungen,
der, Gott sei Dank, bei den communalen und Staatsverwaltungen zur Zeit
rege sei, nachgelassen werden, dann sei die Zeit zu sagen, jetzt müsse dem
Arzte eine wichtigere Stellung eingeräumt werden. Für heute solle sich
der Verein mit einem non liquet begnügen und wünschen, dass der Eifer,
der für die hygienischen Einrichtungen überall zu Tage getreten sei, auch
zur That werden möge. Sein Antrag laute desshalb:
„Die Versammlung wolle von einer Beschlussfassung über die
vorgeschlagenen Thesen Abstand nehmen.“
Kreisphysicns Dr. Rapniund (Nienburg) kommt auf den von dem
Herrn Referenten am Schlüsse seines Vortrages zur Begründung seines Mahn¬
rufes, dem Arzte eine grössere Thätigkeit hinsichtlich der Ausübung der Schul¬
hygiene zu geben, berangezogenen Vergleich des Auslandes zurück und
speciell auf die Behauptung, dass Deutschland in Bezug auf die hygienischen
Einrichtungen und die deutsche Jugend in Bezug auf ihre körperliche Ent¬
wickelung wegen das Ausland zurückstehe. Diese Motivirung müsse er
entschieden als unrichtig zurückweisen. Es treffe durchaus nicht zu, dass
die hygienischen Einrichtungen an den deutschen Schulen schlechter seien
als im Auslande, was die Volksschulen betreffe, seien sie sogar besser, als
z. B. in Frankreich und England, wo man wohl in den grösseren Städten
Vierteljahrsfichrift für Gesundheitspflege, 1886. 5
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66 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
prachtvolle Schulen habe, wie sie Deutschland auch besitze, wo aber in
kleineren Orten die Volksschulen meist entschieden hinter den deutschen
zurückstehen. Noch viel weniger aber brauche die deutsche Bevölkerung
hinsichtlich ihrer körperlichen Entwickelung den Vergleich mit dem Aus¬
lande zu scheuen; denn was dieselbe an Ausdauer und Kraft zu leisten im
Stande sei, das habe vor 14 Jahren der Feldzug gezeigt.
Trotzdem sei er aber nicht im Entferntesten gegen eine grössere Be¬
rücksichtigung der Hygiene in der Schule und möchte ebenfalls dem Arzte
eine grössere Mitwirkung hierbei zuweisen, als dieser bisher in den meisten
Staaten habe. Wenn er hierin auch nicht so weit wie der Herr Referent
gehe, so sei ihm doch andererseits das, was der Herr Correferent Bertram
Vorschläge, viel zu wenig. Nach seiner Ansicht sei es unbedingt nöthig,
dass der Arzt nicht bloss in den oberen, sondern auch in den unteren
Instanzen bei der Schulhygiene mitwirke. Den oberen Behörden vor Allem
komme es zu, allgemeine Fragen bei der Aufstellung von Normativbestim¬
mungen zu entscheiden, und auf diese Weise dem Uebelstande vorzubeugen,
dass von dem einen Schulärzte so, von dem anderen umgekehrt entschieden
werde, wie dies z. B. bei infectiöscn Krankheiten, dem eventuellen Schliessen
der Schulen hierbei etc., wobei die Ansichten der einzelnen Aerzte noch
ziemlich aus einander gingen, der Fall sein könne. Wolle man eine er-
spriessliche Wirksamkeit des Schularztes in den betreffenden Schulcommis¬
sionen erreichen, dann sei es nöthig, ihm gerade für die wichtigsten Fälle
Normativbestimmungen an die Hand zu geben, die von anerkannten Auto¬
ritäten in den Oberbehörden erlassen seien und deren Ausführung der
Schularzt zu veranlassen und zu überwachen habe. Ohne eine solche
Commission und ohne einen in derselben befindlichen Schularzt werde jede in
hygienischer Hinsicht erlassene Bestimmung einfach auf dem Papier stehen
bleiben und von dem Lehrer nur zu häufig nicht beachtet werden.
Da zweifellos die meisten der Anwesenden darüber einig seien, dass
eine grössere ärztliche Thätigkeit bei Handhabung der Schulhygiene nöthig
sei und auch darüber, dass bestimmte Schulcommissionen zu schaffen seien,
in denen ein qualificirter Arzt Sitz und Stimme habe, so seien es eigent¬
lich nur die vorzunehmenden Revisionen, hinsichtlich deren die Ansichten
aus einander gehen. Wolle die Commission Einfluss auf die Hygiene der
Schule haben, dann sei es aber auch nöthig, dass sie Revisionen abhalte,
continuirliche oder periodische, und zwar durch den Schularzt in Gemein¬
schaft mit dem Schulinspector und einem Baubeamten, die sich dann gleich
über die hygienisch zu beanstandenden Punkte einigen könnten.
Desshalb beantrage er, der These 1 und 2 des Herrn Correferentcn
Bertram beizustimmen, statt der These 3 aber Zusagen;
„Für die praktische Durchführung anerkannter Normen der
Schulhygiene sind Schulcommissionen, in denen ein qualificirter
Arzt Sitz und Stimme hat, erforderlich, sowie geeignete Instruc¬
tionen für die Lehrer.“
Das Wort „qualificirter Arzt“ habe er gewählt, ohne näher zu bestimmen,
wann ein Arzt für dieses Amt als qualificirt zu erachten sei, da dies eine
Verwaltungssache sei und die Regierung allein darüber zu entscheiden und
die entsprechenden Bestimmungen zu treffen habe.
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 67
Obermedicinalrath Dr. Battlehner (Karlsruhe) bestätigt nach
seinen Erfahrungen, daßs bei dem besten Willen der Lehrer und Directoren die
für die Entwickelung der Kinder nöthigen hygienischen Bedingungen nicht
so gehandhabt werden, wie es sein sollte. Die Schule sei nicht, wie der
Herr Correferent meine, ein der Gesundheit günstiges Institut, sondern der
Schulbesuch habe vielfache sanitäre Nachtheile und diese durch stete ärzt¬
liche, sachverständige Beaufsichtigung der hygienischen Verhältnisse thun-
lichßt zu verringern, müsse das Hauptbestreben sein. Komme man in eine
Schule mit hoch hinaufgehenden Fenstern, die zur Lüftung vollkommen
hinreichen, so finde man die Fenster geschlossen, die Luft verdorben, dick
zum Schneiden; der Thermometer hänge an der Wand, aber die Tempe¬
ratur sei 23°, 24° und der Lehrer merke gar nichts davon. Hier müsse
Wandel geschaffen werden. Die nöthige Beaufsichtigung finde aber nicht
statt: zeitweise gehe der Bezirksarzt in die Schule, bei gewissen Gelegen¬
heiten auch die Referenten des Ministeriums selbst, aber das genüge nicht,
die Beaufsichtigung müsse eine stetigere sein.
In einer Conferenz der sämmtlichen Schuldirectoren des badischen
Landes sei die Frage zur Verhandlung gekommen und man habe sieb gegen
den sogenannten Aufsichtsratb, der allerdings auch noch andere Aufgaben
haben solle und in welchem ausser dem Arzte noch Männer anderer Stel¬
lungen Eintritt finden sollen, anfangs heftig gesträubt und zwar, wie der
Herr Correferent, hauptsächlich aus pädagogischen Gründen, man habe es
durchaus für nöthig gehalten, in der Alleinherrschaft, namentlich in Bezug
auf die Disciplin, nicht beeinflusst zu werden. Im Laufe der Discussion
aber, in der ausgeführt worden sei, dass selbst die höchsten Staatsbeamten
heutigen Tages eine gewisse Controle und nicht zum Nachtheil des Ganzen
sich gefallen lassen müssen und dass sich die Directoren in dieser Beziehung
nicht ausschliessen dürfen, und zwar weil durch die Beigabe eines Schul-
aufsiebtsrathes ihre Wirksamkeit in disciplinärer Beziehung nur von
grösserem Erfolg sein werde, habe sich die Stimmung der Directoren ge¬
ändert und schliesslich sei seitens der Directorenconferenz einstimmig die
Entschliessung angenommen worden, dass, wo es irgend möglich sei, für
jede Schule, auch für die Volksschule, Schulräthe geschaffen würden, denen
wenn thunlich, ein Arzt angehören solle und ferner, dass den Lehrern, so¬
wohl denen für das höhere Schulfach als denen für die Volksschule, während
ihrer Unterrichtszeit Gelegenheit gegeben werden müsse, Bich in Bezug auf
die Schulhygiene hinlängliche Kenntnisse zu verschaffen; ja es sei sogar in
Aussicht genommen worden, dass die Candidaten des Schulfaches in Zukunft
bei der Prüfung auch Zeugniss ablegen sollten, ob sie auf dem Gebiete der
Schulhygiene gehörig zu Hause seien.
Bfirgermeister Strnckmann (Hildesheim) constatirt, dass in der
Versammlung darüber Einverständniss herrsche, dass den Aerzten in Betreff
der Schulverwaltung eine Mitwirkung eingeräumt werden müsse, dass manche
Frage bei der Schulverwaltung ohne ärztlichen Beistand nicht gelöst werden
könne. Der Streit bestehe hauptsächlich darin, in welcher Form diese Mit¬
wirkung der Aerzte herbeigeführt werden Bolle und hier theile er viele der
von dem Herrn Correferenten hervorgehobene Bedenken. Die Sache müsse
5 *
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68 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
mit ganz ausserordentlicher Vorsicht an gefasst werden, damit nicht von
vornherein in dieser sehr wichtigen Angelegenheit Zwiespalt entstehe zwi¬
schen denen, die zunächst die ganze Schulverwaltung zu fuhren haben und
denen, die nur nach einer gewissen Richtung hin zur Einwirkung auf die
Schulverwaltung berufen werden sollen. Das Bedenken, das man dagegen
haben könne, dass Jemand in einzelnen Fragen der Schulverwaltung mit¬
zuwirken berufen werden solle, werde sehr bedeutend dadurch gehoben,
wenn dem Betreffenden eine Stellung in der Organisation der Schulverwal¬
tung überhaupt gegeben werde, da sich dadurch, dass der Arzt in der
Schulbehörde nicht immer lediglich vom Gesichtspunkte des Arztes aus zu
arbeiten habe, sondern als integrirender Bestandteil der Behörde auch für
die übrigen Gesichtspunkte mitverantwortlich sei, die Gegensätze am besten
ausgleichen. In Hildesheim sei z. B. in der Schulcommission der höheren
Töchterschule ein Arzt — weil er zufällig Bürgervorsteher sei — und hier
seien Differenzen bislang nie vorgekommen, die gemeinsame Arbeit schleife
die Differenzen ab. Eine solche Anwesenheit eines Arztes in der Schul¬
commission als allgemeine Forderung hinzustellen, das sei jedoch unmög¬
lich, da nicht überall Schul Commissionen seien und sein könnten, und wo
sie seien, seien sie vielfach gar nicht geeignet einen Arzt als Mitglied zu
haben. Ausserdem sei auch die erforderliche Anzahl von Aerzten wohl gar
nicht vorhanden und diese würden vielfach auch gar keine Lust haben, ein
solches oft sehr undankbares Geschäft neben einer vielleicht ausgedehnten
Landpraxis zu übernehmen, das sie mit Arbeit überlaste, ohne ihnen ein
für sie geeignetes Arbeitsfeld zu geben. Er halte es desshalb für bedenklich,
wenn der Verein eine ganz undurchführbare Forderung aufstelle, von der
jeder Verwaltungsbeamte sagen müsse, das sei von Leuten ausgearbeitet,
die nicht in der Verwaltung stehen und denen die Gonsequenzen nicht klar
gewesen seien. Wohl aber könne man den Satz so aufstellen:
„Es ist eine berechtigte Forderung, dass dem Arzte eine unter
Berücksichtigung der localen und sonstigen einschlagenden Ver¬
hältnisse näher zu ordnende Mitwirkung bei der Schulverwaltung
eingeräumt werde.“
Diese Mitwirkung brauche man sich ja nicht nothwendigerweise nur
in der Eigenschaft als Mitglied einer Schulcommission zu denken, wo eine
geeignete Schulcommission nicht sei, finde sich wohl eine andere Form, da
werde man den Arzt nur zu Gutachten auffordern, oder man werde ihm
vielleicht eine beaufsichtigende Stellung geben können, die einem Dorf¬
schullehrer gegenüber auch etwas viel weniger Unangenehmes haben werde,
als dem Director eines Gymnasiums gegenüber. Jedenfalls dürfe man die
Aufsicht oder Mitwirkung des Arztes bei einer Dorfschule und diejenige bei
einer höheren Schule in einer Stadt mit einem geordneten Schulwesen nicht
gleich behandeln, hier seien die localen Verhältnisse zu berücksichtigen
und die in den verschiedenen Gegenden ganz verschiedene Gesetzgebung.
Desshalb sei es wohl das Zweckmässigste, der Verein bestehe nicht auf dem
ärztlichen Mitgliede der Schulcommission und stelle nur die Forderung, der
wohl Alle zustimmen können, dass dem Arzte in irgend geeigneter Weise
eine Mitwirkung bei der Schulverwaltung eingeräumt werde, wie dies in
dem von ihm gestellten Anträge Ausdruck finde.
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt. 69
Stadtrath Marggraff (Berlin) glaubt die von Herrn Bürgermeister
Struckmann aufgestellte These sei wohl nur aufgestellt, um einen ein¬
stimmigen Beschluss der Versammlung herbeizuführen. Da die ganze Frage
aber, wie verschiedentlich hervorgehoben worden sei, eine wesentlich orga¬
nisatorische sei, da sich, in welcher Fassung eine Resolution auch angenom¬
men werde, Jeder je nach den örtlichen, ländlichen oder städtischen Ver¬
hältnissen und je nach der in seinem Lande gerade bestehenden Gesetzgebung
unter der Instanz, in der die Aerzte eingeführt werden sollen, etwas ganz
Anderes denke, da mit einer solchen Resolution eigentlich gar nichts gesagt
sei und jede Commune, jede Verwaltung damit doch machen könne, was sie
wolle, so wäre es wohl das Zweckmässigste, von jeder Beschlussfassung
Abstand zu nehmen; der Verein folge damit auch seiner bisherigen Praxis,
keine Resolutionen zu fassen.
Dr. med. Kalischer (Berlin) ist der Ansicht, der Verein müsse eine
gewisse Gleichmässigkeit in der Handhabung der Geschäfte zeigen, wenig¬
stens innerhalb einer Sitzungsperiode, und da gestern von einer Beschluss¬
fassung über die Thesen des Herrn Generalarzt Roth Abstand genommen
worden sei, weil es gegen den Gebrauch sei, so könne der Verein doch
heute nicht wieder anders beschlossen und von dem Gebrauch wieder
keinen Gebrauch machen; er schliesse sich desshalb der Ansicht des Herrn
Stadtrath Marggraff an.
Sanitätsrath Dr, Spiess (Frankfurt a. M.) tritt den Behauptungen
der beiden Herren Vorredner entgegen, dass es gegen die bisherige Praxis,
gegen den Gebrauch im Vereine sei, Resolutionen zu fassen und weist darauf
hin, dass der Verein sehr häufig Beschlüsse gefasst habe — er erinnere nur
an die Münchener Thesen über Bauhygiene, die in allen seit jener Zeit
erlassenen Bauordnungen Berücksichtigung gefunden hätten — und erst in
der letzten Zeit habe man öfters aus Zweckmässigkeitsgründen von Beschluss¬
fassungen abgesehen. Aber bedauerlich würde es sein, wenn der Verein
das Princip aufstellen wolle, dass gar keine Resolutionen mehr gefasst werden
sollen; diese Frage müsse in jedem einzelnen Falle nach Lage der Sache
für sich entschieden werden. Im vorliegenden Falle sei nicht Ein Redner
gewesen, den Herrn Correferenten nicht ausgenommen, der nicht in irgend
einer Form die Mitwirkung der Aerzte bei der Schulhygiene für nothwen¬
dig erklärt habe und der Verein müsse, wenn er nicht überhaupt von dem
Mitsprechen in solchen Fragen gänzlich abdanken solle, auch ein Urtheil
in dieser Frage abgeben. Der Grund, dass der Verein gestern keinen
Beschluss gefasst habe und desswegen auch heute keinen fassen dürfe, halte
er für durchaus hinfällig; der Verein habe gestern keinen Beschluss gefasst,
nicht weil es nicht Usus sei, sondern weil es ihm bei der vorliegenden Frage
nicht zweckmässig erschienen habe und heute fasse er vielleicht einen
Beschluss, wenn er es für die Frage forderlich erachte.
Stadtrath Hendel (Dresden) stimmt dem Vorredner vollständig bei;
seit acht oder neun Jahren, seit er dem Vereine angehöre, wisse er gar nicht
anders, als dass regelmässig Beschlüsse über die verhandelten Fragen gefasst
worden seien, wenn diese Fragen dazu angethan gewesen seien. Der Verein
verzichte auf alle grösseren praktischen Erfolge, wenn er keine Beschlüsse
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70 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. off. Gsndpflg. zu Hannover.
fasse; sonst käme es nur darauf hinaus, dieCongresse abzuhalten, um einige
akademische Vorträge zu hören, die Jeder ebenso gut gedruckt lesen könne.
Gerade in der Schulhygiene habe, wie der Herr Referent ja auch mit-
getheilt habe, der Verein wiederholt bereits Beschlüsse gefasst und er halte
es für sehr wünschenswerth, dass der Verein auch bei der vorliegenden Frage,
die eine eminent wichtige sei, zu einer Beschlussfassung komme.
Hiermit ist die Discussion geschlossen. Es erhalten das
Schlusswort
Referent Dr. Baginsky:
„Meine Herren! Sie dürfen nicht glauben, dass der Widerstreit der
Anschauungen zwischen mir und dem Herrn Correferenten so bedeutend ist,
wie dies aus der Gegenüberstellung der Thesen scheint. Private Unter¬
redungen haben es mir nicht unwahrscheinlich gemacht, dass ein Aus¬
gleich möglich ist. Daher vermeide ich an dieser Stelle eine eingehende
Replik der vielfach anfechtbaren Ausführungen des Herrn Correferenten und
hebe ausdrücklich hervor, dass mir nicht in den Sinn kommt, aus der Stel¬
lung der Aerzte in der Schule eine Machtfrage für dieselben zu machen.
Mir kommt es lediglich auf den Zweck, der hygienischen Normalgestaltung
der Schule an, und wenn dieselbe durch so vorzüglich hygienisch vor¬
gebildete Pädagogen erreicht werden kann, wie der Herr Correferent selbst
ist, so würde ich keinen Augenblick Anstand nehmen vorzuschlagen, dem
Pädagogen die Schule selbst zu überlassen. Leider fehlt aber einer sehr
grossen Anzahl von Pädagogen jede hygienische Kenntniss, ja oft selbst der
Sinn für die Gesundheitspflege. Ersparen sie es mir bei der vorgeschritte¬
nen Zeit diese Behauptung, die auf eigener Wahrnehmung beruht, zu bewei¬
sen. Weil dies aber so ist, wird man die Mitwirkung des Arztes in der
Schule nicht entbehren können. Ob man nun dem Arzte, als Schularzt, in
der Art und Weise, wie ich es ansgeführt habe, eine Stellung in der Schule
geben will, ob man andere Abgrenzungen der ärztlichen Competenz finden
will, halte ich für völlig gleichgültig. Wichtig ist einzig und allein die
Sicherstellung des ärztlichen Einflusses in der Schule. In diesem Sinne
bitte ich die verehrte Versammlung ihre Entschliessungen zu fassen.“
Correferent Stadtschulr&th Dr. Bertram:
„Meine Herren! Trotz der sehr freundlichen Captatio des Herrn
Referenten möchte ich doch hier wenigstens die Bitte aussprechen: Ver¬
meiden Sie das Wort „Beaufsichtigung durch den Schularzt“; daran liegt
sehr viel. Im Uebrigen, glaube ich, würden Sie die von mir vorgeschlagenen
Thesen eigentlich annehmen können, insofern Sie die Mitwirkung des Schul¬
arztes an höchst bedeutenden Stellen voraussetzen. Sie könnten vielleicht,
um die dritte These annehmbarer zu machen, die Worte fortlassen: „als
schulärztliche Revisionen“ und dann schreiben: „Für die praktische Durch¬
führung anerkannter Normen sind geeignete Instructionen für die Lehrer
wünschenswerth“ und damit abbrechen.
„Es ist mir fraglich, ob der Vorschlag des Herrn Bürgermeister Struck-
mann eine wesentliche Wirkung ausübeü wird, eben weil die Organi-
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Die hygienische Beaufsichtigung der Schule durch den Schularzt 71
sationen für diese Schulbehörden sehr verschiedene sind. Nehmen Sie unter
den Begriff Commission — ich weiss nicht, ob Herr Bürgermeister Struck -
mann gesagt hat Commission — nur die Ministerialinstanz oder die Pro¬
vinzialinstanz, so sagen Sie etwas, was schon besteht, denn die ziehen immer
den Arzt zu Käthe. Verstehen Sie darunter Schuldeputationen grosser Städte,
so sagen Sie auch etwas, was in der Regel stattfindet, denn fast alle der¬
artigen Schuldeputationen haben Aerzte als Mitglieder. Eine Organisation
der Schulen nach Kreisen, wie hier erwähnt wurde, haben wir ja aber nicht.
Die Schulen stehen nicht zunächst unter der Kreisverwaltung. Wir haben
zwar Kreisschulinspectoren; diese stehen aber unter der Regierung in
PreuBsen. In anderen Staaten werden sich noch wieder andere Organi¬
sationen zeigen. AIbo wenn Sie unter Commission die Schulvorstände der
einzelnen Schulen meinen, so wird damit nicht viel bewirkt werden. Jeden¬
falls aber möchte ich bitten, die Resolution so zu fassen, dass Sie dem Lande
der Schulen, das durch seine Schulen wirklich gross geworden ist, nun
schliesslich, nachdem es zu der Grösse gelangt ist, nicht in Bezug auf die
Schulen ein directes Misstrauensvotum geben. u
Es wird hierauf zur Abstimmung geschritten und zunächst der
Antrag des Herrn Landesrath Fuss, „von jeder Beschlussfassung abzu¬
sehen u , mit grosser Majorität abgelehnt. Sodann wurde auf Antrag des
Herrn Sanitätsrath Dr. Nötzel beschlossen, die verschiedenen Antragsteller,
die beiden Herren-Referenten, sowie die Herren Dr. Graf, Gymnasial-
director Dr. Fulda, Dr. Rapmund und Bürgermeister Struckmann,
zu ersuchen, sich über eine gemeinsame Fassung der Thesen zu verstän¬
digen und diese in der nächsten Sitzung ohne weitere Discussion zur
Abstimmung vorzulegen.
Schluss der Sitzung V 2 3 Uhr.
Nach Schluss der Sitzung traten die Herren Referenten und Antrag¬
steller mit Ausnahme des nicht mehr anwesenden Herrn Sanitätsrath Dr. Graf
zu einer Besprechung zusammen, in der sie sich über folgende Fassung der
Thesen einigten:
1. „Die Schulhygiene wird am wirksamsten gefordert durch wissen¬
schaftliche Erörterungen, welche von Aerzten ausgehen, die über
Schnleinrichtungen umfassende Beobachtungen anstellen.
2. „Aerztliche Autoritäten sollen bei Aufstellung von Normativbestim¬
mungen über Schulhygiene, sowie bei der Entscheidung allgemeiner
auf dieselbe bezüglichen Fragen zu Rathe gezogen werden.
3. „Behufs praktischer Durchführung anerkannter Normen der Schul¬
hygiene ist sowohl die hygienische Ausbildung der Lehrer als die
Mitwirkung dazu qualificirter Aerzte wün sehen swertb.“
Die so vereinbarten Thesen wurden zu Anfang der dritten Sitzung zur
Abstimmung gebracht und nahezu einstimmig angenommen.
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72 Elfte Versammlung d. D, Vereins f. öfF. Gsndpflg. zu Hannover.
Dritte Sitzung.
Mittwoch, den 17. September, Vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender Ober Ingenieur Meyer eröffnet die Versammlung mit
folgender Mittheilung:
„Meine Herren! Gestern, als wir uns zum Essen versammelt hatten,
kam ein Abgesandter des Comites für das Stromey er-Denkmal, Herr Bau¬
rath Köhler, zu mir und lud uns freundlichstein, an der Enthüllungsfeier
theilzunehmen. Die Enthüllung war aber auf 5 Uhr angesetzt, und so
gross die Sympathie unseres Vereins für das Stromey er- Denkmal ist, so
gern sich insbesondere die Aerzte betheiligt haben würden, und so gern
wir nachträglich in den Zeitungen mit vollem Interesse dem würdigen Ver¬
laufe der Feier gefolgt sind, so war es uns doch durch die freundlichen
Veranstaltungen, die insbesondere der Magistrat der Stadt gerade um die¬
selbe Zeit für das Wohl unseres Vereins getroffen hatte, die denn auch einen
so günstigen Verlauf genommen und uns belehrt und ernährt haben, nicht
möglich, an der Enthüllungsfeier theilzunehmen. Ich wollte das hier con-
statiren und das sympathische Interesse, welches unsere Versammlung der
Errichtung des Stromeyer-Denkmals entgegenbringt, hier ausdrücklich an
den Tag gelegt haben.“
Hierauf gelangen die auf Grund des gestrigen Beschlusses von den
Antragstellern in der Frage der ärztlichen Beaufsichtigung der
Schulen vereinbarten Thesen zur Verlesung und werden nahezu einstimmig
angenommen (siehe oben S. 71).
Sodann schreitet die Versammlung zur Neuwahl des Ausschusses.
Derselbe bestand bisher aus den Herren Staatsminister a. D. Hobrecht
(Berlin), Bürgermeister Dr. v. Erhardt (München), Ingenieur Professor
Rietschel (Berlin), Statthaltereirath Dr. Ritter v. Karajan (Wien),
Sanitätsrath Dr. Graf (Elberfeld), Generalarzt Professor Dr. Roth (Dresden)
und Sanitätsrath Dr. Spiess (Frankfurt a. M.).
Auf Antrag des Herrn Sanitätsrath Dr. Le nt (Köln) wurden durch
Acclamation, nachdem der Vorsitzende durch Abstimmung ausdrücklich
constatirt hatte, dasB von keiner Seite ein Widerspruch dagegen erhoben
werde, die folgenden Herren gewählt:
Staatsrainister Hobrecht, Excellenz (Berlin),
Bürgermeister Dr. v. Erhardt (München),
Sanitätsrath Dr. Graf (Elberfeld),
Statthaltereirath Dr. Ritter v. Karajan (Wien),
Bürgermeister Struckmann (Hildesheim),
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 73
welche in Gemeinschaft mit den Herren
Oberingenieur F. Andreas Meyer (Hamburg) als Vorsitzendem und
Sanitätsrath Dr. Spiess (Frankfurt a. M.) als ständigem Secretär
den Ausschuss für 1884 —1885 bilden werden.
Fs erhält hierauf das Wort zum Referat über den dritten Gegenstand
der Tagesordnung:
Vortheile und Nachtheile der Durchlässigkeit
von Mauern und Zwischenböden der Wohn-
räume.
Referent Rector Professor Dr. Recknagel (Kaiserslautern):
„Hochgeehrte Versammlung!
„Sie erinnern sich aus dem Vortrage des Herrn Prof. Flügge, dass
die Physik unter die HülfswisBen schäften der Hygiene gerechnet wird. Ich
möchte Ihnen heute ein Beispiel geben, in wie weit die Physik im Stande
ist, der Hygiene zu helfen.
„ProgrammmäBsig soll ich sprechen über die Vorth eile und Nachtheile
der Porosität, der Durchlässigkeit der Wände unserer Wohnungen. Glück¬
licherweise brauche ich die Sache nicht in der Weise einzutheilen, dass ich
etwa erst von den Vortheilen und dann von den Nachtheilen spreche, son¬
dern es giebt einen allgemeinen Gesichtspunkt, von welchem aus diese Vor¬
theile und Nachtheile ganz von selbst in die Augen springen werden. Dieser
allgemeine Gesichtspunkt ist die Theorie der Luftbewegung in den Gebäuden,
oder, wie man auch kurz zu sagen pflegt, die Theorie deB Luftwechsels.
„Wie auf vielen anderen Gebieten, so hat auch hier Pettenkofer
nicht nur etwa eine Anregung, sondern sogar einen recht kräftigen Anstoss
gegeben, indem er nämlich schon im Jahre 1858 über die Grosse des Luft¬
wechsels in seinem Arbeitszimmer Versuche anstellte. Er that das mittelst
einer von ihm selbst erfundenen Methode, der jetzt fast allgemein bekannten
Methode der Kohlensäurebestimmung, und kam zu dem merkwürdigen
Resultate, dass in einem Zimmer, welches 20° wärmer war alB seine Um¬
gebung, in der Stunde 95 cbm Luft ein- und ausgingen, also 95 cbm hinein
und zu gleicher Zeit 95 cbm hinaus.
„Als er denselben Versuch bei einer Temperaturdifferenz von 4° wieder¬
holte, fand er nur 22 cbm, so dass sofort eine Proportionalität zwischen der
Temperaturdifferenz des Zimmers und seiner Umgebung einerseits und der
Grösse des Luftwechsels andererseits angenommen wurde.
„Pettenkofer hat sich nun nicht auf die Constatirung dieses Luft¬
wechsels beschränkt, sondern er versuchte, unterstützt von zahlreichen
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74 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Schülern, in der Folge noch weitere Aufschlüsse über denselben Gegenstand
zu gewinnen.
„Insbesondere ist in dieser Zeit der Versuch gemacht worden, gewisse
Grenzen für die noch zulässige Stärke der Verunreinigung der Luft, wie sie
durch das Athmen der Menschen stattfindet, aufzustellen. Die Grenze, die
Pettenkofer hier anfgestellt hat, 1 pro mille Kohlensäuregehalt, ist nur so
zu verstehen, dass diese 1 pro mille die Grenze für die Verunreinigung der
Luft für den Fall sein soll, dass die Kohlensäure, die in die Luft hinein¬
kommt, nur durch das Athmen von Menschen hineingebracht wird. Also
Pettenkofer will keineswegs, wie das häufig missverständlich gedacht
wird, sagen, dass eine Luft, die 1 pro mille oder 2, oder 3, 4 pro mille
Kohlensäure enthält, gesundheitsschädlich ist, sondern er hat aus der Ein¬
wirkung, welche Luft, die diesen oder jenen Kohlensäuregehalt hatte, auf
seinen Geruchssinn, auf sein Wohlbefinden und auf den Geruch und das
Wohlbefinden Anderer aasübt, den Schluss gezogen, dass, wenn einmal der
Kohlen säuregeh alt der Luft 1 pro mille übersteigt, sie durch das Athmen
und die Ausdünstung der Menschen so verschlechtert ist, dass eine Erneue¬
rung derselben dringend geboten erscheint. So ist das zu verstehen. Keines¬
wegs hat man dabei gedacht, zu behaupten, dass eine Luft, welche so und
so viel Kohlensäure enthält, gesundheitsschädlich sei.
„In der Folge nach dem Jahre 1858 haben sich dann Wolffhügel,
Lang und Andere bemüht, Weiteres zur Beleuchtung des Gegenstandes bei¬
zutragen, theils durch literarische Arbeiten, indem sie weitere Kreise dafür
zu interessiren suchten, theils auch durch directe Forschungen.
„In diese Zeit fallen die wichtigen Versuche über die Durchlässigkeit
der Baumaterialien, wie sie insbesondere von Lang und Anderen angestellt
worden sind. Sie wurden in der Weise gemacht, dass man Stücke von ein¬
zelnen Steinen oder auch von Mörtel, selbst von Sand und dergleichen prä-
parirte, unter einem verhältnissmässig sehr starken Druck Luft durch
diese Stücke hindurchtrieb, und zu messen versuchte, wie viel Luft etwa in
einer Stunde durch ein solches Stück hindurchgepreBst wurde. Diese Ver¬
suche haben ein sehr merkwürdiges und eigentümliches, ganz gewiss un¬
erwartetes Resultat ergeben. Man nahm Drücke von 17 bis 20 mm Wasser,
also von 17 bis 20kg pro Quadratmeter, Drücke, die bei der natürlichen
Ventilation, wie wir sehen werden, kaum Vorkommen, und fand dabei, dass
die Durchlässigkeit dieser Baumaterialien ausserordentlich gering ist.
„Wenn man diejenige Definition der Durchlässigkeit eines Bau¬
materials annimmt, welche ich im Jahre 1878 gegeben habe, wonach man
unter Durchlässigkeit die Menge von Luft versteht, welche unter dem
Drucke eines Millimeters Wasser oder eines Kilogramms pro Quadratmeter
in einer Stunde durchgelassen wird, so bewegen sich alle die Zahlen, die
damals gefunden worden sind, in der zweiten Decimale, also 0*02, 0*05
u. dergl. Es wird sich zeigen, dass sich aus diesen Zahlen kein derartiger
Luftwechsel, wie ihn Pettenkofer gefunden hat, erklären lässt, und wir
werden also darauf zurückkommen, dass es nicht die eigentlichen Bau¬
materialien sind, welche den Luftwechsel vermitteln, sondern dass es viel¬
mehr die zwischen ihnen bei ihrer Aneinanderfügung gebliebenen Ritzen,
Fugen u. s. w. sind, denen wir den Luft Wechsel verdanken.
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 75
„In diese Zeit zwischen 1858 und der Gegenwart fallt auch der Nach¬
weis, dass ein physikalisches Gesetz, welches schon längst als gültig für den
Luftdurchgang durch capillare Röhren bekannt ist, auch für den Durchgang
der Luft durch die Poren der Wände Gültigkeit besitzt. Es wurde nämlich
an denselben Stücken, welche zur Bestimmung der Durchlässigkeit dienten,
Versuche unter verschiedenem Drucke gemacht, und es zeigte sich, dass
die Menge der unter diesen verschiedenen Drücken durchgegangenen Luft
einfach dem an ge wendeten Drucke oder besser dem Ueberdrucke von der
einen Seite gegen die andere Seite proportional ist, so dass also bei 2-, 3-,
4 mal so grossem Drucke auch die 2-, 3-, 4 fache Luftmenge hindurch¬
getrieben wird.
„Ohne Druck geht natürlich nichts durch, das folgt sofort aus diesem
Gesetz. Also man kann sich nicht etwa denken, dass die Luft von selbst
durch die Poren durchgeht, etwa zu ihrem Vergnügen oder zu ihrer Unter¬
haltung; von selbst geschieht gar nichts, die Luft kann sich von seihst
nicht in Bewegung setzen, am allerwenigsten aber bemüht sie sich, durch
unsere Baumaterialien hindurchzudringen, sondern es muss ein statischer
Druck vorhanden sein, welcher die Luft hin durch treibt. Die Bewegung der
Luft ist ja eine Wirkung, und eine Wirkung muss eine Ursache haben.
Wenn wir also sehen, dass sich ruhige Luft plötzlich in Bewegung setzt,
um durch Ziegelsteine hindurchzugehen, so werden wir nothwendig auf
Kräfte schliessen müssen: die Luft geht nicht durch die Ziegelsteine, die
Luft geht nicht durch unsere Wände, sondern sie wird durchgedrückt und
muss durchgedrückt werden.
„Mit diesem Resultat über die Durchlässigkeit und mit diesem Gesetze
der Durchlässigkeit konnte man doch immer noch nichts Rechtes anfangen.
Es fehlte an einem Messinstrumente, um die geringen Drücke, welche die
Luft durch die Poren hindurchtreiben, nach zu weisen, und es fehlte in der
Folge auch an der Erkenntniss, in welcher Weise man sich diesen Durch¬
gang der Luft zu denken hat, in welchem der Luftwechsel besteht.
„Ich glaube, der guten Meinung, die meine Freunde von meinen eigenen
Leistungen in dieser Beziehung haben, verdanke ich die Ehre, heute vor
Ihnen zu sprechen.
„Es ist mir nämlich gelungen, die betreffenden Instrumente wirklich
herzustellen und die bereits bestehenden soweit zu verfeinern und zu ver¬
bessern, als es für diese Zwecke der Messung von Drücken, die sich inner¬
halb eines Millimeters Wasserhöhe bewegen, erforderlich ist.
„Dann ist es mir auch gelungen, mit Hülfe dieser Instrumente zu
finden, wie die Bewegungen vor sich gehen.
„Meine ersten Darstellungen des Gegenstandes in den Schriften der
Münchener Akademie und in der Zeitschrift für Biologie sind zwar in
mathematischer Form gehalten, die Sache selbst ist aber keineswegs noth¬
wendig mathematischer Natur, sondern sie ist einer grossen Popularität
und Deutlichkeit fähig, und ich wünsche sehr, dass es mir gelingen
möchte, mich heute so deutlich auszudrücken, wie ich glaube, dass es
erreichbar ist.
„Schon aus den Versuchen von Pettenkofer geht hervor, dass die
Grösse des Luftwechsels in einem ganz engen Zusammenhänge mit der
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76 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Temperaturdifferenz steht, also mit dem Temperaturunterschiede zwischet
dem Zimmer, welches den Luftwechsel haben soll, gegenüber dem Freien.
Wie kommt man nun von der Temperatnrdifferenz zwischen den Luftmassen
auf die Kraft, welche die Luft bewegt und sie in das Zimmer hinein- und
wieder herausdrücken soll? Das geht auf folgende Weise: Wir wissen, dass
die Luft auf zweierlei Art kräftig gemacht oder mit Kräften ausgestattet
werden kann, oder, wie man sich gewöhnlich ausdrückt, dass die Spannkraft
der Luft auf zweierlei Art erhöht werden kann, einmal, indem man die
Luft dichter macht als sie vorher war, und zweitens, indem man sie
wärmer macht: Vermehrung der Dichtigkeit und des Wärmeinhaltes der
Luft sind die Ursachen, durch welche sie spannkräftiger, kräftiger, stärker
gemacht wird.
„Das eine Gesetz von der Dichtigkeit wird bekanntlich dem holländi¬
schen Seecapitän Mariotte zugeschrieben, und das andere über den Ein¬
fluss des Wärmeinhalts der Luft auf ihre Spannkraft verdanken wir dem
berühmten Gay-Lussac, der im Anfang unseres Jahrhunderts gelebt hat.
„Die Natur selbst giebt uns ein merkwürdiges Beispiel für den Fall,
wo durch Vermehrung der Dichtigkeit die Luft spannkräftiger wird. Wir
leben nämlich auf dem Grunde eines grossen Luftmeeres, das eine Tiefe von
etwa 9 Meilen besitzt. Diese Luftsäule von 9 Meilen von der Erdoberfläche
bis an die Grenze der Atmosphäre besitzt ein ganz erhebliches Gewicht,
und drückt nun mit ihrem Gewicht die Luft, die sich zunächst dem Erd¬
boden beflndet, an die Erde an. In Folge dieses starken Druckes, der
durch das Gewicht der Atmosphäre selbst verursacht wird, besitzt nun die
Luft unserer Umgebung, welche sich zusammennehmen muss, um dem Drucke
der oberen Luftschichten das Gleichgewicht zu halten, eine solche Dichtig¬
keit und eine solche Expansivkraft, dass sie auf jedes Quadratcentimeter
mit der verhältnissmässig sehr grossen Kraft von 1 kg drückt, was auf das
Quadratmeter schon 10 000 kg ausmacht. Wenn wir auf einen Berg
steigen, lassen wir einen Theil der drückenden Luftmasse hinter uns zurück,
und wir bemerken, dass zugleich die Spannkraft der Luft abnimmt oder
dass das Barometer fällt. Auf dem Gipfel eines Berges steht das Barometer
niedriger, als unten am Fusse desselben. Das kommt daher, weil das Ge¬
wicht der Luftmasse, die zwischen dem Gipfel des Berges und der Ebene
liegt, oben nicht mitdrückt. Ich muss hier diese einfachen physikalischen
Gesetze erwähnen, denn in ihnen liegt theilweise die Erklärung des
Folgenden.
„Wenn es nun zwei Ursachen giebt, grosse Dichtigkeit und Wärme¬
inhalt, welche beide dahin wirken, die Luft stark, spannkräftig zu machen,
so lässt sich ja recht wohl der Fall denken, dass wärmere Luft mit kälterer
Luft gleich kräftig ist. Das kann aber nur unter der Bedingung
stattfinden, dass die wärmere Luft weniger dicht ist. Also
eine warme, weniger dichte Luft kann mit einer kalten dichteren Luft im
Gleichgewichte sein, sie kann mit ihr gleich spannkräftig sein.
„Nun, wenn das so ist, so könnte man sich ja wohl denken, dass die
warme Luft in einem Gebäude mit der kalten Luft, die sich ausserhalb
desselben beflndet, im Gleichgewichte sei; dass sie also beide durchaus nicht
auf einander drücken oder reagiren. Man braucht sich nur den einfachen
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 77
Fall zu denken, dass die warme Luft innerhalb des Gebäudes dünner ist,
als die kalte ausserhalb, und wenn man sich nun gar überzeugt hat, dass
das auch wirklich der Fall ist, so könnte man zu dem Schlüsse kommen: Ein
Luftwechsel sei eigentlich hier nicht nöthig, es sei nicht nöthig, dass da
Kräfte vorhanden sind, mit denen die warme auf die kalte oder die kalte auf
die warme Luft drückt, es können beide ganz gut im Gleichgewichte sein.
„Hier liegt nun der für das Verständniss wichtigste Punkt, hier ist der
Knoten; über diesen Knoten ist man früher nicht hinaus gekommen. In
Folge dessen haben über die Art des Luftwechsels allerhand Vorstellungen
existirt, welche durchaus keine Berechtigung haben. Z. B. dachte man sich,
dass die Luft durch die ganze aufrechte Begrenzung in das Zimmer hinein¬
geht und nur durch die Decke hinaus; ich will hier nicht näher auf die
specielle Widerlegung dieser Vorstellung eingehen, weil dieB schon hin¬
reichend an anderer Stelle geschehen ist. Es ist unmöglich, dass der Luft¬
wechsel in dieser Weise vor sich geht, wie
sich auch aus dem Folgenden ergeben
wird.
„Wenn man nämlich näher zusieht, so
bemerkt man, dass das Gleichgewicht
zwischen einer warmen und einer kal¬
ten Luftsäule nur in einer einzigen
horizontalen Ebene möglich ist.
„Nehmen wir an, AB (Figur 1) sei
die Grenze zwischen der kälteren und der
wärmeren Luft — wir können uns ja
gleich die warme Luftsäule in einem Zim¬
mer denken und die kalte Luft, die durch
die Wand AB von jener wärmeren ge¬
trennt ist, im Freien. Nehmen wir an,
diese beiden Luftsäulen seien in irgend
einer horizontalen Schicht NH im Gleich¬
gewichte, so kann das, wie ich schon
bemerkt habe, nur der Fall sein, wenn die
wärmere Luft weniger dicht ist als die käl¬
tere. Wäre sie nämlich ebenso dicht oder
dichter, so wäre sie der kälteren an Spannkraft überlegen und könnte nicht
mit ihr im Gleichgewichte sein. Gehen wir nun von dieser einen horizon¬
talen Ebene H , wo unserer Annahme gemäss Gleichgewicht herrschen soll,
abwärts, so kommen wir rechts durch dünnere, leichtere Luft als links, und
da nun beim Abwärtssteigen der Luftdruck immer um das Gewicht der
zurückgelegten Luftschicht wächst, so muss überall unterhalb der neu¬
tralen Linie NH die kältere Luft der wärmeren an Druckkraft überlegen
sein, und es drückt überall unterhalb der neutralen Linie die kalte Luft
in die warme hinein — da haben wir also schon Kräfte.
„Sie sehen auch ganz leicht, dass diese Kräfte nach unten hin wachsen
müssen, denn je weiter wir hinunter gehen, desto grösser muss ja der
Unterschied zwischen dem Gewichte der kalten und dem Gewichte der
warmen Luftsäule werden. Deswegen nehmen die Ueberdrücke von der
Fig. 1.
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78 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. au Hannover.
neutralen Linie NH nach unten hin stets zu, und zwar dürfen wir bei den
kleinen Dimensionen, die wir in unseren Zimmern haben, annehmen, dass
das Wachsen gleichmässig, linear stattfindet, so also, dass man die Ueber-
drücke durch eine gerade Linie wie HU begrenzen kann. Nun haben wir
schon etwas gewonnen: dass nämlich unterhalb der neutralen Grenzlinie
die kalte Luft in das Zimmer, in dem sich warme Luft befindet, mit nach
unten hin gleichmässig wachsender Stärke hineindrückt.
„Wie wird es nun oberhalb sein? Oben erheben wir uns rechts um
eine dünnere Schicht, ebenso wie wir vorher rechts an einer dünneren
Schicht abwärts gegangen sind.
„Indem ich eine dünnere Schicht nach oben durch messe, nimmt der
Luftdruck weniger ab als da, wo ich eine dichtere Schicht zurücklege, also
nimmt der Luftdruck rechts weniger ab als links. Abnehmen muss er auf
beiden Seiten, denn er nimmt immer ab um das Gewicht der zu durch-
messenden Luftschicht, aber da rechts die Luft dünner ist, so nimmt er
rechts weniger ab als links, und in Folge dessen muss er rechts überall
stärker bleiben als links. Denn wo die Abnahme geringer ist, da ist der
grössere Rückstand, und nun muss oberhalb der neutralen Linie überall die
wärmere Luft über die kältere Ueberdruck haben, sie ist überall kräftiger
als die kältere, und ich kann also einfach diese Linie nach oben verlängern
und durch sie die Pfeile begrenzen, welche den Ueberdruck der wärmeren
Luft über die kalte andeuten. Das sind also die Kräfte, welche längs einer
verticalen Wand thätig sind.
„Wie steht es nun mit den horizontalen Wänden, mit den Fussböden
und den Decken? Nun, die Druckverhältnisse am Boden und an der Decke
können nicht anders sein, als an der untersten und obersten Grenze der
verticalen Wände, denn der Druckunterschied rührt ja von der Beschaffen¬
heit der Luftschichten her, welche zu beiden Seiten, aussen und innen an
dieser Stelle anliegen. Wenn Sie sich nun hier bei B einen Boden angesetzt
denken, so hat erstlich die Luft längs des ganzen Bodens gleiche Spann¬
kraft, ebenso hat sie längs der ganzen Decke gleiche Spannkraft, denn ihre
Spannkraft ändert sich bloss mit der Höhe, mit dem Aufsteigen oder Ab¬
wärtsgehen und zwar dadurch, dass Schichten von einem gewissen Gewichte
zurückgelegt werden: Diese Spannkraft ist, wenn wir uns den Boden als
eine durch B gelegte Horizontalebene denken, inwendig gleich der Spann¬
kraft der untersten inneren Luftschicht, auswendig gleich der höheren
Spannkraft der untersten äusseren Luftschicht, also ist auch der Unter¬
schied beider Spannkräfte gleich dem an der untersten Stelle der aufrechten
Wand bestehenden, durch den Pfeil B U angedeuteten Ueberdrucke, und es
gilt der Satz:
„Mit der gleichen Stärke, mit welcher die Luft durch den
untersten Theil der aufrechten Begrenzung hinein drückt,
drückt sie auch durch den Boden hinein. Ebenso drückt sie
durch die Decke mit derselben Stärke heraus, mit der sie
durch den obersten Theil der aufrechten Wand herausdrückt.
„Ich will, um eine Uebersicht über die ganze Vertheilung der Druck¬
kräfte zu geben, die Zeichnung in einem etwas kleineren Maassstabe wieder¬
holen (Fig. 2).
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Kalt
Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 79
„Diese ganze Druckvertheilung ist nothwendig, wenn irgendwo in der
aufrechten Begrenzung die Luft des Zimmers wirklich mit der äusseren,
freien Luft im Gleichgewichte ist.
„Nun lässt sich überdies ganz streng beweisen, dass die Luft von je¬
dem Anfangszustande aus, in welchem wir uns das Zimmer denken, von
selbst dieser Druckvertheilung als dem allein möglichen Beharrungszu¬
stande zustrebt.
„Wir wollen uns einen einzigen solchen Fall vorstellen, wie er that-
sächlich vorliegen würde, während ein porös begrenzter, geschlossener Raum
durch eine starke Wärmequelle in sehr kurzer Zeit auf eine höhere Tempe¬
ratur gebracht wird.
„Denken Sie sich nämlich, überall im Zimmer sei die Luft stärker,
spannkräftiger als aussen. Wenn die Luft überall im Zimmer kräftiger
ist als aussen, so drückt
Fig * 2 ' sie sich zunächst durch
alle Poren hinaus, und
es wird also durch alle
Fugen und Poren Luft
hinausströmen. Was ist
die unmittelbare Folge
davon ? Dass die Luft
im Zimmer dünner wird
lind folglich auch ihre
Spannkraft abnimmt und
sich der als schwächer
vorausgesetzten Spann¬
kraft der äusseren Luft
fortwährend nähert. Es
wird so lange ein Hin¬
ausströmen durch alle
Poren stattfinden, bis an
irgend einer Stelle ein
vollkommener Ausgleich
der Spannkräfte eingetreten ist. Die Luft wird sich also schliesslich an
irgend einer Stelle mit der äusseren Luft ins Gleichgewicht setzen.
„Es ist nun allgemein ganz klar, dass diejenige Stelle, an welcher
sich das Gleichgewicht auf die Dauer festsetzt, nicht etwa an der
Decke oder am Boden liegen kann. Denn läge das Gleichgewicht an
einer dieser Grenzflächen, so würde an dieser selbst keine Luftbewegung
stattfinden, die ganze übrige Begrenzung aber würde unseren vorhin an-
ge8teilten Betrachtungen gemäss nur in einem Sinne thätig sein, d. h. ent¬
weder ausschliesslich Luft hinauslassen oder ausschliesslich Luft herein¬
lassen, was wegen der damit nothwendig verbundenen Veränderung der
Dichtigkeitsverhältnisse kein Dauerzustand sein kann.
„Dauerhaft kann vielmehr nur derjenige Zustand sein,
bei welchem zu gleicher Zeit Luft einströmt und ausströmt
und die einströmende Menge der ausströmenden gleich ist.
Ein solcher Zustand ist nur dann möglich, wenn die neutrale oder Gleich-
Kalt
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80 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
gewichtslinie in der aufrechten Begrenzung liegt. Es stellt somit aus
theoretischen Erwägungen Fig. 2 nicht nur eine mögliche, sondern die
unter Voraussetzung eines Dauerzustandes allein mögliche
Thätigkeit derjenigen Kräfte dar, welche den durch Temperaturunter¬
schiede bedingten Luftwechsel bewirken. Indessen kann das Vorhandensein
einer neutralen Zone auch experimentell bewiesen werden, und zwar da¬
durch, dass man bei Windstille von dem einen Schenkel eines empfindlichen
Manometers aus einen Schlauch nach und nach in verschiedener Höhe
einer an das Freie grenzenden aufrechten Wand ansetzt; man findet dann,
dass der Druck der Luft, wenn das Zimmer warm ist, ganz unten jeden¬
falls in das Zimmer hineingerichtet ist, während er ganz oben aus dem
Zimmer hinausdrängt. Im Uebrigen zeigt er in der verticalen Begrenzung
verschiedene Stärke, die zunächst von unten nach oben abnimmt, dann
umschlägt und sich in einen aus dem Zimmer hinaus gerichteten Druck
verwandelt, während, wenn Sie an verschiedenen Stellen des Bodens das
Manometer ansetzen, oder an verschiedenen Stellen der Decke, der Druck
sich überall gleich bleibt und genau in der Grösse, wie er an der höchsten
Stelle der verticalen Begrenzung vorhanden ist.
„Ich glaube, das ist eine Erkenntniss von der allergrössten Wichtig¬
keit, nämlich die Erkenntniss, dass überden ganzen Boden hin der Druck in
das Zimmer hinein gleich gross ist, und so gross, wie er da ist, wo er an
der verticalen Begrenzung am stärksten ist. Ebenso wichtig ist es zu
wissen, dass der stärkste auswärts gerichtete Druck durch die Decke hinaus
stattfindet. Er ist ebenso stark wie der stärkste Druck durch die aufrechte
Wand, und ist über die ganze Decke hin gleich gross.
„Das ist nun das Fundament, von dem aus alle Excursionen über den
Werth der Durchlässigkeit der Baumaterialien stattfinden müssen.
„Wenn wir uns das Bild der Fig. 2 immer vor Augen halten, ergeben
sich die Schlüsse auf den Werth dieser Durchlässigkeit sofort Ich werde
die folgende Betrachtung an zwei bestimmte Zimmer anknüpfen und für
deren Begrenzungen Durchlässigkeiten annehmen, welche ich experimentell
ermittelt habe.
„Das erste ist ein Parterrezimmer, welches 20° warm sein soll,
während die dasselbe umgebende äussere Luft auf dem Gefrierpunkte des
Wassers ist. Denken wir uns ferner, der Boden habe eine Grösse von 5 m
auf 6m, also 30qm, was einem gewöhnlichen Wohnzimmer entspricht.
Wenn das Zimmer 20° warm ist und eine Höhe von SV^ni hat, so sind im
Ganzen ungefähr an Druck verfügbar 0‘32 kg pro Quadratmeter. Also
ungefähr Vs mm Wassersäulendruck. Sie erhalten dieses, wenn Sie ver¬
gleichen, um wieviel grösser das Gewicht von 3 J / 2 cbm kalter Luft ist als
das Gewicht von 3V 2 cbm 20° warmer Luft. Der Gewichtsunterschied be¬
trägt Vs kg* V3 kg pro Quadratmeter ist aber genau Vs mm Wasserhöhe.
Mit so kleinen Drücken haben wir es zu thun.
„Denken Sie sich der Einfachheit wegen die neutrale Zone, die sich
um das Zimmer herumzieht, in der Mitte der Höhe. Diese Lage wird sie
immer haben, wenn Boden und Decke die gleiche Durchlässigkeit besitzen.
Also denken Sie sich das so, dann beträgt der Druck, welcher Luft durch
den Boden hineintreibt, die Hälfte, also 0*16kg, und der Druck, welcher
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 81
Luft zur Decke hinaustreibt, ebensoviel. Das sind kleine Grössen. Es ban¬
delt sich nun noch um eine Annahme über die Durchlässigkeit des Bodens
und über die Durchlässigkeit der aufrechten Begrenzung des Zimmers, dann
haben wir die Elemente zur Berechnung des gesammten Luftwechsels und
desjenigen Antheiles, den einerseits der Boden, andererseits die aufrechte
Begrenzung an demselben hat.
„Die Durchlässigkeit des Bodens ist sehr verschieden. Ich habe an
ordinär gedielten Fussböden Durchlässigkeiten gefunden, welche zwischen
den Grenzen 20 und 2 liegen; die erstere Zahl will sagen: ich habe die
Durchlässigkeit eines Bodens gemessen, der durch jedes Quadratmeter in der
Stunde 20 cbm Luft einliess, wenn der Druck 1mm Wasser betrug. Das
war ein Boden mit erheblichen Zwischenräumen zwischen den Brettern,
sogenannten Rlumsen, der sich über einer Sandauffüllung befand, und dieser
Sand bildete die innere Füllung einer von Bruchsteinen (rothem Sandstein)
aufgeführten terrassenartigen Aufmauerung, ln demselben Zimmer besass
die verticale Begrenzung nur die Durchlässigkeit 3.
„Wenn wir auf Grund dieser Annahmen den Luftwechsel des Zimmers
berechnen, so finden wir, dass durch die 30 qm des Bodens stündlich
30 X 20 X 0*16 = 96 cbm Luft eindringen, während durch den einlassen¬
den Theil der aufrechten Begrenzung, welcher 38 1 /* qm gross ist, 38 1 /*
X 3 X 0*08 oder wenig mehr als 9 cbm kommen.
„Da der obere Theil der aufrechten Begrenzung und die mit dem Boden
gleich durchlässig angenommene Decke nur mit Hinauslassen einer der ein¬
dringenden gleich grossen Luftmenge beschäftigt sind, so ist der gesammte
Luftwechsel dieses Zimmers 96+9 oder 105 cbm pro Stunde, ungefähr von
der Grösse, wie sie Pettenkofer bei einer nahezu gleichen Temperatur-
differenz in seinem Arbeitszimmer gefunden hat.
„Die ansehnliche Grösse dieses Luftwechsels verdankt man zu neun
Zehnteln dem Boden, nur ein Zehntel desselben kommt durch die aufrechten
Wände.
„Es hat dieses seinen Grund darin, dass wir erstens den Boden (und
die Decke) weit durchlässiger angenommen haben als die aufrechten Wände
und zweitens, weil der Druck durch den Boden doppelt so gross ist als der
mittlere Druck an dem einlassenden Theile der aufrechten Begrenzung.
„Sie sehen aus diesem Beispiele, welche ansehnliche Grössen für die
Durchlässigkeit angenommen werden müssen, wenn man einen ansehnlichen
Werth für den Luftwechsel erhalten soll, einen Werth, wie er dem Luft¬
bedürfnisse von zwei bis drei gesunden und reinlichen Personen entspricht.
„Bei einem anderen Boden, der ein Zwischenboden war, indem er zu¬
gleich die Decke eines Parterrezimmers bildete, hatte ich Gelegenheit zu
einer interessanten Studie. Der Boden war ebenfalls ordinär gediehlt und
mit ansehnlichen Klumsen ausgestattet, die Decke, welche die untere Grenze
des Zwischenbodens bildete, war in Folge von Balkensenkungen vielfach
gesprungen, besonders an ihrer äussersten Grenze. Das Zwischenliegende,
Lehm, Sand, Stroh und Holz, konnte als nennenswerthes Hinderniss für den
Luftdurchgang nicht gelten.
„Die Durchlässigkeit dieses Bodens hatte ich ursprünglich gleich 5
gefunden. Nachdem die Decke ausgebessert und mit Gyps geweisst war —
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1885. Q
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82 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
die Gypsscbicht war ungefähr 0*2 in dick — bestimmte ich die Durchlässig¬
keit von Neuem und fand, dass sie auf 2 beruntergegangen war. Diese
Zahl möchte ich für Zwischenböden, welche einerseits ordinär gediehlt,
andererseits mit Decken ohne sichtbare Risse und Sprünge versehen sind,
als Mittelzahl aufstellen.
„Denken wir uns nun diesen Boden statt des früheren eingesetzt und
die Decke ihm gleich, so sinkt offenbar, da nun 2 statt 20 in Rechnung
steht, die durch den Boden eindringende Luftmenge auf den zehnten
Theil der vorhin berechneten herunter und beträgt nur noch 9*6 cbm
pro Stunde.
„Dazu die 9 1 / 4 cbm, welche durch die untere Hälfte der aufrechten Be¬
grenzung einströmen, gieht im Ganzen einen Luftwechsel von ungefähr
19 cbm pro Stunde. Trotz der hohen Temperaturdifferenz (20°), welche wir
der Rechnung zu Grunde gelegt haben, kommen wir demnach bei Annahme
einer mittleren Bodendurchlässigkeit auf einen sehr geringen, kaum für
eine Person ausreichenden Luftwechsel herunter.
„Nehmen wir kleinere Unterschiede in der Temperatur an, so wie sie
im Frühling und Herbste bestehen, wenn es nicht warm genug ist, um den
durch Oeffnen der Fenster entstehenden Luftwechsel erträglich zu machen,
so sinkt der Luftwechsel, der durch die Poren vermittelt wird, ungefähr im
gleichen Verhältnisse wie die Temperaturdifferenz.
„Wir haben uns bisher nur mit der Menge der Luft beschäftigt, welche
durch die Poren der Begrenzung ein- und ausströmt, und sind zu dem
Schlüsse gekommen, dass dieselbe nicht unter allen Umständen als genügend
betrachtet werden kann, um das Lüftungsbedürfniss auch nur einer Person
zu befriedigen.
„Es wird wesentlich zur weiteren Aufklärung des Gegenstandes bei¬
tragen, wenn wir nun unser Augenmerk auch auf die Beschaffenheit
der eindringenden Luft richten.
„Denken Sie sich zunächst ein Parterrezimmer, ein Zimmer im Erd¬
geschosse, da dringt durch den Boden die Grandluft ein, kalte Luft, welche
den Untergrund oder den Keller durchstrichen hat. Da kommt unter Um¬
ständen auch einmal Luft herein, die durch Zerspringen einer Gasröhre mit
Leuchtgas vermischt ist. Ich erinnere Sie an die merkwürdigen Fälle, die
Pettenkofer in dieser Beziehung constatirt hat, wo Leuchtgasvergiftungen
in Parterrelocalitäten vorgekommen sind. Wo anders ist da die reichlich
mit Leuchtgas geschwängerte Luft hergekommen als durch den Boden ?
Die Grundluft ist immer verdächtig.
„Aber auch die durch die aufrechten Wände eindringende Luft ist
nicht alle zuverlässig gut und frisch. Denn selten wird ein Zimmer mit
mehr als zwei Seiten an das Freie grenzen, auf den beiden anderen Seiten
wird es an die Hausflur oder an ein anderes Zimmer anstossen, woraus nicht
immer „frische u Luft Zuströmen kann. Es bleibt somit als unbedingt nütz¬
lich nur die Porosität derjenigen aufrechten Wände übrig, welche an das
Freie grenzen; was aber durch den unteren Theil dieser Wände einströmen
kann, ist unter allen Umständen zu wenig, um als Ausschlag gebend in Be¬
tracht zu kommen.
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 83
„Denken Sie sich zweitens ein Zimmer, welches etwa in dem ersten
Geschosse liegt, nnd zwar über einem anderen Zimmer, das ebenfalls ge¬
heizt und bewohnt ist. Ein solches Zimmer, das über einem geheizten
Zimmer liegt, bat durch den Boden einen noch stärkeren Luftwechsel, als
wenn das unterhalb liegende Zimmer nicht geheizt wäre. Was bekommt
nun der Bewohner des oberen Zimmers durch den Boden aus dem bewohn¬
ten unteren Zimmer? Offenbar die Abluft, die durch Ausathmung und
Ausdünstung der unterhalb Wohnenden bereits verschlechterte Luft. Da nun
das durch den Boden Kommende im Allgemeinen den grösseren Theil der
zuströmenden Luft bilden wird, so lässt sieb auch von der durch die Poren
vermittelten Lüftung der oberen Geschosse nichts Vertrauensvolles sagen,
ln der That kann man sich nur ausnahmsweise einen Boden so gelegen
denken, dass der durch ihn stattfindende Luftwechsel völlig unverdächtig
und mit Freuden zu begrüssen wäre.
„Es scheint mir demnach vom hygienischen Standpunkte aus unzu¬
lässig, sich auf einen Luftwechsel zu verlassen, der vorzugsweise dadurch
bedingt ist, dass die Luft durch den Fussboden zuströmt.
„Hingegen könnten Sie denken, dass die Durchlässigkeit der Decke
denn doch etwas unbedingt Günstiges ist, weil durch diese die Luft ab-
zieben kann.
„Ich gebe das zu: für den Winter. Im Winter schadet uns die
Durchlässigkeit der Decke durchaus nicht, sie ist ganz günstig, aber
wie ist es im Sommer? Im Sommer, wenn die äussere Luft wärmer ist als
die innere, ist die Strömung der Luft durch das Gebäude gerade die ent¬
gegengesetzte wie im Winter. Im Winter kann man unser Haus etwa mit
einem Kamin vergleichen. Der Vergleich hinkt zwar etwas dadurch, dass
durch das Haus nicht bloss ein Luftstrom aufwärts geht, wie durch den
Kamin, sondern dass auch in allen aufrechten Wänden die Luft unten ein¬
strömt und oben abströmt, also das Zimmer förmlich mit Luft auch von
der Seite her ausgewaschen wird. An Sommertagen aber finden alle diese
Bewegungen in entgegengesetzter Richtung statt, denn man kann versichert
sein, dass schon um 9 Uhr Morgens, sowie die Sonne mächtig wird, das
Haus kälter ist als seine Umgebung, und so wird es, wenn anders die Haus*
frau auf Anwendung der üblichen Schutzmittel gegen die Sonnenhitze be¬
dacht ist, auch bis in die späten Nacbmittagsstunden, ja sogar bis in die
Abendstunden, bleiben, bis sich wieder die kühlere Temperatur der Nacht
geltend macht.
„Also werden wir an den Sommertagen, wo wir in unserm Hause die
Kühlung aufsuchen und gern im Zimmer sind, einen Strom zu erwarten
haben, der von oben nach unten geht, gerade entgegengesetzt der Rich¬
tung, die der Strom im Winter hat, und dieser Strom führt uns nun
durch die Decke die Luft zu, in welcher bereits unser Nachbar in dem
oberen Geschosse geathmet hat. Also gerade da, wo wir uns ohne Luft¬
wechsel gern der angenehmen Kühle erfreuen würden, bekommen wir die
etwaigen üblen Gerüche von oben herunter. Auch die Porosität der Decke
kann demnach dieser Sommerströmung wegen ungünstig wirken, und wir
haben, wenn von oben etwas zu fürchten ist, ein Interesse daran, dass auch
unsere Decke undurchlässig sei. Wir kommen demnach zu dem Schlüsse,
6 *
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84 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
dass die Porosität der horizontalen Wände insofern ihre Schattenseiten hat,
als diese häufig Luft in grosser Menge durchlassen, welche nicht geeignet
ist, die Luft des Zimmers, dem sie zuströmt, zu verbessern. Auch von den
aufrechten Wänden wirken als unbedingt günstig nur diejenigen, welche an
das Freie grenzen, das ist in einem Privatzimmer eine Wand, höchstens
zwei hei einem Eckzimmer. Von diesen Wänden kann man sagen, dass der
Luftwechsel, der durch sie stattfindet, günstig ist. Das durch diesen
kleinen Tbeil der Begrenzung vor sich gehende Auswaschen ist aber viel
zu wenig ausgiebig. Ich glaube nicht, dass in einem städtischen Wohn¬
gebäude der Fall vorkommt, dass dieser Luftwechsel, den man als un¬
bedingt günstig bezeichnen kann, bis auf 10cbm pro Stunde anwächst,
und das ist viel zu wenig frische Luft für einen Menschen, da die gering¬
sten Annahmen für das Lüftungshedürfniss ja doch noch immer 30 bis
40 cbm fordern.
„Ich kann also nicht sagen, dass die durch Temperaturunterschiede
bedingte und durch die Poren vermittelte, im Gegensätze zu einer künst¬
lichen sogenannte natürliche oder spontane Ventilation, soweit sie in hy¬
gienischer Beziehung unverdächtig ist, ausreicht; und soweit die natürliche
Lüftung vorhanden ist und etwa ausreichend wäre vermöge einer grossen
Porosität der Baumaterialien, muss sie, bezüglich der Beschaffenheit der
zuströmenden Luft, in den allermeisten Fällen als verdächtig bezeichnet
werden.
„Was machen wir nun? Luft müssen wir doch haben! Es wird offen¬
bar nichts Anderes übrig bleiben, als die Durchlässigkeit des Bodens und
auch der Decke möglichst zu vermindern, auch diejenigen Wände, welche an
Nachbarzimmer und Hausflur angrenzen, möglichst luftdicht abzuschliessen,
etwa durch gute Tapeten, die von einem guten Tapezierer aufgeklebt
sind, um uns zum Ersatz für die so unterdrückte oder doch auf wenige
Cubikmeter beschränkte Poren Ventilation durch besondere Vorrichtungen
eine andere, der Beschaffenheit nach unverdächtige, der Grösse nach zu¬
reichende Lüftung zu verschaffen.
„Ehe ich einige Rathschläge in dieser Beziehung näher entwickele,
möchte ich mir erlauben, Ihnen einen Versuch zu zeigen, der die Art des
Luftwechsels, von der ich im Anfänge meines Vortrages behauptet habe
dass sie sich mit Hülfe von physikalischen Gesetzen und einfachen mathe¬
matischen Betrachtungen unzweifelhaft erweisen lässt, noch besser ver¬
anschaulichen soll als eine Zeichnung. Sie sehen hier (Fig. 3) einen Kasten
vor sich, unter dem Sie sich ein Zimmer denken sollen. Er ist auf drei
Seiten verglast, damit man hineinsehen kann, und die Poren der Wände sind
durch eine Reihe von Luftlöchern (ca. 10 mm Durchmesser) dargestellt.
Solche Luftlöcher befinden sich im Boden, in einer aufrechten Wand, die
aus Zink besteht, und hier oben in der Decke des Zimmers. Das Zimmer
ist, wie Sie sehen, durch zwei inwendig auf dem Boden stehende Wein¬
geistlampen geheizt. Wenn ich nun in diesem Zimmer, um sichtbare Luft
zu erhalten, eine Trübung der Luft durch Beimischung von Pulverdampf
hervorbringe, so werden Sie aus den einzelnen Oeffnungen die Luft hinaus¬
gehen sehen. Die Einströmung werden Sie von ferne nicht beobachten
können, aber Sie werden die mit Dampf vermischte Luft so ausströmen
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 85
sehen, wie es nach dem Bilde (Fig. 2, a. S. 79) zu erwarten ist. Durch
die Löcher hier in der Decke und durch diejenigen Löcher, die sich hier
in dem oberen Theile der aufrechten Wand befinden, und wenn Sie ge¬
nauer Zusehen, so werden Sie auch bemerken, dass die Luft mit um so
grösserer Stärke ausströmt, je näher die seitliche Ausströmungsöfihung
an der Decke liegt, so also, dass das Bild, welches ich hier an die Tafel
gezeichnet habe, soweit es die Ausströmung betrifft, hier in natura voll¬
ständig dargestellt ist.
(Nachdem durch, die Entzündung von Schiesspulver ein dichter Qualm
im Innern des Modells erzeugt ist, fährt der Vortragende fort:)
„Sie sehen, dass der Rauch keineswegs durch sämmtliche Löcher
ausströmt, sondern bloss durch die obere Hälfte derselben. Sie sehen fer-
Fig. 3.
ner, dass er in der oberen Hälfte nicht nur zu den Löchern herausströmt,
sondern sich auch durch die Fugen zwängt, während hier unten rings¬
herum gar nichts herauskommt. Sie werden nicht einen einzigen Rauch¬
strahl hier unten ringsherum wahrnehmen, auch nicht wenn Sie diesen
Schieber hier unten nahe am Boden öffnen, zu dem ja viel herausströmen
könnte. Das Oeffnen des Schiebers hat vielmehr bloss den einen Erfolg,
dass nun die Luft auch zu solchen Löchern aus strömt, die unterhalb der
Mitte liegen.
„Das belehrt uns über den Einfluss, welchen die Durchlässigkeits-
Verhältnisse auf die Lage der neutralen Zone haben. Bei geschlossenem
Schieber lag die neutrale Zone ungefähr in der Mitte in der Höhe des¬
jenigen Loches, oberhalb dessen Sie die ersten schwachen Spuren von
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86 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
Dampfausströmung beobachtet haben. Dadurch, dass ich den Schieber von
der Oeffnung wegzog, habe ich gleichsam die Durchlässigkeit des Bodens
verstärkt. Wenn aber der Boden durchlässiger wird, dann verlegt sieb die
neutrale Zone tiefer. Diese Wirkung haben Sie hier vor Augen. Sowie
ich die Oeffnung wieder schliesse, werden Sie keinen Rauch mehr durch
die unterhalb der Mitte liegenden Löcher austreten sehen. Die neutrale
Zone ist wieder hinaufgerückt in die Mitte, wie es nothwendig ist, wenn,
wie hier, Boden und Decke gleich durchlässig und die aufrechte Begrenzung
gleichmässig durchlässig sind.
„Die Erklärung für diese Verschiebung der neutralen Zone liegt darin:
Wenn hier unten mehr Luft einströmt als vorher, so muss sich dafür
der obere Theil der Begrenzung, der die Aufgabe hat, die Luft hinaus¬
zulassen, ebenfalls mehr betheiligen. Die Natur macht das dadurch, dass
die neutrale Zone tiefer hinabrftckt, allgemein gegen den durchlässiger
gewordenen Theil hin sich verschiebt. Daraus folgt auch das merkwürdige
Resultat, dass, wenn man vorher in einem Zimmer mittelst des Manometers
gemessen hat, wie stark die Ueberdrücke sind, die an einer gewissen Stelle
der Begrenzung eines Raumes stattfinden, und man daraus berechnen
wollte, wie viel Luft durch ein an dieser Stelle gemachtes Loch strömen
wird, man zu sehr irrthümlichen Resultaten kommen würde, denn sowie
man ein Loch macht und die Luft dort wirklich einströmen lässt, verlegt
sich die neutrale Zone tiefer und der Druck an der Oeffnung nimmt ab,
man bekommt immer weniger Luft, als man nach den früheren mano¬
metrischen Messungen erwarten sollte.
„Dass zu der unteren Schieberöffnung wirklich Luft einströmt, lässt
sich mit Hülfe von Anemometern nicht nur nachweisen, sondern auch mes¬
sen. (Demonstration).
„Es wäre nun recht schön, wenn man hier die Sache gleich umkehren
könnte, wenn man nämlich das Modell sofort unter die Temperatur des
Zimmers abkühlen und nun mittelst des beigemischten Pulverdampfes zeigen
könnte, wie dann alle Luft unten herausströmt, zum unteren Theile der
verticalen Begrenzung und zum Boden. Allein das lässt sich nicht machen.
Wenn ich nämlich einen sichtbaren Effect von diesem kleinen Zimmerchen
(Modell) haben will, welches nur eine geringe Höhe (Im) hat, dann muss
ich es sehr warm machen, so wie es in einer halben Stunde durch die zwei
starken Weingeistflammen wird, und es würde ganz gewiss eine Stunde
oder noch länger dauern, bis es etwa durch eingehängte Eissäcke soweit
abgekühlt ist, um die gewünschte augenscheinliche Wirkung zu geben.
Ich will mir desswegen erlauben, diese zweite Thatsache, nämlich die Um¬
kehrung der Strömung, an einem anderen Versuche zu zeigen. Ich nehme
hier zwei Lampencylinder, von welchen ich den einen etwas mit der Hand
erwärme, während ich den anderen in Brunnenwasser abkühle. Es genügen
nämlich schon die kleinen, auf diese Weise hervorgebrachten Temperatur¬
unterschiede, um die gewollten Erscheinungen hervorzubringen. Also diese
beiden Cylinder sollen das kalte und das geheizte Zimmer vorstellen. Ich
befeuchte ein wenig den Tisch an der Stelle, wo ich sie aufstelle, um zu¬
nächst unten einen luftdichten Schluss zu haben, werde nun in beide etwas
Cigarrenrauch hineinblasen, und sie so lange durch ein Kartenblatt bedecken,
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 87
bis die Luft in beiden zur Ruhe gekommen ist und sich der Temperatur
der Cylinder angepasst hat. Wenn ich nun das Kartenblatt entferne und
den lauwarmen Cylinder auf hebe, so werdep Sie die bekannte Erscheinung
sehen: er wirkt wie ein Schlot, der ganze Inhalt entleert sich nach oben.
Anders verhält sich der kalte Cylinder, er sendet den Luftstrom nach
unten, und die kalte Rauchwolke breitet sich langsam auf dem Tische aus.
(Demonstration).
„Damit ist der Unterschied zwischen der Richtung des Lüftungs-
stromeB veranschaulicht, je nachdem das Haus oder seine Umgebung das
Wärmere ist.
„Wenn Sie mir nun noch einige Minuten ihre Aufmerksamkeit schen¬
ken wollen, so will ich über die Mittel sprechen, welche man anwenden
kann, um die sowohl der Grösse als der Art nach unzuverlässige Poren¬
lüftung durch etwas Besseres zu ersetzen. Das Dichtmachen der Fuss-
böden gelingt am besten durch Parquettiren. Der Parquetboden ist an und
für sich nicht dicht, aber er kann durch Wichsen sehr leicht so dicht
gemacht werden, als es mit Rücksicht auf die hier zu stellenden Ansprüche
erforderlich ist. Also dieser luxuriöseste Boden, der gewichste Parquet¬
boden, ist den hier entwickelten und begründeten Sätzen und meinen Ver¬
suchen über Durchlässigkeit gemäss zugleich am geeignetsten, die Bewohner
eines Zimmers gegen die schlechte Luft zu schützen, welche von unten her
eindringen kann. Um einen ordinär gedielten Boden in hygienischer
Beziehung mit dem gewichsten Parquetboden gleichwerthig zu machen, wird
man ihn vor Allem, wenn er noch neu ist, austrocknen lassen, damit die
Klumsen die schliessliche endgültige Breite bekommen. Sodann wird er
gut ausgespänt, d. h. man leimt Holzspäne, welche ungefähr die Dicke
der Klumsen haben, zwischen die Dielen, und giebt endlich dem sorgfältig
ausgespänten Boden noch einen Anstrich, welcher die etwa noch zwischen
den Spänen übrig gelassenen kleinen Zwischenräume vollends ausfüllt.
Das blosse Einölen hilft nichts, weil es die Klumsen nicht ausfüllt. Wenn
Sie das gethan haben, werden Sie nicht mehr das Vergnügen haben, in
Ihrem Zimmer zu beurtheilen, ob Ihr Nachbar im unteren Stockwerke eine
gute oder eine schlechte Cigarre raucht.
„Wir haben ferner ein Interesse daran, dass auch unsere Decken dicht
sind. Nun, bei städtischen Neubauten werden die Decken in der Regel
so gemacht, dass ihre Durchlässigkeit, so lange sie neu sind, ausserordent¬
lich gering ist. Eine alte, von Sprüngen durchzogene Decke, über welcher
sich ein ordinär gedielter Fussboden befindet, wird sich durch oberfläch¬
liches Ausbessern und Anstriche von Kalk oder Gyps nicht leicht unter die
Durchlässigkeit 2 bringen lassen. Es ist dann vorzuziehen, seinen Einfluss
auf den Fussboden geltend zu machen, welcher dem in Rede stehenden
Zwischenboden an gehört. Was die Seitenwände betrifft, so lassen sich
diese, wie ich schon vorhin bemerkt habe, durch Tapezieren hinreichend
undurchlässig machen. Wenn wir auf diese Weise uns nach allen Seiten
luftdicht abgeschlossen haben, damit nicht schlechte Einflüsse von Seite
unserer Nachbarschaft unsere Luft verderben, dann handelt es sich darum,
einen Luftwechsel herzustellen, welcher die durch die Bewohner des Zim¬
mers selbst verunreinigte Luft abführt und durch frische gute Luft ersetzt.
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88 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
„Das lässt sich nun mit einigem guten Willen sehr leicht machen. Man
hat zunächst sein Augenmerk auf die Luftzufuhr zu richten und bekommt
leicht einen Luftstrom von dei^ gleichen Reinheit, wie durch das Fenster
und auch von hinreichender Stärke, wenn man einen horizontalen Canal
von einer Wand, die an das Freie grenzt, bis in die Nähe des Ofens führt
und daselbst mit der Richtung nach oben ausmünden lässt. Dieser
Canal scheint auf den ersten Blick dadurch Schwierigkeiten zu bieten, dass
er mit ästhetischen Rücksichten in Conflict geräth. Im Innern der Gebäude
lässt sich einem solchen Einwande wohl sofort begegnen.
„Es wird in der letzten Zeit bei Anlage unserer Zimmer gewöhnlich
dort, wo die aufrechte Wand sich an die Decke anschliesst, irgend ein
Uebergangsgesims angebracht. Dieses Uebergangsgesims, dieses kleine
Gewölbe, ist vorläufig bloss eine Verzierung. Man könnte es aber ganz gut
ausnutzen, um einen Canal einzuschalten, der sich dann an der geeigneten.
Stelle nach oben wendet und die Decke in der Nähe derjenigen Stelle
durchbricht, an welcher im oberen Zimmer der Ofen steht. Bei einem
Parterrezimmer ist es vielleicht möglich, den Canal unmittelbar unter dem
Fussboden luftdicht hinzuführen, oder an der Decke des Kellers.
„Ich will zunächst nur einen Augenblick über die Leistungsfähigkeit
eines solchen Canals sprechen und dann noch auf die Mittel zu sprechen
kommen, wie man einen störenden Einfluss des Windes paralysiren kann.
Ich habe schon in verschiedenen Zimmern derartige Canäle ausführen lassen,
und einen derselben, der rund ist, einen Durchmesser von 20 cm hat und
sich mittelst eines abgekröpften Kniees nach oben wendet, häufig controlirt.
Er liefert bei schwachem Winde und einer Temperaturdifferenz von 13°
schon 90 cbm pro Stunde, so dass also die Stärke des Luftwechsels, den ich
durch diesen Canal bekomme, natürlich unter den Umständen, unter denen
man überhaupt einen kostenfreien Luftwechsel haben kann — bei vorhan¬
denen Temperaturdifferenzen — bei Weitem dasjenige überwiegt , was wir
von der Poren Ventilation zu erwarten haben. Wenn Sie den Canal rich¬
tig führen, indem Sie ihm eine aufwärts gerichtete Mündung geben, so dass
die einströmende Luft mit nach oben gerichteter Geschwindigkeit
in das Zimmer tritt, dann ärgert sie niemand, sie breitet sich keineswegs
am Boden aus, denn sie besitzt eine aufwärts strebende Geschwindigkeit
von 50 bis 60 cm und steigt, wie mit dem Anemometer nachgewiesen wer¬
den kann, bis zu einer Höhe von 2 bis 2 1 / 2 m auf, um sich dort mit der
warmen Luft zu vermischen. Man kann ganz nahe an den Canal heran¬
treten, ohne die geringste Empfindung von der einströmenden kalten Luft
zu haben, selbst im kältesten Winter nicht. Es ist somit bei der von mir
angegebenen Anordnung durchaus nichts von der kalten Luft zu fürchten.
Ausserdem bietet sich noch der Vortheil, dass das, was etwa durch die
Thür- und Fensterritzen hereinkommt und durch seine sehr kleine Ge¬
schwindigkeit nicht abgehalten werden kann, innerhalb der dünnen Zimmer¬
luft zu Boden zu sinken, wo es dann, am Boden hinstreichend, kalte Füsse
macht, vermindert wird, wie Sie sich vorhin überzeugt haben, als Sie
sahen, dass durch das Freigeben der Oeffnung am Boden des Zimmermodells
die Grösse desjenigen Theils der aufrechten Wand, der Luft einliess, ver¬
mindert worden ist.
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 89
„Wenn Ihr Nachbar im oberen Stockwerke gleich Ihnen dafür gesorgt
hat, dass er einen undurchlässigen Fussboden hat, dann haben Sie eine un¬
durchlässige Decke, und es kann Vorkommen, dass der Zuströmungscanal
desshalb nicht recht wirksam werden will, weil die Abströmung einen zu
grossen Theil der aufrechten Wand beansprucht oder, was dasselbe ist,
weil bei seiner Eröffnung die neutrale Zone zu tief sinkt.
„In solchen Fällen ist es nöthig, dem Luftzuflusscanal noch einen Ab¬
zug hinzuzufügen. Der Luftzuflusscanal bleibt immer die Hauptsache, die
Abzug8öffnung kommt immer erst in zweiter Linie, und hat ausschliesslich
die Aufgabe, den Luftzufluss zu verstärken, falls derselbe in Folge einer
zu tiefen Lage der neutralen Zone unter die Grenze des Bedarfs sinken
würde.
„Also wenn Sie bemerken, dass der Canal nicht recht ziehen will,
dann ist es angezeigt, dem Luftwechsel noch durch einen Abzug aufzuhelfen.
Bei Neubauten ist derselbe vorzusehen.
„Es ist aber nicht ökonomisch, diesen Abzug etwa oben nahe der
Decke anzubringen. Denn wenn Sie das thun, dann geht die warme Luft,
die selbstverständlich über dem Ofen aufsteigt, sofort zu dem der Decke
nahe liegenden Abzüge hinaus, und Sie haben keinen Genuss davon. Ja es
ist sogar möglich, dass die frische Luft, die Sie desshalb in der Nähe des
Ofens einführen, damit sie sich erwärme, nachdem sie am Ofen aufgestiegen
ist, grossen Theils zum oberen Abzug hinausgeht, ohne unsere Nase
überhaupt zu berühren, dass wir also, wie man diesen Zustand gut kenn-
zeichen kann, im todten Winkel liegen bleiben. In Anbetracht dieser
Umstände ist es unbedingt geboten, die Abzüge so einzurichten, dass sie
unten münden; die Einmündung des Abzuges, der die Luft abführen soll,
muss in der Nähe des Bodens angebracht sein. Ausserdem ist es günstig,
dass der Abzug warm liege; demnach soll er nicht in der Aussenwand des
Hauses angebracht sein, sondern da, wo er durch die Umgebung vor Ab¬
kühlung geschützt ist.
„Wenn Sie wünschen, dass ein Abzug auch im Frühjahr, Sommer
und Herbst wirksam sei, dann müssen Sie darauf Bedacht nehmen, dass der
Abzug geheizt werden kann. Indem Sie den Abzug heizen, reizen Sie auch
den Zuzug zu grösseren Leistungen.
„Man kann mehrere solche Abzüge in einen Sammelcanal leiten, zuletzt
müssen sie ganz gewiss über den First des Daches hinausgeführt werden,
damit ihre Ausmündung nicht unter Winddruck kommen kann. Es ist ein
bedenklicher Fehler, den Abzugscanal in einer aufrechten Wand ausmünden
zu lassen. Jeder einigermassen kräftige Wind der gegen die Wand bläst,
macht einen solchen Abzug unbrauchbar, stärkerer Wind ist im Stande,
Luft durch den Abzug in das Zimmer zu drücken, die sich dann als kalter
Zug gegen die Beine unangenehm fühlbar macht.
„Nun habe ich noch ein Wort über die Mittel zu sagen, welche man
besitzt, um die Wirkung des Windes auf den Luftzufluss unschädlich zu
machen. Wenn der Wind an derselben Wand, in welcher die äussere
Mündung des Luftzufuhrcanales liegt, vorbeistreicht, so kann es leicht
kommen, dass der Druck an dieser Stelle geringer wird, als an der inne¬
ren Ausmündung des Canals. Der Wind ist ein mächtiger Ventilator, und
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90 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
es gehört nicht viel Windgeschwindigkeit dazu, um die kleinen Kräfte zu
überwinden, welche aus den Temperaturunterschieden herstammen.
„Es ist desshalb nützlich, bei einer Lüftungsanlage den Wind zu be¬
achten und ihn wo möglich dem angestrebten Zwecke dienstbar zu machen.
Es geschieht dieses dadurch, dass man ihn fangt. Die äussere Mündung
muss mit einem Wind fang versehen werden. Ich bediene mich dazu
eines sogenannten Presskopfes, der in die äussere Mündung des Luftzufnhr-
canales eingesetzt wird. Die Grundform des Presskopfes kann dem Schall¬
becher eines Waldhorns oder einer Posaune verglichen werden (Fig. 4).
Durch die Achse des Kegelmantels
AB CD ist eine Scheidewand EF
gelegt, welche den Mantel zwei¬
mal schneidet, also hier die Form
AB CD hat, welche ja selbst auch
nichts Anderes ist als ein Achsen¬
schnitt, den die Ebene der Zeich¬
nung durch den Kegelmantel macht.
Senkrecht zu EF ist an diesem die
runde Deckscheibe UH befestigt.
„Der Presskopf wird so ein¬
gesetzt, dass die Scheidewand EF
vertical steht. Diese Scheidewand
hält dann den an der Aussenmauer
vorbeistreichenden Wind auf, die
Luft verdichtet sich etwas und glei¬
tet an der krummen Fläche BD oder A C in den Canal. Selbstverständ¬
lich könnte man den Apparat noch dadurch etwas verbessern, dass man
das scharfe Eck HFE durch eine krumme Fläche ersetzt, welche der Luft
ebenfalls als Leitfläclie dienen kann.
„Am besten wirkt der Windfang, wenn er an einer südlichen oder
nördlichen Wand angebracht ist, weil er dann die herrschenden Winde
fängt. In Strassen geht ohnedies der Wind meistens der Richtung der
Strasse parallel.
„Derartige „Pressköpfe“ "an der Front eines Hauses anzubringen, wäre
allerdings eine Neuerung aber nicht nothwendig unschön, wenn die Archi¬
tekten bei Ausbildung der Fagade darauf Rücksicht nehmen und die Platte
HH mit einer passenden Verzierung versehen wollten.“
Doceiit Dr. Hueppe (Wiesbaden) spricht dem Referenten für seinen
lichtvollen Vortrag den Dank der Versammlung aus (dem sich auf Antrag
des Vorsitzenden die Versammlung anschliesst). Schon längst habe die
Hygiene erkannt, dass die Durchlässigkeit des Bodens in der verschiedensten
Weise höchst unangenehm werden könne und besonders die Militärhygiene
habe Zahlen im Grossen dafür beibringen können, namentlich aus dem
letzten russischen Feldzuge, die in höchst treffender Weise den Werth eines
undurchlässigen Bodens zeige. Es erscheine beispielsweise wunderbar, wie
in manchen südlichen Gegenden, in denen die berühmte und berüchtigte
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Durchlässigkeit von Mauern u. Zwischenböden der Wohnräume. 91
„conservirende Dreck- und Speckschicht“ nicht nur auf dem Körper son¬
dern auch in der Umgebung in höchster Blüthe stehe, doch die sanitären
Verhältnisse, soweit sie sich in Zahlen aussprechen, merkwürdigerweise
günstig seien und man dort fast überall nur auf Lehmschichten oder andere
undurchlässige Schichten des Bodens recurriren könne, die eben die Woh¬
nungen trotz gehäuften Schmutzes hygienisch besser stellen, als manche
moderne Paläste, bei denen dies nicht der Fall sei. Aber über die physi¬
kalischen Gründe dieses Verhaltens sei man im Allgemeinen, selbst sonst
sehr competente Beurtheiler noch recht im Unklaren gewesen, so dass
Herr Professor Recknagel durch seine einschlägigen, hier heute so all¬
gemein verständlich entwickelten Untersuchungen die moderne Wohnungs¬
hygiene aus einer gewissen Verlegenheit befreit habe, in der sie sich bis¬
her befunden habe.
Sanitätsrath Dr. Nötzel (Colberg) fragt an, ob vielleicht von einem
der Sachverständigen über den hygienischen Werth und die technischen
Vortheile oder Nachtheile der in Norddeutschland bei Neubauten jetzt so
vielfach angewandten Luftisolirschichten in den verticalen Wänden der
Häuser etwas mitgetheilt werden könne.
Baupolizei-Inspector Classen (Hamburg) ist der Ansicht, dass die
erwähnte Luftisolirschicht schwerlich mit der Ventilationsfrage in Verbin¬
dung zu bringen sei; sie werde als Zwischenlage zwischen den massiven
Aussenmauern von Backsteinbauten angewandt, um die Witterungsverhält-
nisse, wesentlich die Feuchtigkeit, die durch Schlagregen hervorgebracht
werde, von der Innenseite der Mauern abzuhalten, mit der Ventilationsfrage
in Wohnräumen aber habe sie nichts zu thun.
Professor Hermann Fischer (Hannover) bestätigt, dass diese Luft¬
schichten in hygienischer Beziehung nur dann Werth haben, wenn ohne die
Luftschicht die Wände nass wären, auf den Luftwechsel aber könne eine
solche Luftschicht niemals Einfluss üben, da es in der Wirkung gleich sei,
ob die Luft durch eine dicke oder durch zwei getrennte dünnere Mauer¬
schichten hindurch müsse.
Hiermit ist die Discussion über den letzten Gegenstand beendet und
die Tagesordnung erschöpft.
Vorsitzender Oberingenieur Meyer:
„Meine Herren! Somit ist unserCongress am Schlüsse seiner Arbeiten
angelangt. Ob dieselben einen Einfluss gewinnen werden auf die Ver¬
besserung sanitärer Zustände, können wir heute [noch nicht übersehen.
Aber wir können constatiren, dass sie in ernster und aufrichtiger Anstren¬
gung entstanden sind und dass die Vorträge und Debatten stets eine wissen¬
schaftliche Objectivität bewahrt haben. Wir danken insbesondere den
Herren Referenten, welche uns ihre interessanten und eingehenden Arbeiten
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92 Elfte Versammlung d. D. Vereins f. öff. Gsndpflg. zu Hannover.
zur Verfügung gestellt haben, Herrn Prof. Dr. Flügge, Herrn Generalarzt
Prof. Dr. Roth, der ja leider selbst verhindert war, aber uns doch seine
Thesen eingeschickt hat, Herrn Dr. Baginsky, Herrn Schulrath Prof. Dr.
Bertram und Herrn Prof. Dr. Recknagel, ebenso allen Herren, die an
der Discussion theilgenommen und beigetragen haben zur Förderung der
Aufgaben, die wir uns auf diesem Congresse in den Fragen des hygienischen
Unterrichts, der hygienischen Schulaufsicht und der sanitären Verbesserung
von Bauconstructionen gestellt hatten.
„Wenn die Congressmitglieder sich jetzt in geistiger und materieller
Frische trennen, so können sie nicht umhin, dankbar der günstigen localen
Umstände zu gedenken, die hier zu ihrer Erfrischung beigetragen haben:
zuerst des Sonnenscheins, den uns der Himmel gespendet, sodann aber der
freundlichen Veranstaltungen, welche die Stadt Hannover und viele unserer
hier ansässigen Freunde und Collegen getroffen haben, um uns das Leben
behaglich zu machen.
„Wir hoffen, dass der Verein im nächsten Jahre ebenso arbeitsbereit
an anderen Stellen unseres Bchönen Vaterlandes sich wieder versammeln
werde! Und dass ich Sie alle, meine Herren Vereinsgenossen, dort in guter
Gesundheit Wiedersehen möge, ist mein lebhafter persönlicher Wunsch, mit
welchem ich die elfte Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche
Gesundheitspflege schliesse. u
Schluss der Sitzung 12 Uhr.
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Section für öffentliche Gesundheitspflege.
93
Section für öffentliche Gesundheitspflege
auf der
57. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in Magdeburg.
(18. bis 23. September 1884.)
Nachdem in den letzten Jahren die hygienische Section der Natur-
forscherversammlnng mehr und mehr an Bedeutung verloren hatte, die Zahl
der Theilnehmer meist eine geringe war und wichtige oder interessante
Mittheilungen immer seltener wurden, zeigt die diesjährige Versammlung
eine sehr bedeutende Wendung zum Bessern: die Sitzungen waren gut
besucht und eine ganze Reihe interessanter Vorträge kamen zu Gehör, an
die sich mitunter eine lebhafte Discussion anschloss.
Der Grund dieses erfreulichen Umschwungs in der hygienischen Section,
die in den letzten Jahren gänzlich dahinzusiechen schien, lag in der aus¬
gezeichneten Weise, wie die Section von den Magdeburger Collegen, ganz
besonders von den Herren Sanitätsrath Dr. Leo Schulz und Oberstabs¬
arzt Dr. Rosenthal vorbereitet war; diesen beiden Herren gebührt das
wesentlichste Verdienst, die Section zu neuem Leben erweckt zu haben r
und der Dank, der ihnen hierfür vielfach privatim und zu Anfang wie zu
Ende der Verhandlungen auch öffentlich gezollt wurde. Eine Stütze hier¬
bei fanden sie freilich in dem durch seine Thätigkeit und seine aus¬
gezeichneten Publicationen längst rühmlich bekannten Magdeburger Verein
für öffentliche Gesundheitspflege.
Der sehr nachahmenswerthe Weg, den die Herren einschlugen, war
der, dass sie eine Anzahl interessanter hygienischer Fragen aufstellten und
über die Zweckmässigkeit deren Verhandlung in der hygienischen Section
der Naturforscher Versammlung zunächst das Gutachten einer grossen Anzahl
deutscher Hygieniker einholten. Dadurch lenkten sie zeitig die Aufmerk¬
samkeit auf die diesjährige Versammlung und erregten in vielen Kreisen
Interesse für dieselbe, in denen man in den letzten Jahren wenig mehr an
die hygienische Section der Naturforscherversammlung gedacht hatte. So
gelang es ihnen ein reichhaltiges Programm aufstellen zu können und als
Referenten eine Anzahl der besten und anerkanntesten Hygieniker zu ge¬
winnen. Dass gerade von ihnen eine ziemliche Anzahl, deren Namen wohl
besondere Anziehungskraft gehabt hatten — ich nenne nur Emmerich,
Soyka, Börner, Hermann Cohn u. A. —, schliesslich nicht erschienen
sind, bleibt im Interesse einer erschöpfenden Durchberathung der einzelnen
Themata lebhaft zu bedauern, ist aber wohl nur zum geringsten Theile
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57. Naturforscherversammlung.
Schuld der Geschäftsführung, die vielleicht mitunter zu sanguinisch eine
Nichtablehnung oder eine bedingte Zusage für eine sichere Zusage ange¬
sehen hatte.
Immerhin blieb noch eine genügende Anzahl anregender Vorträge und
Discussionen, über die in Nachfolgendem in Kürze berichtet werden soll.
Nachdem in der constituirenden Sitzung Herr Sanitätsrath Dr. Leo
Schulz die Anwesenden herzlich begrÜBst hatte, wurde für die erste
Sitzung Herr Ministerialrath Dr. Wasserfuhr (Strassburg) zum Vor¬
sitzenden gewählt, der auch in der zweiten Sitzung das Präsidium führte,
während in der dritten und letzten Sitzung Herr Geb. Regierungs- und
Medicinalrath Dr. Schwartz (Köln) die Verhandlungen leitete.
Der erste Gegenstand der Tagesordnung lautete:
Ueber die Licht- und Schattenseiten der Wasserversorgung
der Städte aus den Flüssen.
Referent Prof. Dr. Reichard (Jena) stellt, conform den Wiener Be¬
schlüssen von 1864, als Anforderung an ein gutes Trinkwasser auf, dass es
klar, farblos und geruchlos sei, wenig feste Bestandtheile habe und ständig
in Quantität und Qualität sei. Dieser Anforderung genüge nur ein weiches
Quellwasser und den Standpunkt, auf dem er auf der Danziger Versamm¬
lung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege (1874) gestan¬
den habe, halte er auch noch jetzt aufrecht. Danach sei eine Trinkwasser¬
versorgung durch Flusswasser zu verwerfen. Später habe der Deutsche
Verein für öffentliche Gesundheitspflege auf seiner Versammlung zu Düssel¬
dorf (1876) jenen Standpunkt im Interesse der Massenversorgung modificirt.
Jetzt dominire der Begriff der Massenversorgung und dränge die sanitären
Forderungen immer mehr in den Hintergrund. Dies sei zu* bedauern.
Trinkwasser sei ein Nahrungsmittel und man sei berechtigt an dasselbe die¬
selben Anforderungen wie an andere Nahrungsmittel zu stellen, vor Allem,
dass es rein und nicht gesundheitsschädlich sei; diesen Anforderungen
genüge Flusswasser nie. Durch die zunehmende Industrie werden die Flüsse
immer mehr verunreinigt und namentlich in Magdeburg sei dies durch die
Stassfurter Industrie in hohem Grade der Fall; andererseits sei es erwiesen,
dass eine Filtration des Wassers ganz ohne Einfluss auf Mikroben sei,
während reines Quellwasser frei von Mikroorganismen sei. Halle beispiels¬
weise habe heftig an Epidemieen gelitten, man habe dann die Flusswasser¬
leitung aufgegeben und eine Quellwasserleitung eingeführt und die Epide¬
mieen seien verschwunden. Desshalb müsse das Augenmerk in erster Linie
immer auf das Auffinden und Herleiten von Quellen, wenn nöthig aus
grosser Entfernung, gerichtet sein. Genüge dies quantitativ nicht, so solle
man zwei Leitungen anlegen, eine für Trinkwasser und eine für Wasser zu
gewerblichen Zwecken, zu Spülung etc., da solches Wasser geringere An¬
forderungen an Reinheit zu machen brauche; darunter aber solle man das
Nahrungsmittel Trinkwasser nicht leiden lassen, und als Nahrungsmittel sei
Flusswasser ganz ungeeignet.
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Section für öffentliche Gesundheitspflege. 95
Bei der Discussion sprach Dr. Ewich (Köln) ebenfalls gegen filtrir-
tes Flusswasfler nnd für das dem Flussbette zuströmende Grundwasser.
Prof. Dr. Reichard erwidert, dass das, was man gemeiniglich als
Grundwasser in der Nähe der Flüsse ansehe, oft aus Quellen in unmittel¬
barer Nahe der Flüsse komme.
Physicus Dr. Wallichs (Altona) stimmt mit dem Referenten zwar
darin überein, dass das Trinkwasser möglichst rein sein solle, hält aber ein
ausschliessliches Verlangen von Quellwasser für unberechtigt, da die Be¬
schaffung solches vielfach unmöglich sei, namentlich für dio grossen Städte
des Tieflandes mit ihrem colossalen Bedürfnisse von Wasser und eine Tren¬
nung von zwei verschiedenen Wasserleitungen technisch und auch sonst
bedeutende Schwierigkeiten habe. Ausserdem theile er aber auch die von
dem Referenten geschilderten gesundheitlichen Nachtheile der Flusswasser¬
leitungen nicht, Altona habe seit Jahren eine solche Leitung gut filtrirten
Flusswa88er8, dort sei man sehr zufrieden damit, das Wasser sei rein und
gesundheitliche Nachtheile haben sich nirgends gezeigt.
Physicus Dr. Noetzel (Colberg) hebt hervor, dass es jedenfalls
dankenswerth sei, immer wieder darauf hinzuweisen, dass bei Anlage neuer
Wasserversorgungen ein möglichst reines Wasser, also, wenn möglich, ein
reines Quellwasser, wenn auch erst ein durch Bohrungen zu erschliessen-
des, benutzt werde, da erfahrungsmässig die städtischen Behörden im All¬
gemeinen sehr geneigt seien, das Wasser des nächstliegenden Flusses ohne
Weiteres zur Wasserentnahme zu benutzen. In Colberg sei leider das Auf¬
finden eines Exemplars von Crenothrix polyspora in dem sonst ganz
brauchbaren Wasser der in der Nähe erschlossenen Quellen, wie ihm scheine,
ungerechtfertigterweise die Veranlassung gewesen, auf die Benutzung dieser
Quellen ganz zu verzichten.
Da der Referent über den zweiten Gegenstand der Tagesordnung:
Die Flussverunreinigung durch mineralische Effluvien
Herr Dr. Emmerich (München) zu erscheinen verhindert war, refe-
rirt der
Correferent Prof. Dr. Schreiber (Magdeburg) über die Verunreini¬
gungen, die die Elbe speciell durch die Kalisalzindustrie erfahre, die sich in
den letzten 20 Jahren um das 42fache vermehrt habe und die eine beträcht¬
liche Menge des Rohmaterials in Form von löslichen Salzen den Neben¬
flüssen der Elbe übergebe, wodurch die rapide Zunahme der Verunreinigung
des Elbwassers wohl erklärlich sei. Nun sei aber Magdeburg als Festung
darauf angewiesen, sein Trinkwasser innerhalb des Rayons der Festungs¬
werke zu entnehmen, um bei einer etwaigen Belagerung nicht ohne Trink-
wasser zu sein. Da nun die Brunnen in Magdeburg meist sehr schlecht
seien, sei die Stadt auf das Elbwasser als Trinkwasser angewiesen und da
müsse Magdeburg die Hülfe der Regierung gegen die Verunreinigung des
Flusswassers anrufen, das seit etwa sechs Jahren schon zum Genuss als
Trinkwasser kaum mehr zu verwenden sei, namentlich im Sommer, in dem
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57. Naturforscherversammlung.
das Wasserbedürfniss am grössten, der Wasserstand aber am niedrigsten
und dem entsprechend die Verunreinigung noch viel bedeutender sei als zu
anderen Zeiten, und in den letzten Jahren nehme diese Verunreinigung
stetig in erschreckender Weise zu. Hier müsse Abhülfe geschaffen werden
und die könne nur darin bestehen, dass man einen Canal anlege, der neben
der Elbe herlaufend die Abwässer aller oberhalb Magdeburg gelegenen
Fabriken aufnehme und unterhalb Magdeburg in die Elbe münde. Unter¬
halb Magdeburg sei die Wassermasse eine schon wesentlich grössere, es
liege keine grössere Stadt an der Elbe, die Gegend sei weniger stark bevöl¬
kert und das Elbwasser werde nicht zur Trinkwasserversorgung benutzt.
Für Magdeburg werde es daher immer ein Gebot derNothwehr sein, dahin
zu streben, dass alle Fabriken, welche ihre Effluvien der Elbe zuführen, sich
an einen unterhalb Magdeburg mündenden Canal anschliessen und durch
Gesuch an die Reichsregierung ein Gesetz zu erwirken, welches für die
dem Stromgebiete der Elbe angehörenden, der Jurisdiction Preussens nicht
unterliegenden Länder dieselben Bedingungen bezüglich der Stromver¬
unreinigung stellt, wie sie für das Preussen angehörende Elbgebiet Geltung
haben.
Prof. Dr. Kraut (Hannover) bestreitet, dass der Chlor- und Magnesia¬
gehalt des Elbwassers bei Magdeburg durch die Effluvien aus den Chlor¬
kaliumfabriken bei Stassfurt, Aschersleben und Bernburg in irgend be-
merkenswerther Weise und namentlich biB zu dem Grade gestiegen sei,
dass dadurch die Verwerthung des Wassers zu industriellen Zwecken ge¬
schädigt werde oder der Genuss desselben gesundheitliche Gefahren mit
sich führe.
Dr. Frank (Charlottenburg) weist darauf hin, dass neben der Ver¬
unreinigung der Flüsse durch Salze nahezu grössere und jedenfalls gefähr¬
lichere Verunreinigungen durch organische Stoffe resp. Industrieabgänge
dem Wasser zugeführt werden und dass also der Vorschlag des Herrn Prof.
Schreiber, die Stassfurter Laugen in einem separaten Canal abzuführen,
in hygienischer Beziehung wenig Nutzen schaffen würde. Wenn übrigens
wirklich festgestellt wäre, dass die jetzige Beschaffenheit des Elbwassers
es zu dauerndem Genuss unbrauchbar mache, eine Ansicht, die er auf Grund
seiner Erfahrungen nicht theile, so sei damit die Frage der Trinkwasser-
beschaffung für Magdeburg aus Quellgebieten doch nicht ausgeschlossen,
da ja der Zustand eines unglücklichen Krieges resp. Belagerung, welcher
zu einer Abschneidung solcher Zuleitung führen könnte, doch schlimmsten
Falles nur vorübergehend zu befürchten sei und dann die Elbe noch immer
als letzte Aushülfe bliebe.
Dr. Rapmund (Nienburg) theilt die Ansicht des Herrn Prof. Kraut,
dass die mineralischen Effluvien nicht im Entferntesten die Wichtigkeit für
die Flussverunreinigung haben wie die organischen, und dass die ersteren,
selbst wenn sie in grossen Massen den Flüssen zugeführt werden, durch die
noch grösseren Wassermassen derselben und durch die Schnelligkeit ihres
Stromlaufes in unglaublich schneller Zeit in solchem Grade verdünnt
werden, dass irgend welche Schädlichkeit für die Gesundheit der Anwohner
daraus nicht erwachse.
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Section für öffentliche Gesundheitspflege.
Zu Beginn der zweiten Sitzung sprach zuerst
Ueber die Technik der Desinfection in ihren Beziehungen
zu den neuen hygienischen Forschungen
Dr. Frank (Charlottenburg). Derselbe constatirt zunächst, dass eine
grosse Zahl der bisher gebräuchlichen Desinfectionsmittel vor den neueren
strengen Prüfungsmethoden nicht Stich halten und dass eine absolute Des¬
infection, eine sichere und vollkommene Zerstörung aller Ansteckungsstoffe
nur durch Mittel zu erreichen sei, die zugleich den Träger des Ansteckungs¬
stoffes mit zerstören, was doch in sehr vielen Fällen nicht anwendbar sei.
Desshalb müsse man auch bei der Desinfection sich mit dem praktisch
Möglichen und Erreichbaren genügen lassen.
Die Desinfection könne eine dreifache sein, eine physikalische,
durch üitze, eine Methode, die sich aber nur auf eine geringe Zahl von
Gegenständen an wenden lasse, — eine physiologische, die die Tödtung
der Mikroorganismen bezwecke, durch Sublimat und Carbolsäure, von denen
aber erstere wegen ihrer grossen Giftigkeit nur sehr beschränkte Anwen¬
dung finden könne, letztere wegen ihrer Unzuverlässigkeit, — und endlich
eine chemische Methode mittelst schwefliger Säure, Chlor oder Brom, die
zertrümmernd und zerstörend auf die den Fasern anhaftenden Krankheits¬
stoffe wirken. Darauf aber komme es oft an, den Krankheitsstoff zu zer¬
stören und nicht den Krankheitsträger, Werthobjecte oder Einrichtungsstücke,
da sonst das Publicum dieses mehr fürchten werde als die Krankheit selbst
und desshalb Anzeige und ärztliche Behandlung thunlichst meiden werde.
Von den drei letztgenannten Mitteln habe sich nach neueren Versuchen die
schweflige Säure am wenigsten bewährt, dem schwierig zu behandelnden
Chlor gegenüber biete das Brom durch die Sicherheit und Bequemlichkeit,
mit der es sich dosiren lasse, bedeutende praktische Vorzüge. Durch die
technischen Verbesserungen, welche für Brom in den letzten Jahren aus¬
geführt worden seien, sei es jetzt möglich, mit Hülfe höchst einfacher und
überall ohne besondere Einrichtungen anwendbare Methoden, Bromdämpfe
in jeder Quantität, rein, oder mit Luft, oder mit Dampf gemischt, in die
zu desinficirenden Räume zu schicken, die erfolgte Verwendung genau zu
controliren und die mit der Desiufectionsarbeit Betrauten wirksam zu
schützen. Dass die Desinfection mit Brom keine absolute Garantie für Zer¬
störung jedes Ansteckungskeimes leiste, gebe er zu, aber das sei mit allen
chemischen Desinfectionsmitteln der Fall und doch könne man sie nicht
entbehren, um so weniger, als es sich meist darum handele, einen Feind zu
bekämpfen, der noch sehr wenig genau gekannt sei; erst wenn die Krank¬
heitsstoffe genauer erkannt seien, dürfe man hoffen, sicher wirkende Des¬
infectionsmittel zu erhalten und ein specielles Studium der einzelnen Infec-
tionsstoffe und der zu ihrer Vernichtung wirksamsten Agentien sei desshalb
von grösster Bedeutung, da nur auf diese Art die Auswahl der Desinfections-
methode sachgemäss erfolgen könne.
Ausserdem eigene sich Brom auch als Desodorisationsmittel, das, wenn
auch die Hygieniker heutzutage nicht viel von ihm wissen wollen und wohl
mit Recht Luftwechsel und nicht Reinigung der Luft durch Desodorisation
Vierteljahrs schrift für Gesundheitspflege, 1885. 7
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57. Naturforscherversammlung.
verlangen, doch in vielen Fällen, bei ekelerregenden nnd dadurch zu Krank¬
heit disponirenden Gerüchen, an Orten, wo Lüftung schwer möglich ist, in
Krankenzimmern, auf Schiffen bei Sturm etc. für Comfort und Wohlbefinden
von grossem Werthe sein könne. Hier werde schweflige Säure und Chlor
selbst in kleinstem Ueberschuss als schwere Belästigung empfunden, Brom
hingegen bleibe ein bequemeres, von Gesunden und Kranken leicht zu er¬
tragendes Luftreinigungsmittel, das jeden Schwefelwasserstoff und Ammoniak
sicher zerstöre.
Das meiste und allgemeinste Interesse der Tagesordnung hatte viel¬
leicht das folgende Thema erregt:
In wie weit hat sieh die in verschiedenen Gegenden Deutsch¬
lands eingeführte obligatorische Trichinenschau zur Ver¬
hütung der Trichinenkrankheit bewährt?
um so mehr als für diese praktich so äusserst wichtige und von den ver¬
schiedenen Hygienikern so verschieden beurtheilte Frage eine Aufklärung
in doppelter Weise zu erwarten stand, indem Dr. Börner (Berlin) zugesagt
hatte die Erfahrungen mitzutheilen, die man in Berlin, wo seit über zwei
Jahren alle geschlachteten Schweine einer vorzüglich organisirten, wirkungs¬
vollen Trichinenschau unterzogen werden, gemacht hatte und andererseits
Dr. Rupprecht (in Hettstädt) aus dem Centrum der bisherigen bedeuten¬
deren Trichinenepidemieen ein reiches Material von interessanten Erfahrun¬
gen aus den verschiedenen Epidemieen in Aussicht stellte. Leider aber fehl¬
ten bei Eröffnung der Versammlung beide Referenten; Dr. Rupprecht,
durch Krankheit am Erscheinen verhindert, hatte sein Referat schriftlich
eingeschickt, das verlesen wurde.
Dr. Rupprecht tbeilt mit, dass sich seit Einführung der obliga¬
torischen Trichinenschau im Regierungsbezirk Merseburg die Zahl der an
Trichinose Erkrankten im Allgemeinen erheblich vermindert habe, ein
absoluter Schutz gegen Trichinenkrankheit werde durch die Trichinenschau
aber nicht gewährt, noch immer kämen hier und da mörderische Trichinen¬
epidemieen vor. Die Ursache dafür sei, dass die Untersuchung häufig nicht
gewissenhaft genug, nicht überall kundig, mit blöden Augen oder mit un¬
vollkommenen Mikroskopen ausgeführt werde, dass aus einigen trichinenfrei
gefundenen Proben nicht immer mit Sicherheit das ganze Schwein für tri¬
chinenfrei erklärt werden könne. Desshalb habe man geglaubt das Zwangs-
mikroskopiren als sichere Gewähr gegen Trichinenkrankheit verwerfen zu
müssen und das genügende Kochen und Braten des Schweinefleisches als
( alleiniges sicheres Schutzmittel gegen Trichinenerkrankung empfehlen zu
sollen. Dieses genügende Kochen, die Erzielung einer Temperatur von
mindestens 64° R. im Inneren aller Fleischtheile, geschehe aber trotz aller
Belehrungen und Warnungen vielfach nicht, noch schlimmer freilich sei die
leider immer mehr um sich greifende Unsitte, das Fleisch roh zu essen.
Da nun die obligatorische Fleischschau keinen absoluten Schutz gegen Tri-
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Section für öffentliche Gesundheitspflege.
chinenkrankheit gewähre, das Kochen und Braten des Schweinefleisches aus
Fahrlässigkeit oder absichtlich nicht trichinensicher bewirkt werde und die
Vorliebe für rohes und halbrohes Fleisch immer mehr zunehme, so bleibe
der Gesundheitspolizei nur übrig, ein strengeres Zwangsmikrosko-
piren anzuordnen. Es müsse desshalb ein jedes auf rohes Hackfleisch,
oder auf geräucherte Waare zu verarbeitendes Schwein durch je zwei
Fleischbeschauer, unabhängig von einander, untersucht werden. Um
gefährliche Trichinenherde nicht aufkommen zu lassen, genüge es nicht, die
Trichinenschweine polizeilich dem Verkehr als Nahrungsmittel zu entziehen,
sondern es müsse die Behörde, wo solche Herde eine besondere Intensität
erlangen oder erlangt haben, rattensicheren Um- oder Neubau der Schweine¬
ställe anordnen.
Geh. Medicinalrath Dr. Günther (Dresden) berichtet über den
Einfluss der obligatorischen Trichinenschau in Sachsen, der bei flüchtiger
Beobachtung ein günstiger zu sein scheine; denn während die drei Jahre
1874 bis 1876 bei 672 Erkrankungen 8 Todesfälle und die drei Jahre 1877
bis 1879 bei 693 Erkrankungen 12 Todesfälle gehabt haben, seien 1880
bis 1882 nur 544 Erkrankungen und nur 2 Todesfälle vorgekoramen. Bei
näherer Prüfung aber zeige sich, dass auch vor der Zeit, in welcher obli¬
gatorische Trichinenschau stattgefunden habe, Jahre mit geringerer Trichinen¬
frequenz vorgekommen seien, so 1862 bis 1864 mit 77 Erkrankungen und
nur 3 Todesfällen, 1865 bis 1868 mit 161 resp. 3, 1869 bis 1871 mit 195
resp. 7 und 1871 bis 1873 mit 399 Erkrankungen und nur 2 Todesfällen; die
Zeit seit Einführung der obligatorischen Trichinenschau sei eben noch zu
kurz, um sichere Schlüsse auf ihre Einwirkung zu ziehen. — In den 22
Jahren 1860 bis 1882 seien in Sachsen beinahe 11 Millionen Schweine ge¬
schlachtet worden und von ihnen seien es nur 87 gewesen, die die circa
2700 Erkrankungen und circa 40 Todesfälle bedingt hätten, mithin habe
unter je 125000 geschlachteten Schweinen nur je eines eine Trichinenepidemie
verursacht. Dass jedoch unter diesen 125 000 wohl noch manches trichinöse
Schwein gewesen sei, gehe daraus hervor, dass unter den im Jahre 1882 im
Dresdener Schlachthause untersuchten Schweinen ein trichinöses auf 3800
und im Jahre 1883 eines auf 6297, im übrigen Lande aber eines auf 3181
untersuchte Schweine gekommen sei und es sei somit eine Menge trichinöser
Schweine ohne Nachtheil verzehrt worden, wahrscheinlich nur in gut ge¬
kochtem oder gründlich gepökeltem Zustande.
Kreisphysicus Dr. Rapmund (Nienburg) giebt zu, die obligato¬
rische mikroskopische Untersuchung des Schweinefleisches habe bis jetzt noch
nicht den Erfolg gehabt, dass die Trichinenerkrankungen aufgehört haben,
wohl aber, dass sie sich erheblich verringert und das erstere Ziel nur
desshalb nicht erreicht worden sei, weil eben die Ausführung dieser
segensreichen sanitätspolizeilichen Maassregel Personen an vertraut sei, die
in vielen Fällen nicht die erforderliche Sicherheit hinsichtlich der Ausübung
ihres wichtigen Amtes bieten. Man müsse sich wundern, dass gerade der
Staat bei Auswahl, Ausbildung, Anstellung, Controle der Fleischbeschauer
so freien Spielraum lasse und dieselben nicht den gleichen scharfen Bestim¬
mungen unterwerfe, wie die Hebammen; hänge doch von der Zuverlässig¬
keit eines Fleischbeschauers oft die Gesundheit und das Leben von mehr*
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57. Naturforscherversammlung.
als hundert Menschen ab. Also strengere allgemeine Normativbestimmun-
gen in dieser Hinsicht, nicht für einen einzelnen Bezirk, sondern für den
ganzen Staat, seien unbedingt erforderlich. Diese Normativbestimmungen
haben sich vor Allem auf die Auswahl des auszubildenden Perso¬
nals (z. B. Ausschluss von schlechtsehenden, über 40 Jahre alten etc.),
auf die sorgfältigste Ausbildung derselben durch entsprechende
Sachverständige, auf schärferes Examen und Controle resp. Nachprü¬
fungen, auf Beschaffung besserer Instrumente zu erstrecken. Solchen
an die Fleischbeschauer zu stellenden erhöhten Anforderungen gegenüber
müsse aber auch eine bessere Besoldung derselben gewährt und besonders
mit aller Strenge der Unsitte der einzelnen Gemeinden, das Honorar der
Fleischbeschauer herunterzudrücken, gegenüber getreten werden; dann wer¬
den die angestellten Fleischbeschauer immer zuverlässiger werden und der
Erfolg werde nicht ausbleiben, dass die obligatorische mikroskopische Unter¬
suchung des Schweinefleisches in Wirklichkeit auch das Auftreten der Tri¬
chinenerkrankungen verhüte.
Geh. Regierungs- und Medicinalrath Dr. Schwartz (Köln)
führt aus, dass er früher an der Möglichkeit gezweifelt, beim Mangel appro-
birter Thierärzte eine genügende Anzahl zuverlässiger sogenannter empiri¬
scher Fleischbeschauer für die Ausführung der Trichinenschau gewinnen
zu können und sich desshalb auch gegen die obligatorische Einführung der
genannten Maassregel ausgesprochen habe. Nachdem aber im Regierungs¬
bezirke Köln, namentlich in den Städten Köln und Mühlhausen, Trichinen-
epidemieen constatirt worden seien und bezügliche Ministerialerlasse
dringend die Trichinenschau als Schutzmaassregel gegen wiederholte Epide-
mieen empfohlen haben, habe er unter Mitwirkung erfahrener Kreis-, Medi-
cinal- und Veterinärbeamten die Ausbildung empirischer Fleischbeschauer
selbst in die Hand genommen und sich persönlich überzeugt, dass Laien
ohne besondere naturwissenschaftliche Vorbildung, wenn sie nur gute Augen
und Hände, genügende Verstandeskräfte und Schulbildung besitzen, nament¬
lich aber nur gewissenhaft und zuverlässig und bei der Fleischschau un-
betheiligt seien, für die erfolgreiche Ausführung der Trichinenschau recht
wohl ausgebildet werden können. Zwei in der letzten Zeit in der Stadt Köln
vorgekommene Trichinenepidemieen seien nachweisbar in einem Falle durch
vorschriftswidrig in Folge Nachlässigkeit eines Polizeibeamten in Verkehr
gebrachten, zur Vernichtung bestimmten trichinösen Schinken und im
anderen Falle durch Unsicherheit eines Fleischbeschauers, der nach beende¬
tem 60. Lebensjahre ungenügend vorgebildet gewesen sei, verursacht gewesen.
Seitdem seien bezüglich Ausbildung der Fleischschauer und polizeilicher
Ueberwachung inficirter Schweine und Fleischwaaren strengere Vorschriften
erlassen und keine weiteren Trichinen er krankungen mehr vorgekomraen.
Er könne desshalb die obligatorische Trichinenschau in allen Bezirken, wo
der Genuss rohen oder mangelhaft gekochten Schweinefleisches üblich sei,
als eine sehr nützliche sanitätspolizeiliche Maassregel nur empfehlen, unter
der Voraussetzung, dass in der Trichinenschau erfahrene Medicinal- oder
Veterinärbeamte die Fleischschauer ausbilden und fortwährend unter geregel¬
ter Controle halten. Auf die halbe oder ganze Mark, die für Untersuchung
t eines Schweines gezahlt werde, könne es doch wahrlich nicht ankommen,
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Section für öffentliche Gesundheitspflege. 101
wenn es sich um Schutz von Menschenleben handele. Ansserdem bleibe
das Geld im Lande und werde an Mitbürger für eine durchaus nützliche
Beschäftigung, die Untersuchung eines der wichtigsten Volksnahrungsmittel,
verausgabt. Schliesslich könne er aber auch empfehlen, die Finnenschau
gleichzeitig mit der Trichinenschau vorzuschreiben, um auch den Band¬
wurmkrankheiten vorzubeugen, was im Regierungsbezirk Köln nach all¬
gemeiner ärztlicher Erfahrung und nach den in den Apotheken gemachten
Nachfragen über den Consum von Band wurm mittein jetzt nach erfolgter
Einführung der Finnenschau entschieden gelungen sei.
Dr. med. R. Blasius (Braunschweig) hält ein längeres Durch¬
kochen resp. Durchbraten des Schweinefleisches (über 64°) für
ein absolut sicheres Mittel gegen die Trichinose; da diese Maassregel aber
bei einer grossen Mehrzahl der deutschen Bevölkerung, speciell in Nord¬
deutschland, nicht durchgeführt werden könne, weil sie gegen den Volks¬
gebrauch, rohes Schweinefleisch zu essen, verstosse, so sei eine exacte Tri¬
chinenschau erforderlich. Diese werde nur nützen, wenn sie gleichmässig
über das ganze Deutsche Reich gesetzlich durchgeführt werde und
die Trichinenschauer möglichst genau ausgebildet und controlirt werden. Die
Anforderungen, die hygienischerseits zu stellen seien, lassen sich in folgen¬
den Thesen, wie sie von ihm schon bei einer früheren Gelegenheit vor¬
geschlagen und angenommen worden seien, zusammenfassen:
1. Die obligatorische Trichinenschau ist durch Gesetz mit einheitlichen
Vorschriften für das ganze Deutsche Reich einzuführen.
2. Die Trichinenschauer (soweit sie nicht Aerzte, Thierärzte oder Apo¬
theker sind) werden alle drei Jahre nachgeprüft und die Mikoskope
derselben revidirt.
3. Die Gebühr für die einzelne Untersuchung eines Schweines auf Tri¬
chinen soll mindestens 75 Pfennig bis 1 Mark betragen und nicht
an die Fleischbeschauer selbst gezahlt, sondern durch die Polizei
eingezogen werden.
4. In den Städten ist die Fleischschau, wie überhaupt das Schlachten,
möglichst auf die Schlachthäuser zu beschränken.
5. Durch eine Marke ist auf der Schwartenseite des untersuchten Stückes
Schweinefleisch Name und Wohnung des betreffenden Fleischbeschauers
und Zeit der stattgehabten Untersuchung zu bezeichnen.
6. Diejenigen Fleischbeschauer, die Trichinen in einem Stück Schweine¬
fleisch Anden, erhalten Prämien.
7. Es ist seitens der Behörden dafür zu sorgen, dass stets frisches tri¬
chinenhaltiges Fleisch zu Unterrichtszwecken vorräthig ist.
8. Auch die Wildschweine unterliegen einer obligatorischen Unter¬
suchung auf Trichinen.
9. Gegen die Verbreitung der Trichinose unter den Schweinen ist mög¬
lichst zu wirken durch Reinlichkeit der Stallungen, Vertilgung der
Ratten, Verhütung der Verfütterung trichinöser Schweine u. s. w.
10. Das Publicum ist darauf aufmerksam zu machen, dass auch die sorg¬
fältigste Trichinenschau keine absolute Sicherheit gegen Trichinose
bietet, und diese nur in einer rationellen Zubereitung des Schweine¬
fleisches durch tüchtiges Kochen oder Braten gefunden werden kann.
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57. Naturforscherversammlung.
Ministerialrath Dr. Wasserfuhr (Strassburg) sieht den Zweck
der allgemeinen Trichinenschau in der Verhütung der Trichinenkrankheit
bei Menschen. In vielen Fällen möge dieser Zweck erreicht worden sein;
im Allgemeinen aber habe die Erfahrung gelehrt, dass in den Gegenden,
in welchen eine allgemeine Trichinenschau eingeführt worden sei, trotzdem
sporadische und epidemische Erkrankungen an Trichinose bei Menschen
Vorkommen, und nicht einmal eine grössere Seltenheit solcher Erkrankungen
gegen früher bemerkbar sei. Es folge hieraus, dass die Trichinenschau
ein unzuverlässiges Mittel gegen die menschliche Trichinose sei.
Dieser Mangel rühre davon her, dass die Trichinenschau in den meisten
Fällen nur in der oberflächlichen Untersuchung einiger weniger MuBkel-
proben durch ungeübte, oft nicht einmal gewissenhafte Personen bestehe.
Diese Unzuverlässigkeit sei auch den Freunden der Trichinenschau nicht
entgangen. Aber statt sich nach zuverlässigeren Mitteln umzusehen, be¬
harre man vielfach auf dem falschen Wege; wenn trotz der allgemeinen
Trichinenschau die Trichinose bei Menschen in einem Bezirke auftrete, so
erhöhe man die Zahl und die Remuneration der Trichinenschauer, die Zahl
der zu untersuchenden Muskelproben, die Zeitdauer für die Untersuchung
der einzelnen Schweine, beschränke die Zahl der Schweine, welche ein Tri¬
chinenschauer an dem nämlichen Tage in maximo untersuchen solle, lasse
die Mikroskope inspiciren u. dergl., ohne zu erwägen, dass ein solches um¬
ständliches, kostspieliges und langweiliges Verfahren vielleicht in einzelnen
kleinen Bezirken und unter besonderen Umständen bis zu einer gewissen
Grenze durchführbar sei, aber ausser Verhältniss zu dem beabsichtigten
Zwecke stehe, und als allgemeine sanitäre Maassregel unmöglich sein würde.
Andere Freunde der Trichinenschau seien der Ansicht, dass wenn die Trichinen¬
schau auch nicht alle vor Erkrankung schütze, es doch schon ein Vorth eil
sei, dass durch die Trichinenschau wenigstens ein Theil der Menschen,
welche trichinöses Schweinefleisch verzehrt haben, vor der Trichinose be¬
wahrt werde, während ohne Trichinenschau alle, oder doch fast alle an
Trichinose erkranken würden. Dem sei entgegenzuhalten, dass thatsächlich
sehr viel rohes trichinöses Schweinefleisch verzehrt werde, ohne dass der
Genuss desselben bei Menschen Trichinose erzeuge.
Er würde daher die Frage dahin beantworten: die allgemeine mikro¬
skopische Sohweinefleischuntersuchung habe sich als ein unzuverlässiges
Mittel zur Verhütung der Trichinose bei Menschen erwiesen, und selbst, wo
sie Erfolge erzielt habe, Btehe dieselbe ausser Verhältniss zu dem dazu
erforderlich gewesenen Aufwande von Menschen, Mikroskopen, Geld und
Arbeitszeit. Ferner sei die allgemeine amtliche mikroskopische Schweine¬
fleischuntersuchung geradezu ein Mittel, um die Trichinose in Nord- und
Mitteldeutschland — in Süddeutschland kenne man keine Trichinose — zu
verewigen, indem sie das Publicum in eine trügerische Sicherheit wiege
und dadurch den barbarischen Genuss rohen Schweinefleisches in demselben
conservire, ja begünstige. Von diesem Gesichtspunkte aus halte er die obli¬
gatorische Trichinenschau nicht bloss für unnütz und unzweckmässig, sondern
geradezu für schädlich. Damit solle aber nicht gesagt sein, dass man nichts
gegen die Trichinose thun könne. Wer Schweinefleisch nur gut gekocht
oder gebraten geniesse, sei vor letzterer völlig gesichert. Hier müsse der
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103
Section für öffentliche Gesundheitspflege.
Schwerpunkt aller Schutzmaassregeln liegen. Dass in ganz Süddeutsch-
land, in Frankreich, England, Belgien, Spanien, Italien die Trichinose bei
Menschen noch niemals beobachtet worden sei, dass man dort die Kosten
der mikroskopischen Schweinefleischuntersuchung spare, über das sonder¬
bare Amt eines mitteldeutschen Trichinenschauers lächele, habe einfach
seinen Grund, weil es dort für barbarisch gelte, rohes Schweinefleisch zu
gemessen. Wenn einer der Vorredner zwar auch die Trichinenschau als
unzuverlässig und das Kochen und Braten als einziges sicheres Verhütungs¬
mittel der Trichinose bei Menschen erachtet, aber dennoch die Trichinen¬
schau vertheidigt habe, weil die Sitte, rohes Schweinefleisch zu essen, nun
einmal in manchen Gegenden Deutschlands verbreitet sei, und man dieser
Sitte Rechnung tragen müsse, so könne er sich auf den Standpunkt, gesund¬
heitsschädliche Gewohnheiten unter der Bevölkerung nicht bloss zu dulden,
sondern die Leute, welche solche Gewohnheiten haben, polizeilich vor den
üblen Folgen der letzteren zu schützen, die Kosten aber der Gesammt-
heit aufzuerlegen, niemals stellen. Im Gegentheil, er sehe die Hauptaufgabe
der Hygiene im Kampfe gegen schlechte Gewohnheiten und Vorurtheile.
Ohne einen solchen Kampf sei kein Fortschritt, kein Sieg möglich. Vor¬
zugsweise Aufgabe der Aerzte sei es, in den sächsischen und thüringischen
Landen, in welchen dieser Genuss eine — wenn auch nicht berechtigte —
Eigenthümlichkeit sei, überall den Genuss rohen Schweinefleisches zu be¬
kämpfen. Aber die staatliche Gesundheitspflege solle desshalb keineswegs
bei Seite stehen. Man solle die amtliche obligatorische mikroskopische
Schweinefleischuntersuchung aufgeben, verlangen dagegen von den obersten
Sanitätsbehörden — nicht bloss von Local- und Provinzialpolizeibehörden —
amtliche Warnungen des Publicuras vor dem Genuss rohen Schweinefleisches,
das Verbot des Verkaufs alles solchen Fleisches, welches zum Genuss fertig
präparirt von sächsischen Metzgern vielfach in ihren Läden verkauft werde,
und das obligatorische Auf hängen eines gedruckten amtlichen Placats, in
welchem das Publicum vor dem Genuss rohen Schweinefleisches gewarnt
werde, in jedem Metzgerladen derjenigen Gegenden, in welchen Trichinose
bei Menschen beobachtet worden sei.
Physicus Dr. Wallichs (Altona) will den Ausführungen des Herrn
Vorredners eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. In seiner Heimaths-
provinz habe man anfangs eine obligatorische Trichinenschau einführen
wollen, habe aber, zum Theil wegen der Schwierigkeiten durch die grossen
Exportschlächtereien in Hamburg, davon abgesehen. Man habe eine facul-
tative Schau eingerichtet, die sich als im Ganzen werthlos erwiesen habe.
Jetzt habe sich die Furcht verloren, weil Erkrankungen an Trichinose, trotz
nicht selten gefundener trichinöser Schweine so gut wie gar nicht vor¬
gekommen seien. Schweinefleisch werde in rohem Zustande in Altona nicht
genossen, auch durch trichinöse amerikanische Schinken und Speckseiten
werde bei Menschen Trichinose anscheinend nicht erzeugt. Es frage sich
also, ob die grossen Kosten einer für das ganze Reich obligatorischen
Trichinenschau gerechtfertigt seien.
Geh. Medicinalrath Dr. Günther (Dresden) constatirt in Bezug auf
die Ausbildung der Trichinenschau, dass man in Sachsen schon seit mehre¬
ren Jahren allen den Anforderungen genüge, die heute hier gestellt worden
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57. Naturforscherversammlung.
seien. Jeder, der sich als Trichinenschauer verpflichten lassen wolle, müsse
einen vierzehn tägigen Curaus in der Thierarzneischule durchmachen, in
welcher der Unterricht sowohl als die Prüfung durch die an derselben an-
gestellten Lehrer erfolge. Controle und Revision der Trichinenschauer auf
Güte ihrer Mikroskope finde statt. In dem der Genehmigung der Regierung
zu unterbreitenden Regulativ sei ausdrücklich bemerkt, dass nur eine be¬
stimmte Zahl von Schweinen (höchstens 20) an einem Tage untersucht
werden dürfe. Die Vergütung dafür dürfe nicht unter 50 Pfennig pro Stück
betragen.
Medicinalrath Dr. Böhm (Magdeburg) warnt davor, bei dem gegen¬
wärtigen Standpunkt der Angelegenheit, welche durchaus noch nicht
spruchreif sei, eine Resolution zu fassen. In allernächster Zeit stehe die
Einführung von Fleischschauämtern im Regierungsbezirke Magdeburg in
Aussicht und werde dann namentlich durch die Anstellung von vereidigten
Fleischholern es möglich werden, besseres Material aus den gebildeten Stän¬
den für die anzustellenden Fleischbeschaner zu erhalten. Sei auch die obli¬
gatorische Fleischschau nicht unter allen Umständen absolut zuverlässig, so
sei sie doch stets neben der Empfehlung des Genusses gargekochten Flei-
ches aaszuführen und durch ein für alle Provinzen gültiges Gesetz zu regeln.
Dr. Rosenthal (Magdeburg) stellt sich auf den Standpunkt des Mini-
ßterialraths Wasserfuhr und erweist namentlich aus den jüngst im Re¬
gierungsbezirk Magdeburg in Emersleben Ende vorigen Jahres and noch
Anfang Sommer dieses Jahres in einem Dorfe des mansfelder Seekreises
gemachten Erfahrungen, dass selbst die schärfsten Bestimmungen und thun-
lichsten Verbesserungen der obligatorischen Trichinenschau ohnmächtig
seien, um die immer wiederholte Wiederkehr der schrecklichsten Epidemieen
zu verhüten. Es bleibe also nichts weiter übrig, als das Uebel bei der Wur¬
zel, nämlich der Unsitte des Genusses von rohem Fleische, anzufassen.
Ueber die Gefahren desselben müsste das Volk in öffentlichen Versamm¬
lungen und der Presse, die Schuljugend in der Schule eindringlich und
immer wiederholt belehrt werden; in allen Fleischerläden müssten darauf
hinzielende Warnungstafeln aushängen; man müsse die Leute thunlichst
zwingen, der gefahrvollen Sitte des rohen Fleischgenusses zu entsagen,
indem man ihnen denselben so viel als irgend möglich erschwere und ver¬
leide. Das Verführerische liege nämlich darin, dass die Leute das fein zer¬
kleinerte, mit Pfeffer und Salz zubereitete Fleisch in den Fleischerläden
erhielten und die gar keiner weiteren Zubereitung bedürftige nahrhafte Kost
bequem mit Bich auf die Arbeit nehmen könnten. Es werde ihnen das un¬
möglich gemacht oder wenigstens bedeutend erschwert, und sie würden sich
leichter entschliessen, wie es bei anderen gesitteten Völkern üblich, nur
gekochtes Fleisch zu gemessen, wenn man den Fleischern verbiete, das in
angegebener Weise zerkleinerte und für den Genuss fertige Fleisch feil zu
halten. Dieses Verbot werde dazu beitragen, die Quelle der Trichinen¬
erkrankungen, die schlechte Gewohnheit des rohen Fleischgenusses allmälig
und sicher zum Verschwinden zu bringen.
Medicinalrath Dr. Richter (Erfurt) theilt mit, im Regierungs¬
bezirk Erfurt bestehe die obligatorische Trichinenuntersuchung seit 1874,
nachdem vorher Mahnungen und Belehrungen aller Art ergangen seien.
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Section für öffentliche Gesundheitspflege.
Auch sei facultativ die Möglichkeit zur Untersuchung geboten gewesen, und
in allen Fleischerläden habe man Tafeln ausgehängt und Untersuchungs-
Scheine vorgezeigt, ohne dass deren Richtigkeit hätte controlirt werden
können. Dadurch sei das Publicum in noch verhängnisvollerer Weise sicher
gemacht worden, als jetzt, wo eine regelmässige Untersuchung eingeführt
sei. Während früher fast jedes Jahr Fälle von Trichinosenerkrankungen
vorgekommen seien, seien nach Einführung der obligatorischen Untersuchung
bis jetzt nur leichtere Erkrankungs- aber keine Todesfälle beobachtet wor¬
den. Wenn nun behauptet werde, dass vielfache Fälle von Trichinose beim
Schweine vorgekomraen seien, ohne dass dieselben auf den Menschen über¬
tragen worden, so könne dies in der Zubereitung des Fleisches, der geringen
Intensität der Erkrankungen oder dem Verwechseln der letzteren mit ande¬
ren Krankheiten liegen und daher nicht als Gegenbeweis gegen eine all¬
gemeine obligatorische Untersuchung dienen. Wenn auch geringere Durch¬
setzung mit Trichinen übersehen werden könne, so sei es doch leicht möglich,
einen stärkeren Trichinengehalt des Fleisches aufzufinden, wodurch die
gefährlichen Erkrankungsgruppen hervorgerufen werden, und sei solches
Uebersehen nur als grosse Fahrlässigkeit zu bezeichnen. Die möglichste
Vermeidung solcher gefährlicher Erkrankungen rechtfertige aber die Auf¬
wendung der Kosten, die übrigens im Verhältniss zum Werthe des Objectes
nicht erheblich seien. Wenn auch Mangelhaftigkeit der Handhabung und
Ausführung das Uebel bisher nicht vollständig habe vermeiden lassen, so
sei es darum doch nicht gerechtfertigt, die obligatorische Untersuchung
selbst zu verwerfen, denn wenn man das Beste und Vollkommene nicht
erreichen könne, solle man doch desshalb das Gute und Erreichbare nicht
vernachlässigen.
Hiermit war die Discussion geschlossen» eine Beschlussfassung er¬
folgte nicht.
In der dritten und letzten Sitzung sprach zuerst
Ueber den Hausschwamm (Merulius lacrymans)
Professor Dr. Po 1 eck (Breslau). Derselbe macht auf die auffallende
Thatsache aufmerksam, dass der Hausschwamm in den letzten Decennien
durch ganz Deutschland immer grössere Verheerung in den Gebäuden an-
richte, vorzugsweise in neu erbauten Häusern, so dass es dringend geboten
erscheine, den Ursachen dieses Umsichgreifens und den Mitteln dagegen
nachzuforschen. Diese Forschung habe auch für die Hygiene eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung, da die Entwickelung des Hausschwammes an
nassen Untergrund, feuchtes Holz und Mauerwerk geknüpft sei oder trockene
Mauern und Wohnräume feucht maöhe, ganz abgesehen von dem widerlichen
Geruch und der möglicherweise gesundheitsschädlichen Wirkung der Sporen
und Ausdünstungen, welche er verbreite.
Nach einer eingehenden, sehr interessanten Schilderung der Eigen¬
schaften und Lebensbedingungen des Merulius vom botanischen Standpunkte,
auf die an dieser Stelle einzugehen zu weit führen würde, aus der aber zu
erwähnen ist, dass der Hausschwamm sich vorzugsweise auf Goniferenholz,
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57. Naturforscherversammlung.
nie aber auf lebendigem Holz entwickele und dass er rasch wachse, indem
er in langen, spinnengewebeartigen Fasern die Holz- und Mauerflächen oft
mit fächerförmiger Ausbreitung überziehe, dabei in das Innere des Holzes
dringe, wobei seine Fäden die Gefösse und Zellen durchbohren und hier die
chemischen Processe einleiten, durch welche das Holz in eine leichte,
brüchige Masse verwandelt werde, bespricht Redner ausführlicher diese
chemischen Processe und zahlreiche darauf bezügliche Untersuchungen, aus
denen sich ergiebt, dass der Hausschwamm in derselben Weise auf Kosten
der Holz8ubstanz lebt, wie alle Parasiten sich von ihrem Substrat ernähren,
dass er dem Holz zunächst die mineralischen Bestandteile entziehe, dadurch
seine Structur auflockere und der weiteren Zersetzung zugänglich mache,
wobei der Pilz zu seiner Ernährung verhältnissmässig grosser Quantitäten
Holzsubstanz bedürfe, die er in noch nicht gekannter Weise chemisch ver¬
mindere und dann direct assimilire. Je reicher ein Holz an Phosphorsäure
und Kalinmverbindungen sei, um so rascher finde die Entwickelung des
Pilzes statt. Da nun das Holz der im Saft gefällten Goniferen fünfmal
mehr Kalium und achtmal mehr Phosphorsäure enthalte und reicher an
Stickstoff sei, wie das im Winter gefällte Holz, werde seine Verwendung zu
Bauten verhängnisvoll, wenn gleichzeitig Sporen des Hausschwammes in
den Neubau gelangen. Nun werde aber tatsächlich in grossen Forst¬
gebieten Bauholz im ersten Frühjahr gefällt, weil dann die Rinde ungleich
besser verwertet werden könne, ferner werden die in der Vegetations¬
periode durch Windbruch gefällten Bäume nicht selten ebenfalls zu Bauholz
verarbeitet und das von Osten her nach Deutschland eingeführte Bauholz
gestattet bezüglich seiner Fällungszeit kaum eine Controle, so dass hierin
zweifellos eine der Ursachen der rapiden Ausbreitung des Hausschwammes
beruhe, welche sich jetzt geradezu zu einer öffentlichen Calamität gesteigert
habe. Die Annahme erscheine nicht zu gewagt, dass in normaler Winter¬
zeit gefälltes Holz unter gleichen Bedingungen der Infection durch den
Hausschwamm weniger zugänglich sein werde, weil es der Spore einen un¬
gleich weniger günstigen Keim- und Nährboden biete. Hieraus erkläre es
sich, warum der Pilz in alten Häusern verhältnissmässig seltener vorkomme,
weil deren Bauholz nicht unter dem Einfluss der gegenwärtigen Praxis ge¬
fällt sei. — Das wirksamste Präservativ gegen Einschleppung des Haus¬
schwammes sei daher die Verwendung von Bauholz von normaler Beschaffen¬
heit und andererseits die Vermeidung alles dessen, wodurch Sporen des
Pilzes in die Häuser kommen können, also Beseitigung beziehungsweise
Nichtbenutzung alten Bauschuttes zur Ausfüllung der Hohlräume und Ver¬
brennung verdächtigen Holzwerks. Um bereits vorhandenen Pilz zu ver¬
nichten, bleibe nichts Anderes übrig, als dem Pilz die Existenzbedingungen
zu verkümmern und ihn dadurch zu todten, also in erster Linie vollständige
Beseitigung des inflcirten Holzes und Mauerwerks und vollständige Trocken¬
legung durch Anlage einer geeigneten Ventilation in Verbindung mit
Heizungen und Schornsteinen. Um die Wirkung der vielgepriesenen che¬
mischen Mittel zur Vernichtung des Hausschwammes beurtheilen zu können,
werde erst durch exacte Versuche festzustellen sein, in wie weit diese Mittel
im Stande seien, die Keimung der Sporen und die weitere Entwickelung
ihres Mycels zu unterdrücken.
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Section für öffentliche Gesundheitspflege.
Aus der hierauf folgenden kurzen Discussion sei nur erwähnt, dass
Herr Dr. Köttnitz (Greiz) mittheilte, er habe Gesundheitsschädigungeu
in Folge des Hausschwammes constatirt, periodisch recidivirende Bindehaut¬
katarrhe und katarrhalische Affectionen der Schleimhäute des Respirations-
tractus, die nach Beseitigung des Merulius lacrymans verschwunden seien.
Ueber die Gefahren, welche der Gesundheit durch den
Genuss in verzinnten Conservebüchsen aufbewahrter
Nahrungsmittel drohen
sprach Docent Dr. Ungar (Bonn). Derselbe hatte durch vielfache che¬
mische Untersuchungen gefunden, dass sehr häufig in Büchsen mit conser-
virten Gemüsen, namentlich bei Spargeln, Zinn in geringen Mengen, in
denen es in der Regel nicht gesundheitsschädlich wirkt, enthalten sei, dass
aber ausnahmsweise auch einmal von dem flüssigen Inhalte der Büchsen so
viel Zinn in eine lösliche, mit ätzenden Eigenschaften versehene Form
gebracht werden könne, dass es gesundheitsschädlich werde. Fütterungs¬
versuche an Thieren mit solchen zinnhaltigen Conserven und analoge Ver¬
suche beim Menschen haben ergeben, dass das Zinn im Körper zum Theil
wenigstens absorbirt werde und dass auf diese Art täglich zugeführte kleine
Mengen Zinn bei Thieren nach längerer Zeit zu das Leben gefährdenden
Intoxic&tionen führen. Hieraus folgert Redner, dass aus dem längere Zeit
hindurch fortgesetzten häufigeren Genuss zinnhaltiger Conserven eine All-
gemeinintoxication, eine chronische Zinnvergiftung, resultiren könne. Es
müsse daher vom hygienischen Standpunkte aus für unstatthaft erklärt
werden, solche zinnhaltigen Conserven in ausgedehnterem Maasse als Nah¬
rungsmittel zu verwenden und sich ihrer etwa zur regelmässigen Ernäh¬
rung auf grösseren Reisen oder der Truppen im Felde etc. zu bedienen.
Eine weitere Aufgabe wäre es, durch eine grössere Untersuohungsreihe fest¬
zustellen, welche Conserven es seien, die besonders stark zinnhaltig werden
und unter welchen Bedingungen dies vorzugsweise geschehe. Es wäre dies
um so wichtiger, als die Conservirung von Nahrungsmitteln in verzinnten
Eisenblechbüchsen doch immerhin so viele Vortheile darbiete und ein Er¬
satz für diese Büchsen so schwer zu beschaffen sei, dass es durchaus wün-
schenswerth erscheine, des Genaueren zu wissen, wann und unter welchen
Umständen man dieselben anwenden dürfe, ohne Gefahr zu laufen, dass der
zu conservirende Inhalt eine nicht mehr zu vernachlässigende Menge Zinn
aufnehme.
Ueber die gesundheitlichen Nachtheile der städtischen
Keller- und Hofwob nungen
referirte Physicus Dr. Jacobi (Breslau), der darauf hinwies, dass, so oft
die Frage der Keller- und Hofwohnungen in ärztlichen und hygienischen
Kreisen discutirt worden sei, stets das Resultat gewesen sei, dass die Anlage
neuer Kellerwohnungen verboten und den Hofwohnungen fortan in höherem
Maasse Luft und Licht gesichert werden müsse. Demungeachtet sei in den
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57. Naturforscheiwersammlung.
letzten Jahren eine Reihe von Bauordnungen erlassen worden, welche, wenig¬
stens in Bezug auf die Kellerwohnungen, jenen Forderungen nicht ent¬
sprechen, wenn auch in allen den Kellerwohnungen mancherlei Beschrän¬
kungen auferlegt seien, die aber theils zu allgemein gefasst, theils überhaupt
nicht fixirbar seien und jedenfalls die gesundheitlichen Bedenken in Betreff
der Kellerwohnungen nicht beseitigen. Die Schädlichkeit der Keller¬
wohnungen beruhe auf ihrem Mangel an Licht und Ventilation, auf ihrer
Zugänglichkeit für die Bodengase und auf dem hohen Feuchtigkeitsgehalt
ihrer Wände. Ausserdem habe wohl jeder Arzt die Ueberzeugung gewonnen,
dass in Kellerwohnungen Krankheiten schwerer heilen als in den oberen
Stockwerken, und dass vielfach Erkältungskrankheiten, wie auch Morbus
Brightii, ferner Intermittens, Scrophulose, Siechthum der Kinder auf den
Einfluss dieser Wohnungsart zurückgeführt werden müssen. Diese persön¬
liche Ueberzeugung so vieler sachverständiger Beobachter wiege aber viel
mehr als die ganze sanitäre Kellerstatistik, wie sie bis heute uns vorliege,
da allen diesen Statistiken der Fehler anhafte, dass die Mortalität nicht in
Beziehung gebracht sei zu den Altersclassen der Lebenden, die Bevölkerung
der Kellerwohnungen ferner eine schnell wechselnde sei und endlich schwere
Krankheitsfälle aus den Kellern fast immer in die Hospitäler transferirt
werden, so dass, wenn sie im Hospitale mit dem Tode enden, diese Todes¬
fälle das Conto der Kellerwohnungen nicht belasten. Er glaube, dass die
übrigen Erwägungen vollauf genügen, um die Gesundheitsgefahrlichkeit der
Kellerwohnungen zweifellos darzuthun. Es sei nicht anzunehmen, dass an
maassgebender Stelle die Uebelständigkeit dieser Verhältnisse verkannt
werde. Man hege nur zu stark die Besorgniss, durch das Verbot neuer
Kellerwohnungen werde die Zahl der billigsten Wohnungen und vielleicht
auch der Antrieb zu Neubauten zu sehr vermindert werden. In dieser Be¬
ziehung aber könne die Erfahrung der Engländer vollkommen beruhigen.
In England seien die Kellerwohnungen früher üblich gewesen als irgendwo
sonst, bis durch die Public Health Act 1875 neue Kellerwohnungen
durchaus verboten und die alten rücksichtslos beseitigt worden seien, so
dass gegenwärtig in London Kellerwohnungen zu den Raritäten gehören.
Auch in Paris seien, nachdem die Industriestadt Lille mit gutem Beispiele
vorangegangen, im Jahre 1883 die MiethsWohnungen in Kellern verboten
worden, die Commission des logements insdtubres habe diesen Erfolg
durch vieljährige Bemühungen erstritten. Die Sorge für billige Arbeiter¬
wohnungen beschäftige nun Staat und Gesellschaft in England weit inten¬
siver als irgendwo sonst, und in keinem anderen Lande habe man so reiche
praktische Erfahrungen auf diesem Gebiete gesammelt wie dort. Trotzdem
könne in England gar nicht mehr die Rede davon sein, die Kellerwohnungen
zu rehabilitiren. Man wisse dort, dass das Bedürfniss nach billigen Woh¬
nungen in grossen Städten nur gedeckt werden könne durch grosse Mieths-
casernen, die sich theilweise mitten in der Stadt und in den Centren des
Verkehrs befinden müssen. Diese Bauten seien unentbehrlich, die Keller¬
wohnungen aber haben sich als ganz entbehrlich erwiesen.
Das Princip der Kellerwohnungen sei ein so schlechtes, dass damit
nicht pactirt werden dürfe, sondern grundsätzlich gebrochen werden müsse,
und man könne nur das Votum früherer hygienischer Versammlungen
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Section für öffentliche Gesundheitspflege. 109
wiederholen, dass Kellerwohnungen gesundheitsschädlich seien und fortan
neu nicht mehr angelegt werden sollten.
Gorreferent Dr. Rosenthal (Magdeburg) giebt Mittheilungen über die
bedeutenden baulichen Umwälzungen Magdeburgs, von denen inan sich für
die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Stadt grosse Hoffnungen
gemacht habe, die nur in sehr geringem Maasse in Erfüllung gegangen
seien. Das beruhe darauf, dass trotz der schönen breiten Strassen die Zahl
der gesundheitlich ungünstigen Wohnungen immer zunehme, namentlich
die übermässig hohen Hintergebäude in kleinen, engen Höfen, in denen die
Luft stagnire und das Sonnenlicht nicht eindringe, so dass den Woh¬
nungen ausreichend Licht und Luft fehle. Eine Hülfe sei hier nur von
einer Aenderung der baupolizeilichen Vorschriften zu erwarten, namentlich
durch Feststellung eines Minimalmaasses für die Höhe der Gebäude und die
Grösse der Höfe und durch die Inhibirung des übermässigen Bebauens von
Grund und Boden.
Bei der nun folgenden Discussion stimmte Ministerialrath
Dr. Wasserfuhr (Strassburg) dem Herrn Correferenten bei, dass der
Nutzen der Stadterweiterungen desswegen meist nicht in gehofftem Maasse
eintrete, weil die neuen schönen, breiten Strassen meist auf Kosten der
Höfe angelegt würden, in denen hohe, mit Menschen überfüllte Hinter¬
gebäude ständen und hierdurch eine Zunahme der Dichtigkeit der Bevölke¬
rung, deren gesundheitsschädigender Einfluss zweifellos sei, bedingt werde.
Andererseits suchte Dr. Dornblüth (Rostock) den gesundheitswidrigen
Einfluss der oberen Stockwerke hauptsächlich in der in den Häusern auf-
steigenden schlechten Luft, die sich bekanntlich, nach den schönen Unter¬
suchungen von Recknagel, durch die Zwischendecken hindurch nach
oben erhebe.
Den letzten Gegenstand der Tagesordnung bildete ein Referat
Ueber die Rauohplage in den Städten und die Mittel der
Abhülfe
von Director Weinlig (Magdeburg), von dessen hochinteressantem Vor¬
trage hier nur ein ganz kurzer Abriss gegeben werden kann. Redner führt
aus, dass bei dem noch stetig zunehmenden Verbrauch von Kohlen zur
Heizung und Erleuchtung von Häusern und Strassen wie zum Betriebe der
Industrie, die Belästigung durch Rauch einen Grad erreicht habe, der drin¬
gend Abhülfe fordere, da er gesundheitsschädlich sei, die Veranlassung zu
schmutzigem Dunst und Nebel gebe, Behagen und Annehmlichkeit des Lebens
störe, Gebäude, Kunstwerke, Kleidung beschmutze etc. Gegen den Staub
der Strassen, gegen die flüssigen Abgänge sei man erfolgreich zu Felde
gezogen, auf dem Gebiete der Rauchbelästigung müsse ein gleiches ge¬
schehen, wenn auch nicht zu verkennen sei, dass hier die Schwierigkeiten
viel grössere seien. Wenn es auch nie gelingen werde, jede Belästigung
durch Rauch gänzlich zu verhindern, so müsse man doch suchen, das Maass
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110 57. Naturforscherversammlung, Section für öffentl. Gesundhpfl.
diese Belästigung auf ein Minimum zu reduciren. Einfaches Rauchverbot
seitens der Behörde sei ein Schlag ins Wasser, die Durchführung wäre ohne
die schwerste Schädigung aller Verhältnisse unmöglich, das haben alle die
zahlreichen Versuche der verschiedenen Länder, die darauf hinausgegangen
seien, gezeigt. Trotzdem dürfe man nicht müde werden, zu versuchen, die
vorhandenen Missstände zu verhindern. Gegen die Ofenfeuerungen in den
Häusern, die bei ihrer vielfach irrationellen Feuerungsmethode grosse
Mengen Rauch liefern, sei vorderhand nichts zu machen, man müsse die
Bestrebungen zunächst gegen die gewerblichen Feuerungen incl. der Central¬
heizungen richten.
Die Mittel hierzu seien sowohl generelle, wie solche, die behufs Be¬
stellung und Aenderung der Anlage von Fall zu Fall eine technische Beur-
theilung oder Untersuchung nöthig machen. Zu ersteren gehöre 1) die
Forderung hoher Essen, die die Verbrennungsprodncte in die höheren
Schichten führen, wo eine ungehinderte Luftbewegung stattfinde und 2) das
Verlangen, dass zur Bedienung gewerblicher Feuerungsanlagen nur Leute
verwendet werden, die die Befähigung dazu haben, Heizer, die auf in
Deutschland noch viel zu wenig vorhandenen Heizerschulen gebildet seien,
da bei der Mehrzahl der jetzigen Feuerungsanlagen von einer regelrechten
und zuverlässigen Bedienung gar nicht die Rede sei, während es bekannt
sei, dass mit einem intelligenten und tüchtigen Heizer meist alle Plage und
Klage über die Feuerungsanlage verschwinde. Daneben aber müsse die
sachverständige Prüfung von Fall zu Fall gehen, da jeder Brennstoff be¬
sondere Construction verlange und es eine ganze Reihe guter Constrnctionen
gebe, unter denen ein Sachverständiger unter Berücksichtigung der örtlichen
Verhältnisse eine passende Auswahl zu treffen vermöge und Mittel und
Wege angeben könne, um bestehende Anlagen so zu verändern, dass eine
wesentliche Verbesserung der Verbrennung und Verringerung der Rauch¬
belästigung erzielt werde. Eine solche sachverständige Prüfung fordern zu
dürfen müsse den Ortsbehörden durch gesetzliche Bestimmungen gewährt
werden.
Hiermit schlossen die dreitägigen interessanten Verhandlungen, die,
wenn sie auch keinen der vorgetragenen Gegenstände in erschöpfender
Discussion zu einem Abschluss gebracht haben, doch nach vielen Seiten hin
anregend und fruchtbringend gewirkt haben werden. Mögen die nächst¬
jährigen Sitzungen der Section, zu deren Vorbereitung für Strassburg eine
Commission bestehend aus den Herren Geh. Medicinalrath Dr. Günther
(Dresden), Dr. Rosenthal und Sanitätsrath Dr. Leo Schulz (Magde¬
burg), Geh. Medicinalrath Dr. Schwartz (Köln) und Ministerial-
rath Dr. Wasserfuhr (Strassburg) gewählt wurde, den diesjährigen
gleichkommen!
A. S.
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Prof. Dr. L. Hirt, Die „Health Exhibition“ in London i. J. 1884. 111
Die „Health Exhibition“ in London im Jahre 1884.
Von Prof. Dr. L. Hirt (Breslau).
Wenn eine Stadt das Privilegium für sich in Anspruch nehmen darf,
durch eine Ausstellung alle die Mittel und Wege zu veranschaulichen, mit
deren Hülfe es gelungen ist, die Ursachen der Krankheiten zu studiren, sie
wenigstens theilweise zu eliminiren und so die Gesundheit der Menschen zu
fördern, dann ist es London, welches mit seinen 4 Millionen Einwohnern
sich eines jährlichen Sterblichkeitsprocentsatzes erfreut, wie man ihn kaum
in gut Bituirten Mittelstädten irgend eines anderen Landes wiederfindet.
Sicherlich studirt man Hygiene da am liebsten und fruchtbringendsten, wo
diese Wissenschaft nicht todter Buchstabe geblieben, sondern wo sie zum
lebendigen Wort, wo sie zur That geworden ist, wo man an ihrer Hand
dargethan hat, wie Vieles im Leben der Menschen verbesserungsfähig ist,
wenn nur der feste Wille, der auch vor materiellen Opfern nicht zurück¬
schreckt, vorhanden ist. Kein Land hat nach dieser Richtung hin auch nur
Aebnliches geleistet wie England, und dem Lande ist seine Hauptstadt stets
mit gutem Beispiele voran gegangen. Der Engländer weiss das und ist stolz
auf seine Leistungen; mit Vergnügen und Interesse besucht er seine „Health
Exhibition* und der Umstand, dass er ihr ganze Tage widmet, lässt an¬
nehmen, dass ihn neben dem Vergnügen auch ein wirklicher Trieb zum
Lernen hinführt. An gewöhnlichen Wochentagen (Eintrittspreis 1 Mk.) sank
der Besuch in den Sommermonaten nie unter 20000 Personen, am Mitt¬
woch, wo man 2y a Schilling (2 J / a Mk.) für den Eintritt erlegen muss, waren
während des August durchschnittlich 14 000 Personen in der Ausstellung
zu finden. Von der Eröffnung bis Mitte August waren 1 950 000 Besuche
zu verzeichnen. Aus diesen Zahlen erhellt, dass die Ausstellung ein Er-
eigniss im Londoner Leben darstellte und den an sich schon hochbedeutenden
Fremdenverkehr zum wahrhaft kolossalen steigerte.
Aber nicht bloss der Laie, auch der Fachmann hat alle Veranlassung,
der Ausstellung seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, und sich mit dem darin
Gebotenen zu beschäftigen; wenn auch hier, wie in allen ähnlichen Aus¬
stellungen, so Manches, ja Vieles war, was mit der Hygiene absolut nichts
zu thun hat, so war doch andererseits mannigfache Gelegenheit zu hygieni¬
schen Studien darin geboten. Wir haben die Ausstellung wochenlang täglich
wiederholt besucht und studirt und können versichern, dass wir ihr un¬
schätzbare Anregungen und nach mancher Richtung hin Belehrung zu danken
haben; mühevoll freilich ist das Suchen und Sortiren, aber der endliche
Lohn entschädigt dafür.
Es kann nicht in unserer Absicht liegen, dem hygienisch gebildeten
Leser eine Beschreibung der ganzen Ausstellung zu bieten; der uns zu Ge-
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Prof. Dr. L. Hirt,
bote stehende Ranm würde das nicht zulassen, und das Unternehmen würde
ein zweckloses sein, denn die Details von Ausstellungen lassen sich nicht
beschreiben, sie müssen besichtigt werden. Wir wollen nur in grossen Zügen
andeuten, was etwa geboten und wie das Gebotene aufge6tellt war; zu
diesem ^wecke empfiehlt es sich unserer Ansicht nach am meisten, einen
planmässigen Gang durch das ganze Gebäude zu machen und das Wichtigere
hervorzuheben.
Im schönsten Theile des Westendes, dicht am South Eensington Museum
gelegen, bedeckt die Ausstellung einen riesigen Flächenraum mit zahl¬
reichen Baulichkeiten, Höfen, Arkaden und Gallerien. Der Haupteingang
befindet sich an der Ostseite (Exhibition Boad ), von hier beginnen wir am
zweckmässigsten unseren Rundgang.
Unmittelbar am Eingänge treffen wir auf eine ungeheure Gallerie (es
ist die südliche), welche lediglich der Ausstellung von Nahrungsmit¬
teln und deren Verfälschungen gewidmet ist. Ein Detailstudium würde
Wochen erfordern — alles was irgend als Nahrungs- und Genussmittel be¬
nutzt werden kann und benutzt wird, alle nur erdenklichen Methoden der
Herstellung, Bereitung und Conservirung derselben, alle Verfälschungen,
wie sie nur der ei finderische Kopf eines in der Praxis ergrauten Beutel¬
schneiders zu ersinnen und ins Werk zu setzen vermag, alles das findet
man, sei es in natura, in Modellen, in trefflichen Zeichnungen und in vor¬
trefflichen Beschreibungen in der südlichen Gallerie ausgestellt; für den In¬
teressenten eine Fülle reicher Belehrung, für das grosse Publicum ein fleissig
besuchter Tummelplatz, wo man auf verschiedene Weise billig, ja sogar
gratis zu kleinen Erfrischungen gelangen kann; auch auf die Bedürfnisse
der Vegetarianer hatte man in anerkennenswerther Weise Rücksicht ge¬
nommen, und der Zudrang zu dem 50 Pfennig-Mittagessen, aus Suppe, zwei
Gemüsearten und Compot bestehend, war ein sehr beträchtlicher.
Als wesentlichen Bestandtheil der südlichen Gallerie finden wir vier
Zimmer (Farmen, dairies ) ausgestellt, in denen die Milchwirthschaft
vor den Augen des Publicums nach den neuesten Principien und selbstver¬
ständlich den strengsten Anfordernngen der Hygiene peinlich entsprechend,
betrieben wird; das Aussehen der Kühe spricht für die richtige Wahl des
Futters und die zweckmässige Einrichtung (Ventilation, Reinhaltung etc.)
des Stalles; Fachleute können sich über die beste Art der Butter- und Käse¬
bereitung eingehend informiren: wenn erforderlich, nimmt das Melken, die
Scheidung des Rahmes von der Milch und die Herstellung der Butter im
Ganzen nur eine Stunde in Anspruch, doch zieht man längere Zeit in An¬
spruch nehmende Methoden vor. Die Milch, wie sie von der Kuh kommt,
fiiesst in zinnerne Gefässe, welche auf einem sogenannten Lewis 1 sehen
Patentmilchheber {milk raiser) stehen, von dort gelangt sie durch linnene
Filter zu dem Rahmscheider {cream Separator ), welcher den Rahm in einem
constant fliessenden Strome abscheidet; dieser Process vollzieht sich in einem
durch Centrifugalkraft getriebenen sich schnell drehenden Gefässe, in welchem
die specifisch leichtereu Fetttheile nach oben gelangen, während die ab¬
gerahmte (schwerere) Milch auf dem Boden bleibt; durch zwei Oeffnungen, 0
von oben und von unten, fliessen Rahm und Milch gleichzeitig ab. Neben
der enormen Zeitersparniss ist auch der Umstand lobend zu erwähnen, dass
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Die „Health Exhibition“ in London im Jahre 1884.
die sofortige Abrahmung das Sauerwerden der Milch unmöglich macht. In
Patentbutterfässern, wie sie Taylor, Bradfordu. A. ausgestellt haben, wickelt
sich der Process der Butterherstellung in wenigen Minuten ab; mit Hülfe
von sehr sinnreich construirten Kühlern ist das Fabrikat in einer Stunde
fest genug geworden, um in Stücke zerschnitten und verpackt werden zu
können. Die von der London and Provincial Dairy Company , von Welford
and Sons u. A. ausgestellten Formen liefern nicht bloss vom nationalökono¬
mischen, den Ertrag und Nutzen betreffenden, sondern auch vom hygienischen
Standpunkte aus, wenn es sich um die Reinheit der Producte, die Ver¬
hütung der Einschleppung von Krankheitskeimen und dergl. handelt, ge¬
radezu Vollendetes.
Im Ostcorridor, ganz in der Nähe, findet man Bäckereien ( bakeries)
und allerlei Backöfen ausgestellt; wenn man den ziemlich kläglichen Zu¬
stand kennt, in welchem sich gerade diese Etablissements in London noch
in jüngster Zeit befunden haben, ein Zustand, der aller Hygiene förmlich
Hohn sprach, dann muss man den Verbesserungen, welche auf der Ausstel¬
lung zu sehen sind, Anerkennung und Zustimmung aussprechen. Zweierlei
besonders hat man anzustrehen versucht: 1) den Ersatz der Handarbeit
durch Maschinen und 2) das Fernhalten des directen Feuers vom Backraume
und Backofen; Punkt eins bedarf keiner Besprechung — wer möchte nicht
gern, und wäre es nur aus ästhetischen Rücksichten, die Hände der Bäcker
beim Kneten des Teiges entbehren? Und dass die verschiedenen Verbren-
nungsproducte fortan nicht mehr zu den Backwaaren gelangen können, wird
man ebenfalls als Fortschritt anerkennen müssen. Ein hochinteressantes
Backofenmodell hat J. Marshall ausgestellt; die Anwendung der Gibsou’-
und B o v e r ’ sehen Gasöfen, welche sich mit geringen Kosten auch an kleinen,
gewöhnlichen („ tenbushel tt bakers oven ) Backöfen anbringen lassen und ohne
Rauch oder irgend Staub zu erzeugen, ohne irgendwie zu belästigen, func-
tioniren, darf als grosser hygienischer Fortschritt bezeichnet werden. Weiter
wäre noch der grossen Bäckerei von Messrs. Hill and Sons ( „bakerstothe
Queen“) zu erwähnen, in welcher Fachleute den Mason’sehen Ofen und
die Pfleiderer’sche Brot Verfertigungsmaschine studiren können.
In unmittelbarer Nähe hei den Backanlagen finden wir einen Pavillon
in Form einesOctagons, in welchem Sir Bolton, der officielle Untersucher
der Trinkwasser der Hauptstadt, die Wasserversorgung Londons,
an der sich acht Gesellschaften hetheiligen, zur Anschauung gebracht hat.
In dem geschmackvoll decorirten Raume finden sich nicht bloss Zeichnungen,
Pläne, statistische Mittheilungen und dergl., welche lediglich ein theoretisches
Interesse haben, sondern man kann auch das praktisch Wichtige, die Art
des Filtrirens und anderer Reinigungsverfahren, ferner den sehr ingeniösen
Apparat, mittelst dessen das Wasser ohne jede Schwierigkeit von Zeit zu
Zeit auf seine Reinheit untersucht wird, studiren und bewundern. In einem
auf der Aussenseite des Pavillons angebrachten Gorridor befinden sich acht
Trinkfontainen, welche dem Publicum ad oeülos demonstriren, in welcher
Weise jede der acht Gesellschaften das Wasser liefert, welchen Grad von
Klarheit und Frische es besitzt, wie es schmeckt u. s. w. Während der un¬
gewöhnlich heissen Augusttage soll der Wasserconsum seitens des besuchen¬
den Publicum8 ein staunenswerther gewesen sein. Wer sich eingehender
Vierteljahruchrift für Gesundheitspflege, 1885. Q
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114
Prof. Dr. L. Hirt,
für die Wasserfrage interessirt, wird u. A. Maignen’s patentirten „ Fütre
Rapide “, der die Reinigung des für das Aquarium erforderlichen Wassers
mittelst eines Asbesttuches, auf welchem Thierkohle und Aetzkalk aus-
gebreitet ist, schnell und zweckmässig besorgt, nicht übersehen dürfen; als
weiteres neues Filtrirmaterial nennen wir «noch das carboHsirte Papier,
dessen Wirkung und Haltbarkeit sehr gerühmt wurde. Von älteren Filtrir-
materialien war der in England sehr geschätzte Eisenschwamm (spongy iron )
auffallend stark vertreten.
Eine höchst originelle, in ihrer Art ganz einzige Ausstellung, finden
wir nicht weit von dem Wasserpavillon, angrenzend an die südliche Central-
gallerie — es ist die Darstellung einer Strasse aus dem alten London;
mit einem Aufwande von 15 000 Pfd. Sterling (etwa 300 000 Mk.) hat man
nach alten Zeichnungen und Plänen Häuser mit Wohnungen und Werkstätten
gebaut, welche genau denen des 16. und 17. Jahrhunderts gleichen. Durch
eines der alten City-Thore (Bishopsgate) tritt man ein und befindet sich in
einer engen Gasse, welche von charakteristisch gebauten Häusern mit stil¬
vollen Giebeln und Fagaden eingescblossen wird; der Besuch bei Abend er¬
höht den Effect, denn da auch die Strassenbeleuchtung genau der damaligen
Zeit entspricht, so umgiebt den Eintretenden ein magisches Dunkel, welches
von dem Lichtmeere der elektrischen Lampen, die die ganze übrige Aus¬
stellung erhellen, wundervoll absticht. Kaum ein anderer Theil war so massen¬
haft besucht, so eingehend, man kann sagen so pietätvoll besichtigt, wie
„OldLondon“, und in der That übertrifft das Geleistete allen Anforderungen,
wie sie nur der Historiker, der Architekt und in gewissem Sinne auch der
Hygieniker zu stellen berechtigt ist; für letzteren ist hier eine vortreffliche
Gelegenheit geboten, sich die Fortschritte, welche man im häaslichen Leben
betreffs Salubrität und Comfort gemacht hat, klar darzulegen und die soge¬
nannte „gute alte Zeit“ nach ihrem Verdienst zu charakterisiren. Für den
Kenner werden die Ausstellungen, welche sich in den alten Häusern be¬
finden, die Art des Gewerbebetriebes (Fabrikation von Spielkarten, Gold-
sachen, Tapeten, Lederwaaren, die alten Buchdruckereien u. 8. w.) von In¬
teresse sein; eine nur halbwegs eingehende Beschreibung des Sehenswerthesten
würde den uns zur Disposition stehenden Raum bei Weitem überschreiten
und auch wohl ausserhalb des Rahmens unserer Aufgabe liegen, wesswegen
wir darauf verzichten.
Von Old London Street gelangen wir durch den Westcorridor direct
zu der interessanten Ausstellung der „ Lighting apparatus “, welche
von den Fachleuten nicht übersehen werden darf. Es handelt sich hier
nur um die Beleuchtung mittelst Gas, Oel und Kerzen, da Alles, was sich
auf die elektrische Beleuchtung bezieht, anderweitig untergebracht ist; zu
erwähnen wäre zunächst der Apparat von Dowson, der ein nicht leuch¬
tendes, nur zu Heizzwecken dienendes Gas herstellt, ferner verschiedene
Arten von Brennern und besonders von Gasmessern; unter letzteren nehmen
die von Glover and Co., sogenannter Normalgasmesser, mit denen man
andere, kleinere, in situ prüfen kann, die erste Stelle ein. Auch ein ein¬
heitliches Maass für Gas „ the cübic foot bottle“ („Cubikfussflasche“), die erste,
welche von der genannten Firma als Norm für das Handelsministerium
gearbeitet wurde, ist ausgestellt. Wer die sanitären Uebelstände kennt,
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Die „Health Exhibition“ in London im Jahre 1884.
zu denen mangelhafte Gasleitungen und -Brenner in den Wohnungen führen,
wie durch sie oft genugdieLuft der Wohnräume verunreinigt wird, der wird
allen diesen Dingen, besonders auch den Brennern und Regulatoren („ gover -
nors“), seine Aufmerksamkeit zuwenden. Verschiedene Arten von Mineral¬
ölen, Kerzen, Lampen mit Sicherheitsvorrichtungen etc. vervollständigen die
Ausstellung und machen sie zu einer sehr sehenswerthen.
Wenden wir uns nunmehr zu den im Gentrum gelegenen Baulich¬
keiten, welche zum grossen Theil von den naohher zu besprechenden fremden
Ausstellungen eingenommen werden, so treffen wir im östlichen Theile der¬
selben, in der nächsten Nähe der Schulabtheilung, einen der Gewerbe¬
hygiene gewidmeten Raum („ Workshop “), in welchem sich manches Be-
achtenswerthe findet; mit ganz besonderer Betonung muss darauf hingewiesen
werden, dass hier in weit höherem Maasse, als es auf der Berliner Aus¬
stellung der Fall war, dem Schutze des Arbeiters vor den Gefahren seiner
Berufsarbeit Aufmerksamkeit zugewendet wird; die hochbeachtenswerthen
Zeichnungen und Modelle, sowie ausgestellten Apparate, welche sich auf die
Gefahren des Nähnadelschleifens, der Blei Weissfabrikation beziehen, die Dar¬
stellungen der Krankheiten und Deformitäten, welche durch Berufsarbeit er¬
worben werden können (von Dr. Steele, Guy’s Hospital), die Vorschläge
zur Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse der Arbeiter u. s. w.
beweisen die Richtigkeit unserer Behauptung; wie leicht begreiflich ist auch
dem Kohlenbergbau und seinen Gefahren ganz vorzugsweise Beachtung ge¬
schenkt, und werden verschiedene neue Fahrstühle, Sicherheitslampen und
eine neue Art Patronen aus comprimirtem Kalk für den Sprengbetrieb die
besondere Aufmerksamkeit der Sachverständigen erregen.
Die gesammte Westgallerie wird von der imposanten Maschinen¬
ausstellung, welche einen der Hauptcentralisationspunkte für das grosso
Publicum bildet, in Anspruch genommen; die Maschinen werden durch eine
Dampfmaschine von 70 Pferdekraft in Bewegung gesetzt und sachverständige
Interessenten werden erfolgreiche Specialstudien über die Herstellung von
Cbocolade, Confect, Marmeladen, Mineralwasser, Seife, Tabak u. dergl. an-
stellen können. Was an maschinellen Verbesserungen und Vervollkomm¬
nungen existirt, ist hier zu finden — weltberühmte Firmen haben alles
Hierhergehörige in der anschaulichsten Weise überaus reichhaltig aus¬
gestellt. In hygienischer Beziehung verdienen die Apparate von Robert
Boyle, selbstthätige Heiz- und Ventilationsapparate, und die von James
Howarth ehrende Erwähnung; mittelst der letzteren kann man die Luft
der Werkstätten warm und kalt, trocken und feucht machen und die Ver¬
unreinigungen durch Zuführung frischer Luft, wobei Zug sorgfältig ver¬
mieden wird, schnell und sicher entfernen. In ähnlicher Weise finden sich
Vorrichtungen (z. B. die von Clark angegebene übrigens ziemlich kost¬
spielige Methode der Entkalkung des Wassers durch Hinzufügen von Kalk¬
wasser), um schlechtes Wasser und ebenso Seewasser geniessbar und wohl¬
schmeckend zu machen. Ausdrücklich erwähnen wollen wir noch zweier
Kaltluftmaschinen, die im sogenannten West-Annexe aufgestellt und
von der höchsten Bedeutung für die Versorgung von England mit frischem
Fleisch geworden sind. Dank dem Vollendungsgrade, zu welchem man es
betreffs dieser Maschinen gebracht hat, ist es möglich geworden, prima
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Prof. Dr. L. Hirt,
Hammelfleisch, welches von den Antipoden herbeigeschafft wird, auf dem
Londoner Markte für 7 bis 8 Pence (60 bis 65 Pf.) pro Pfund zu verkaufen.
Begreiflicherweise werden diese Kaltluftmaschinen nicht bloss beim Trans¬
port geschlachteten Viehes und Fleisches, sondern auch für die Conservirung
von Butter, Milch und anderen dem Verderben ausgesetzten Artikeln, nament¬
lich auch auf Passagierdampfern u. s. w. eine hervorragende Rolle spielen.
Von den ausgestellten zwei Maschinen (J. u. E. Hall) liefert die grössere
stündlich 5000 bis 7000 Cubikfuss Luft in einer Temperatur von 75° unter
Null Fahrenheit (gleich — 59° C.), die kleinere stündlich 2000 Cubikfuss zu
35° F. unter Null; das erstere Quantum genügt zur Conservirung von 85,
das letztere von 20 Tonnen Fleisch. Das Princip, nach welchem diese
Maschinen arbeiten, beruht darauf, dass man Luft (mit Hülfe von durch
Dampfmaschinen getriebenen Luftpumpen) in eigenen Behältern comprimirt.
Durch die Compression der Luft wird eine bedeutende Menge Wärme frei,
die vom Wasser, welches in Röhren circulirt, absorbirt und in den Behältern
festgehalten wird; die abgekühlte Luft lässt man in einen geschlossenen
Aufbewahrungsraum strömen, hier dehnt sie sich aus und durch die Aus¬
dehnung wird die noch in der Luft zurückgebliebene Wärme latent, so dass
die Luft selbst eine ausserordentlich niedrige Temperatur annimmt.
Unter den fremden (nicht englischen) Ausstellungen, welch©
man im Westende der südlichen Centralgallerie und in der West-Central-
gallerie vorfindet, war, abgesehen von der chinesischen, die durch die
Eigenartigkeit und Originalität der Objecte einen ununterbrochenen Vereini¬
gungspunkt für Tausende von Neugierigen bildet, die französische als die
reichhaltigste und am zweckmässigsten geordnete bezeichnet worden. Auf
der östlichen Hälfte der Gallerie gelegen findet man darin zunächst als höchst
bemerkenswerth die Ausstellung der Stadt Paris, welche nicht bloss
ein grosses, vollständig eingerichtetes chemisches Laboratorium, sondern
auch eine Masse Zeichnungen, Modelle und Apparate, welche sich auf
Wasserversorgung und Canalisation beziehen, an Ort und Stelle gebracht
hat; alles, was mit der Strassenreinigung zusammenhängt, Kehrichtkarreni
Besen, Bürsten und allerhand andere Geräthe sind zu Nutz und Frommen
für Jedermann mit peinlicher Genauigkeit aufgestellt und die Art ihrer
Handhabung beschrieben; auch die praktischste Manier der Spülung der
Canäle lässt sich hier studiren. Das Schuldepartement ist nicht bloss
durch die landesüblichen Modelle von Classenzimmern, Subsellien u. dergl.
vertreten, sondern gewährt auch durch die von den jugendlichen Besuchern
und Besucherinnen der Communalschulen verfertigten Gegenstände Interesse;
auch die Handwerks- (Gewerbe-) schulen haben Machwerke ihrer Eleven aus¬
gestellt: unter den Holzarbeiten verdient eine sehr exact gearbeitete
Hobelbank Erwähnung, die ein 14 jähriges Bürschchen in 15 Arbeitsstunden
hergeBtellt hat. Die Ausstellung der Societe des Creches (Krippen) ist reich
an interessanten Modellen, welche dem Fachmanne manches Neue bieten
den. Den Centralpunkt der französischen Ausstellung bilden die in der
Mitte eines Saales aufgestellten Apparate, Modelle, Instrumente und Zeich¬
nungen aus dem Laboratorium von Pasteur, welche selbstverständlich
nur für den Mann der Wissenschaft, der sich an Mikrotomen und Mikro¬
skopen, Temperaturregulatoren, Filtern, Sterilisirungsapparaten u. s. w. er-
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Die „Health Exhibition“ in London im Jahre 1884.
freut, Interesse haben; wer aber im vorigen Jahre auf der Berliner Aus¬
stellung den Pavillon des deutschen Reichsgesundheitsamtes besucht und
die Schätze desselben, namentlich was die Bacteriologie betrifft, studirt
hat, dem wird doch das hier Gebotene, mag es sich auf die Züchtung von
Bacillen, Reinculturen, Impfungen u. s. w. beziehen, mehr vom historischen
als vom praktisch - wissenschaftlichen Standpunkte aus imponiren: gerade
auf dem von Pasteur vertretenen, von ihm mit Genie und Hingebung ge¬
pflegten Gebiete hat die deutsche Wissenschaft, wie es scheint, einen end¬
gültigen Triumph über die französische davongetragen, und es bleibt nur
zu beklagen, dass ein Vergleich zwischen den Arbeiten und den jüngsten
Resultaten Pasteur’s und seiner Schüler einer- und denen Koch’s anderer¬
seits nicht möglich war, weil das deutsche Gesundheitsamt in London nichts
ausgestellt hat. Wie denn überhaupt Deutschland auf der ganzen Aus¬
stellung nur sehr spärlich vertreten ist, kaum dass einige den Herren
Treutler & Schwartz in Berlin zugehörige Ventilatoren und etliche
Respiratoren (Luftfilter), die vor der Einathmung von pathogenen Bacterien
schützen sollen, daran erinnern, dass auch in Deutschland praktische
Hygiene geübt wird. Auch Oesterreich-Ungarn hat mehr Luxusartikel
(böhmische Gläser, Porcellan, Conserven) als wissenschaftlich interessante
Dinge ausgestellt; ähnliches gilt von Russland, welches hauptsächlich
durch seine Pelzausstellung brillirt. Italiens Schnitzereien, Cameen und
Juwelierarbeiten ziehen mehr Neugierige an, als die sehr instructiven Aus¬
stellungen der Ministerien, welche fast sämmtlich vertreten sind; beson¬
ders Hervorragendes haben die des Ackerbaues, der Marine und des Cultus
geleistet. Auch die Ausstellung der Stadt Rom, welche die Wasserleitung
der Stadt, ihre Abfuhr (resp. beginnende Canalisation), ihren Sanitätsdienst,
und nebenbei auch einige sehr werthvolle Antiquitäten demonstriren will,
wird nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ganz be¬
sonders hervorgethan hat sich auch Belgien, dessen Ausstellungsraum gute
fünf Sechstel des sogenannten Queen's Gate Annexe für sich in Anspruch
nimmt; hier findet man vorzugsweise Gegenstände, die sich auf Erziehung
und Unterricht beziehen, Schulgeräthe, Classenein riebtungen, Kindergärten,
Gewerbeschulen, wie Modelle und Zeichnungen, vertreten, nur ein kleiner
Theil ist der Nahrungsmittelhygiene (Herstellung von Chocolade etc.) über¬
lassen. Die chinesische Ausstellung, deren wir schon oben vorüber¬
gehend gedachten, enthält in origineller und sehenswerther Anordnung Alles,
was zum Studium von Land und Leuten dienen kann; sie ist mehr eine
ethnologische, als hygienische Sammlung und kann eine Besprechung an
dieser Stelle nicht beanspruchen; um so mehr Beachtung hat sie bei
dem Volke von London gefunden, welches sie so massenhaft frequentirte,
dass der weitere Zudrang oft polizeilich inhibirt werden musste. —
Wenn wir unsere Skizzen hiermit schliessen, so sind wir uns sehr wohl
bewusst, kaum das Hauptsächlichste und Wichtigste angedeutet zu haben;
nichtsdestoweniger wird man schon aus dem Mitgetheilten ersehen können,
dass die Londoner Ausstellung ein hochverdienstliches Unternehmen war,
welches nicht ohne Einfluss auf die Fortentwickelung der Hygiene, vielleicht
auch in Deutschland, sein wird.
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Prof. Dr. J. Uffelmann,
Das ungesunde und das gesunde Haus
auf der Londoner internationalen Hygieneausstellung
des Jahres 18S4.
Von Prof. Dr. J. Uffelmann in Rostock.
Zu den instructivsten Objecten der Londoner internationalen Hygiene¬
ausstellung des Jahres 1884 gehörten ohne jeden Zweifel das gesunde und
das ungesunde Wohnhaus, welche seitens einer besonderen Commission auf
den Vorschlag von H. H. Colli ns erbaut worden waren. Sie boten dem
Besucher eine solche Fülle des Interessanten und Lehrreichen, dass man
sich unwillkürlich gedrängt fühlte, sie immer aufs Neue zu besichtigen und
zu studiren. Es war in der That ein sehr glücklicher Gedanke des eben¬
genannten Herrn, die Ausstellung durch die Vorführung eines fehlerhaft
und eines fehlerfrei construirten Hauses zu bereichern. Wie hätte man
wohl das ganze, wichtige Detail der Bau- und Wohnungshygiene dem Pu¬
blicum besser ad oculos demonstriren können, als gerade durch diese Me¬
thode? Keine Zeichnung, kein Modell würden in gleichem Grade instructiv
gewirkt haben. Von besonders hohem Werthe aber war es, dass man bei
dem Aufbau und der Einrichtung des fehlerhaften Hauses gerade die¬
jenigen Mängel und Uebelstände vorführte, welche thatsächlich sehr häufig
Vorkommen und doch den Meisten nicht einmal als solche bekannt sind,
die selteneren aber fortliess. So dürfen wir voll und ganz in das Lob
einstimmen, welches von allen Seiten der betreffenden Commission für ihr
Vorgehen gespendet worden ist. Da aber die beiden Häuser so ungemein
belehrend wirkten, so dürfte es wohl am Platze sein, sie auch den Lesern
dieser Zeitschrift in kurzer Skizze vorzuführen.
Das „ insanitary “ und das „ sanitary house u standen inmitten des Aus-
stellung8terrain8 unmittelbar neben einander und so, dass man von dem
einen direct in das andere trat, ohne dass ein Hofraum zu durchschreiten
war. Der Geschäftsausschuss hatte nun durch Drehkreuze die Einrichtung
derart getroffen, dass man zunächst das ungesunde Haus in dessen baSement
floor betrat, es dann von unten nach oben bis zur höchsten Etage durch¬
wanderte, von letzterer in die entsprechende Etage des gesunden Hauses
gelangte, dieses bis zum basement floor abwärts steigend besichtigte und
darauf in den Hofraum kam. Man war somit gezwungen, sämmtliche Par¬
ti een der beiden Häuser zu betreten. Sehr zweckmässig hatte der Geschäfts-
ausßchuss noch alle bemerkenswerthen Punkte — 115 an der Zahl — be¬
sonders bezeichnet. Ueberdies konnte man am Eingänge des insanitary
house einen „ Guide to the sanitary and insanitary houses u kaufen, der alle
jene Nummern in kurzer, gemeinfasslicher Weise erläuterte.
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119
Das ungesunde und das gesunde Haus.
Ich beginne mit der Besprechung des ungesunden Hauses. Bei
der Construction desselben hatte zweifellos nach vielen Richtungen hin die
vortreffliche Abhandlung Pridgin Teale’s 1 ) zum Vorbild gedient, der,
von der richtigen Ansicht ausgehend, dass gerade die Kenntniss fehlerhafter
Anlagen von sehr hohem Werthe sei, im Jahre 1883 die Mängel der Wohn¬
häuser an der Hand von 70 Federzeichnungen beschrieb. Dabei war
seitens der Commission, wie ich hier besonders betone, zweckmässigerweise
vermieden worden, die Fehler zu häufen oder zu übertreiben. n No attempt
has becn made , to exaggerate defects , but the object was , to represent a state
of things only too common w , so heisst es in dem Vorworte zu dem eben er¬
wähnten Guide , und so verhielt es sich in der That.
Das Haus hatte einen kleinen Vorraum, einen basement floor t einen
ground floor , einen bedroom floor und einen attic floor , welcher letztere den
Bodenraum vorstellte. Aussen an dem Hause und unter einem Fenster be¬
fand sich als erster Fehler ein sehr geräumiger Kehrichtraum, welcher,
lediglich aus Brettern hergerichtet, mit der einen Wand unmittelbar an die
Hauswand stiess. Dieser Stelle gegenüber zeigte sich im Innern des base¬
ment floor ein missfarbiger Fleck, der eben in Folge jener Berührung des
von organischen, feuchten Massen reichlich erfüllten Behälters mit der
Mauer entstanden sein sollte. Zwischen dem Fundament und dem Oberbau
lag nur dünner Asphaltfllz; die Innenwände erschienen desshalb ringsum
bis zu wechselnder Höhe feucht, weil eine solche Isolirschicht nicht genügt,
um das Empordringen der Feuchtigkeit von unten in das Mauerwerk zu
hindern. Die Hygiene verlangt eine ungleich bessere Isolirung, für welche
die geeigneten Materialien beim gesunden Hause zu Anden waren. Ferner
fehlte unter dem Souterrain des insanitary house im ganzen Bereiche des¬
selben eine luft- und wasserdichte Schicht, wie sie zur Fernhaltung der
Bodengase und der Bodenfeuchtigkeit mit Recht für nöthig erachtet wird.
Auf dem Boden lagen vielmehr die Dielenbalken frei auf und waren aus
diesem Grunde der Durchfeuchtung, sowie der Wucherung von Hausschwamm
ausgesetzt, zumal man keinerlei Vorkehrung zur Ventilation des jene Dielen¬
balken enthaltenden Raumes getroffen hatte.
Die Wände der Corridore und der Zimmer trugen graue und
gelbliche Tapeten mit Arsenikfarbe. Es waren absichtlich keine grüne ge¬
wählt, um den Besuchern zu zeigen, dass auch nicht grüne Tapeten mit
giftigen Farben hergestellt werden. Der Beleuchtung dienten zu spar¬
sam angebrachte Fenster, am Abend aber Gasflammen, über welchen sich
keinerlei Vorrichtungen zur Fortleitung der Verbrennungsproducte befanden,
so dass die letzteren fortdauernd der Zimmerluft sich beimengten. Als
einzigen Heizapparat hatte man einen Gasofen aufgestellt, und zwar
gleichfalls ohne irgend welche Vorkehrung zur Ableitung der Verbrennungs¬
producte. Oefen dieser Art sind in England seit einiger Zeit recht häufig
anzutreffen, und desshalb war es sehr zweckmässig, auf das Fehlerhafte
derselben aufmerksam zu machen. Besondere Ventilationseinrich¬
tungen fehlten im insanitary house vollständig; die vorhandenen Fenster
9 Pridgin Teale, Dangers to heultb, 1883.
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120
Prof. Dr. J. Uffelmann,
zeigten den alten schwierig za handhabenden Oeffnongs- and Schliessungs¬
mechanismus, der die englischen Schiebefenster so unbequem macht.
Mangelhaft war ferner die Wasserversorgung. Eine Hauptwasser-
cisterne hatte ihre Lage im attic floor unter dem Dache, war ohne Be¬
deckung und desshalb der Verunreinigung in hohem Grade ausgesetzt.
Ueberdies stand diese Cisterne durch ein Rohr in Verbindung mit dem
Wassercloset der nächst unteren Etage, so dass schlechte Gase von dem¬
selben in das Wasser gelangen konnten. Eine andere offene Cisterne in
der untersten Etage diente zur Versorgung der Küche und als Trinkwasser¬
behälter, war aber sehr schwer zugänglich und lag genau unter dem Wasser¬
closet der oberen Etage, welches noch dazu keinen wasserdichten Boden
hatte, so dass es sehr leicht eine Verunreinigung des Wassers durch hinab¬
sickernde Schmutzflüssigkeit bedingen konnte. Die nämliche Cisterne ver¬
sorgte das Dienstbotenwassercloset, und endlich lief das Ueberlaufrohr direct
zum house drain , was Beides als hygienisch durchaus unzulässig betrachtet
werden muss. Der Guide geht allerdings ein wenig zu weit, wenn er es
als feststehende Thatsache ausspricht, dass der Uebergang von
schlechten Gasen aus Closet und Drain ins Trinkwasser eine yjertile cause
of typhoid fever and diphtheria* sei. Aber es war gut, das Publicum zu
warnen.
Die Aborte des ungesunden Hauses lagen ausnahmslos dunkel, was
mit Rücksicht auf die Erkennung von Defecten und Besudelungen zu ver¬
werfen ist, und entbehrten einer angemessenen Ventilation. Zwei Aborte
waren sogar unter der Treppe hergerichtet — ein in England gar nicht
seltener Uebelstand der Häuser. Ueberall fanden sich Wasserclosets, doch
nirgends tadellose. Das „ servants water closet u war ein sogenanntes n long
hopper closet* i das ungemein schwer rein zu halten ist; das Wasser floss aus
der allzu niedrig angebrachten Cisterne mit sehr schwacher Spülkraft und
lief ausserdem lediglich von einer Seite hinzu. Endlich traf der Ablauf¬
canal unter rechtem Winkel auf den house drain . Ein anderes Wasser¬
closet war ein sogenanntes „ pan closet u , welches jetzt in England ebenfalls
perhorrescirt wird, weil der Container unter der pan stets beschmutzt ist
und unreine Luft enthält, die bei jeder Abwärtsbewegung der pan in die
Höhe steigt. Ein drittes Closet, gleichfalls ein pan closet , hatte den soge¬
nannten D-Verschluss unter dem Container , einen Verschluss, der in Eng¬
land stark verpönt ist, weil er zur Anhäufung von Schmutz Veranlassung
giebt, wenn er auch die Canalgase am sichersten abhält. Hier war der
Boden unter dem Closet nicht wasserdicht hergestellt. Der Guide sagt in
Bezug auf diesen letzteren Uebelstand: n This is a very common defect\
leakage from doset would saturate the floor and wdlls below*
Eine mangelhafte Einrichtung zeigte auch das Bad. Das reine Wasser
floss durch die nämliche Oeffnung am Boden ein, durchweiche das schmutzige
abgeleitet wurde. (Der Guide bemerkt dazu, dass diese Einrichtung eine
sehr gewöhnliche ist; und doch muss es Jedem einleuchten, dass sie eine
Verunreinigung des zufliessenden Wassers mit sich bringt.) Ferner war
das Ueberlaufrohr der Wanne mit dem Abflussrohr verbunden, letzteres
aber in den D-Verschluss eines Wasserclosets eingeführt. Endlich hatte
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Das ungesunde und das gesunde Haus.
der Fa8sboden des Baderaumes kein Gefalle nach irgend einem Punkte
hin; auch stand das hier angebrachte Ablaufrohr, wie das der Wanne selbst,
in Verbindung mit dem Closetrohr, so dass schlechte Gase emporsteigen
konnten, zumal sie durch>die grössere Wärme des Badezimmers angesogen
wurden. — Zum Wasserclosetrohr lief auch das Rohr des Abwasser-
eingusses, der überdies an einer fast dunkelen Stelle angebracht war.
Der Kücheneinguss hatte Glocken Verschluss.
Ich komme nunmehr zu dem Haus-und dem Unrathrohr, auf deren
richtige Anlage die englische Gesundheitstechnik einen so besonders hohen
Werth legt, und deren häufige Mängel gerade der vorhin erwähnte Pridgiu
Teale so ungemein eingehend beleuchtet hat. Das ungesunde Haus hatte
zunächst die soil pipe , d. i. das Unrathrohr, welches die Ablaufcanäle der
Wasserclosets aufnimmt, im Innern, während sie ausserhalb der Wände ver¬
laufen soll; dies Rohr war ausserdem undicht, weil an den Vereinigungs¬
stellen nur mit Kitt versehen, und lief in den Hauscanal unter rechtem
Winkel ein, was unter allen Umständen zu vermeiden ist, hatte auch keine
VentilationsVorrichtung, die speciell für dies Rohr als unerlässlich betrach¬
tet wird.
Der Hauscanal, in den die soü pipe einmündete, war aus irdenen
Röhren hergestellt, die aber an den Vereinigungsstellen Defecte zeigten.
Hier hatte man nämlich die Cementirung nur im oberen, nicht auch im
unteren Umfange der Vereinigungsstellen ausgeführt und dadurch eine
Fahrlässigkeit nachgeahmt, wie sie von den Arbeitern sehr oft begangen
wird. Ausserdem war das Gefälle des Hauscanals ein durchaus ungenügen¬
des, und endlich fehlte der disconnecting trap zwischen ihm und dem
Strassencanal, so dass die Gase des letzteren ohne Weiteres in ersteren ein-
treten konnten.
Das Regenwasserrohr des ungesunden Hauses lag nahe den Fen¬
stern und hatte directe Verbindung mit dem Unrathrohr; ein ungemein
häufiger Uebelstand, auf den der Guide (unter Nr. 34) besonders aufmerk¬
sam macht.
Alle in diesem Hause befindlichen Rohrverschlüsse waren als
mangelhaft bezeichnet. Dies dürften sie in der That gewesen sein. Denn
es waren entweder D ~traps % deren bauchiger Theil, wie schon oben gesagt,
sehr leicht zur Ansammlung von Schmutzstoffen Veranlassung giebt, oder
belltraps , Glockenverschlüsse, die durch leichten Druck überwunden werden,
ebenfalls Schmutz in sich behalten, desshalb in England mit Recht verpönt
und durch die neuen Byelaws des Local Government Board völlig in Miss-
credit gekommen sind 1 ).
Im Vorplatze des gesunden Hauses, dessen Beschreibung jetzt folgt,
stand ein kleiner, aus verzinktem Eisenblech hergestellter Kehricht¬
behälter, der den Kehricht von nur einem bis zwei Tagen aufzunehmen
*) Der Guide sagt von dem belltrap: This trap should uever be used under any cir-
cumstances. It is bad, because its form is such, that it readily collect» filth, because the
small quantity of water, which forros the trap, soon evaporates, and because the opening
to the drain is no longer trapped, when the grating is removed or the bell broken.
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122
Prof. Dr. J. Uffelmann,
vermochte. Das Hans hatte die nfimliche Zahl der Etagen, wie das un¬
gesunde. Zur Abhaltung der Bodenfeuchtigkeit vom Oberbau waren überall
gute und sicher wirkende Isolirschichten, damp proof courses, eingeschaltet.
Man hatte dazu an einer Stelle eine 3 /« Zoll hohe Asphaltlage, an einer
anderen Schieferplatten in Portlandcement, an einer dritten aber glasirte
Lüftersteine ( perforated sioneware ) verwandt. Der Guide empfiehlt besonders
die zuerst und zuletzt bezeichneten Materialien und bemerkt dabei, dass es
aus hygienischen Rücksichten nöthig sei, die Isolirschicht noch ein wenig
höher, als das Niveau des angrenzenden freien Terrains anzubringen; wenn
dies aber nicht erreicht werden könne, sei die Erde von der Mauer ab¬
zugraben, oder aussen an letzterer eine verticale Lage impermeablen
Materiales aufzuführen. Es sind dies sehr beherzigenswerte Winke. —
Das gesunde Haus hatte unter seinem ganzen basement floor eine den Erd¬
boden bedeckende und hermetisch abschliessende Concretschicht von 6 Zoll
Höhe, die jedes Aufsteigen von Bodengasen verhindern musste. Auf dieser
Schicht lagen die Dielenbalken auf, zwischen denen die Luft frei circuliren
konnte, weil zahlreiche n air bricks u eingesetzt worden waren. Die Tapeten
hatten keine Arsenikfärbe, und ebenso war das gesammte Holzwerk mit
giftfreien Farben — statt mit Bleiweiss, mit Charlton White — angestrichen;
der Fussboden aber parquettirt, also leicht rein zu halten.
Zur Beleuchtung dienten zahlreiche, breite Schiebefenster, die mit be¬
sonderen Vorrichtungen zur zugfreien Ventilation versehen waren. Abends
spendeten in einzelnen Räumen elektrische Glühlampen, in anderen aber
Gasflammen reichliches Licht. Diese letzteren hatten über sich die Oeff-
nungen von Canälen, welche die Verbrennungsproducte direct aus dem
Hause hinausleiteten. Solche Einrichtungen sind in Deutschland noch
ausserordentlich selten, aber sie müssten im Interesse der Gesundheit zumal
da angebracht werden, wo ohnehin die Luft starker Verunreinigung aus¬
gesetzt ist, z. B. in Restaurationen, Concertsälen u.s. w. Ein Ventilations¬
ofen aus glasirten Kacheln und mit Chamottesteinen ausgekleidet sollte
dem Publicum eine zweckmässige Methode der Heizung vorführen. Im
Uebrigen hatte man hier, wie im fehlerhaften Hause, keine weiteren Heiz¬
apparate aufgestellt, weil der sparsam vorhandene Platz dazu nicht aus¬
gereicht hätte. Zahlreiche Ventilationen dienten der Reinhaltung der Luft
im Innern. So fand« ich in der obersten Etage ein vertical an der Wand
aufsteigendes Einlassrohr, in der mittleren Etage einen SherringhamVentilator
zum Einlass von Luft, sowie einen Arnott’schen Klappenventilator zum
Auslass der Luft in den Rauchfang, in der untersten Etage endlich einen
Einlasscanal mit Luftfilter, sowie einen Auslasscanal mit Schliessklappe.
Die Wassercisternen waren aus verzinktem Eisenblech construirt
uud in einem kleinen, aber gut erhellten und leicht zugänglichen Raume
aufgestellt, so dass sie ohne Mühe revidirt werden konnten, was in dem
fehlerhaften Hause nicht der Fall war. Eine der Cisternen versorgte die
Spülcisternen der Wasserclosets, nicht letztere direct, eine zweite lieferte
lediglich Trinkwasser; beide aber waren mit gut schliessendem Deckel ver¬
sehen und ihre Ueberlaufrohre mündeten frei nach aussen. Es bestand
hier also keine gemeinsame Cisterne für Wasserclosets und Trinkwasser.
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Das ungesunde und das gesunde Haus.
Auffallend bleibt aber, wesshalb man bei der Herstellung des sanitary house
nicht kurzweg von der Anbringung der Trinkwassercisterne absah und das
System der constanten Wasserzufuhr einführte, das doch aus hygienischen
Rücksichten entschieden vorznziehen ist. Ich habe keine Erklärung dafür
und finde eine solche auch nicht im Guide . Es ist doch kaum anzunehmeu,
dass die Commission das System der intermittirenden Zufuhr für besser ge¬
halten habe!
Den Aborten war überall ein guter Platz angewiesen. Sie lagen
nach der Nordseite in einem kleinen Ausbau über einander, hatten reichlich
Licht und ausreichende Ventilation durch Fenster. Das Hauptwassercloset
war ein verbessertes Trichtercloset, dem das Wasser von der ganzen Peri¬
pherie her zufloss und das in Folge dessen stets vollständig gereinigt wurde.
Das irdene Syphonrohr unter dem Bassin hatte man an das bleierne Unrath¬
rohr durch Spence’s Metall iunig und fest angeschlossen. Unter dem
Closet befand sich eine bleierne Platte, die das Hinabsickern vorbeifliessen-
der Massen verhüten sollte. Ein zweites Wassercloset war ein sogenanntes
rcdve closet , d. h. es hatte unter dem Bassin eine durch Aufziehen des
Griffes sich bewegende Klappe. Jenseits der letzteren zeigte sich der
Syphonverschluss, von dem ein enges Ventilationsrohr ausging, um ausser¬
halb des Hauses in der Mauerwand frei zu enden. Diese vcdve closets , die
auch noch ein Ueberlaufrohr haben, sind neben den sogenannten flushing
closets zur Zeit die beliebtesten in England und gelten dort für die hygienisch
besten. Auch das Dienstbotencloset dieses gesunden Hauses war ein rohe
closet mit Syphonrohr und nicht mit D-Verschluss. Die Spülvorrichtung
lieferte einen ungemein kräftigen Strahl reichlichen Wassers aus einer be¬
sonderen Closeteisterne.
Das Badezimmer hatte Ein- und Auslassklappen für den Luft¬
wechsel. An der Badewanne selbst sah man ausser den hier völlig separat
verlaufenden Zu- und Abflussrohren noch ein Ueberlaufröhr. Das letztere,
sowie das relativ weite Abflussrohr waren mit Syphonverschluss gearbeitet
und vereinigten sich beide mit dem Regen Wasserrohr. Unter der Wanne
aber befand sich eine Platte von gewalztem Blei, die ein Gefälle zu einer
frei in der Hausmauer mündenden Auslaufröhre hatte.
Der Schmutzwassereinguss war an einer hellen und leicht zu
lüftenden Stelle (nahe dem Fenster) angebracht, aus Porcellan, nicht aus
Metall, hergestellt und zeigte abgerundete Ecken, so dass eine Ansammlung
von Schmutz nicht statt haben konnte. Das Abflussrohr hatte Syphon¬
verschluss mit einer abschraubbaren Kappe und lief zu dem Regen Wasser¬
rohr. Der Kücheneinguss war ähnlich dem Schmutzwassereinguss ein¬
gerichtet.
Das grösste Interesse bot endlich die Canalisirung des Hauses. Man
hatte sie genau nach den Principien hergestellt, welche über diesen Punkt
in der Gesundheitstechnik zur Zeit gelten und welche im Wesentlichen aus
Nordamerika herübergekommen sind. Es ist bekannt, dass in vielen Städten
der Union schon seit einer Reihe von Jahren das Rohrlegen mit grosser
Sorgsamkeit gehandhabt wird, und dass ebendort sehr exacte Ortsstatute
über den in Rede stehenden Theil der Gesundheitstechnik erlassen worden
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124
Prof. Dr. J. Uffelmann,
sind. Als vornehmster Grundsatz gilt, das Unrathrohr ausgiebig durch
einen von unten nach oben streichenden Zug zu ventiliren, so dass die Luft
in demselben niemals stagnirt und stets den Auftrieb nach der höchsten
Stelle jenes Rohres hin bekommt. Man sucht dies dadurch zu erreichen,
dass man den house drain frei enden lässt und oberhalb der betreffenden
Stelle einen auf ebener Erde ausmündenden Lufteinlasscanal herrichtet, das
Unrathrohr aber bis über das Dach fortfahrt und hier mit einem Luftsauger
krönt. Auf solche Weise wird in der That eine Stagnation schlechter Gase
verhindert, welche dann die etwaigen Syphonverschlüsse nicht mehr forciren
können. Ein zweiter Grundsatz ist der, das Unrathrohr, wenn irgend mög¬
lich, ausserhalb des Hauses und zwar fin der Nordseite anzulegen, weil es
an dieser den directen Sonnenstrahlen nicht ausgesetzt ist. Sollte es jedoch
aus irgend einem Grunde im Innern angelegt werden müssen, so wird ge¬
fordert, dass man lediglich gusseiserne Rohre mit Bleiverbindung anwendet.
Als dritten Grundsatz stellt man den auf, dass der Hauscanal stets vom
Strassencanal durch einen möglichst sicher wirkenden Syphon abgeschlossen
ist. Der Hauscanal und das Unrathrohr sollen ein continuirliches Rohr
bilden, ersterer sanft ansteigend, letzteres vertical ohne Curven und Winkel
verlaufen. In den verticalen Theil hat man lediglich Unrathstoffe, in den
horizontalen das Schmutzwasser aus den Souterrains und das Regenwasser
mit dem Schmutzwasser der oberen Etagen einzuleiten, die Ueberlaufrohre
aber frei in der Aussenmauer münden zu lassen, damit sie als „f oaming
pipes u dienen können.
In dem gesunden Hause war nun der Hauscanal aus eisernen Röhren
hergestellt, deren Vereinigungsstellen man mit Blei geschlossen hatte. Sein
Gefälle betrug weit mehr, als das Minimum, welches gefordert wird (1:50),
Das Unrathrohr war aus Blei, lag ausserhalb des Hauses und lief ohne
Curven aufwärts bis über das Dach, wo es mit einem Luftsauger gekrönt
war. Es nahm in seinem ganzen Verlaufe nur die Abläufe der Wasser-
closets auf. Das Regenwasserrohr öffnete sich nicht direct in den
Hauscanal, sondern in einen irdenen Gully , der mit Syphonverschluss ver¬
sehen war; es empfing auch das Schmutzwasser vom Bade und vom Ab¬
wassereinguss, diese aber ifl Röhren, welche sich mit ihm, dem Regenrohr,
in einem v open head u vereinigten, so dass also die directe Luftcirculation
von Rohr zu Rohr unterbrochen war und ausserdem jedes einzelne Rohr
leicht gereinigt werden konnte.
Hinter dem Hause, doch ganz nahe demselben, war eine sogenannte
„impecting chamber u eingerichtet, eine cementirte, etwa Vs m lange, w ^ e
breite und I m tiefe Grube, die mit dickem Glase Überdacht auf ihrem Boden
vier Canäle zeigte. Letztere, in ihrem oberen Umfange völlig frei gelegt,
liefen unter spitzem Winkel zusammen und zu dem house drain hin. Sie
waren a) der Zulauf vom Gully des Oberflächen wassere, b) derjenige des
Unrathrohres, c) derjenige vom Gully des Regenwasser-SchmutzWasserrohres
und d) derjenige von dem Wassercloset im Souterrain. Diese Kammer, die
unter anderen Verhältnissen mit einer eisernen Platte fest zugedeckt sein
würde, gestattete leichten Zugang zu den Röhren zum Zwecke einer Revi¬
sion und Reinigung.
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125
Das ungesunde und das gesunde Haus.
Vor dem Hause befand sich ein zweiter Einlass, der „ mankole u . Auf
seinem Grunde erblickte man den „ disconneding trap u , d. i. den Syphonver-
schluss zwischen Haus- und Strassencanal. Luft gelangte von aussen in den
manhöle , von da in den Hauscanal, der gerade unterhalb der äusseren Oeffnung
des manhöle in den absteigenden Theil des Sy phonroh res überging. Diesem
Inlet entsprach als Outlet die Dachöffnung des Unrathrohres, so dass also
atmosphärische Luft von der Oeffnung des manhöle durch den Hauscanal
und jenseits desselben durch das Unrathrohr strich, um oberhalb des Daches
zu entweichen.
Es geht hieraus hervor, dass Alles gethan war, um dem Hause gute
Luft zu sichern. Die Furcht vor dem „ setoer gas u ist bekanntlich in Eng¬
land und Nordamerika sehr gross, so dass man sich wohl erklären kann,
wesshalb der Rohrlegung dort eine so besondere Aufmerksamkeit zugewandt
wird. In Deutschland achtet man die Gefahr weniger hoch, ist insbesondere
der Meinung, dass die Ganalluft nicht direct und für sich allein bestimmte
Krankheiten, beispielsweise Diphtherie und Typhus zu erzeugen vermöge.
Wer Recht hat, ist meiner Ansicht nach durch die bisherigen Untersuchun¬
gen noch nicht endgültig entschieden, da die Ergebnisse des Experiments
keineswegs voll mit den Beobachtungen in der Praxis übereinstimmen.
Immerhin wird Jedermann anerkennen müssen, dass reine Luft die Grund¬
bedingung der Gesundheit ist, und dass diese reine Luft in den an Canäle
angeschlossenen Wohnungen ohne richtige Anlage der Rohre sich nicht
erreichen lässt. In Bezug auf eine solche Anlage aber konnte das gesunde
Haus der Londoner internationalen Hygieneausstellung thatsächlich als
Muster dienen.
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12G
Oberstabsarzt Dr. Frölich,
Beitrag zur Wiederimpfung.
Von Oberstabsarzt Dr. Frölich (Möckern)*
Die Beobachtung, dass die Pockenimpfang nicht für immer, sondern
nur auf Jahre den Menschen gegen die Pockenkrankheit schützt, hat das
Bedürfnis der Wiederimpfung erzeugt. Der Zeitpunkt, wann sich dieses
Bedürfnis für den Einzelnen geltend macht, ist zwar individuell verschieden,
allein die Erfahrung hat eine Anzahl von Jahren erkannt, nach deren Ab¬
lauf ein grosser Theil der einmal Geimpften durch die erste Impfung nicht
mehr vor Ansteckung geschützt erscheint. Man hat festgestellt, dass etwa
14 Jahre nach der erstmaligen erfolgreichen Impfung Empfänglichkeit für
den Impfstoff wieder eiutritt, dass die Empfänglichkeit für die Wieder¬
impfung zwischen 14. und 22. Lebensjahr ihren Höhepunkt erreicht und
dass zumal vom 20. Lebensjahre an wieder erhöhte Pockensterblichkeit der
einmal Geimpften sich bemerkbar macht.
UebereinBtimmend mit diesen Erfahrungen pflegen nur einmal Geimpfte,
besonders zu Zeiten, wo Pocken herrschen, aus freiem Antriebe sich wieder¬
impfen zu lassen und die Gemeinden und Staaten ihrerseits unterstützen
diesen Selbstschutz oder zwingen wohl auoh zu letzterem. Unter Umständen,
wo Menschen gehäuft Zusammenleben, wo also die Pockenansteckung
erleichtert wird und verheerend wirken kann, z. B. in Waisenhäusern,
Schulen, Casernen etc., da war es besonders, wo Aerzte sich um regelmässige
Wiederimpfungen bemühten *), oder wo Staat und Gemeinde dieselben zu
fordern sich veranlasst sahen.
Was das Heerwesen anlangt, so ist hier, wie in vielen anderen sanitären
Dingen, auch in Bezug auf den Werth der Wiederimpfung das Richtige
nicht nur frühzeitig erkannt, sondern auch der Erkenntnis» die That, d. h. die
Einführung regelmässiger Wiederimpfungen alsbald gefolgt, und die Ergeb¬
nisse der letzteren waren der Art, dass man diese Wiederimpfungen sowohl
für das Militär endgültig beibehielt, als auch hier und da auf die Civil-
bevölkerungen zwangsweise übertrug.
In England werden erst seit dem 1. Januar 1872 die bereits mit
Blatternarben versehenen Recruten geimpft (vergl. Blaubuch für 1870,
, ) Vergl. die regelmässige Sei» ul Wiederimpfung des Kreismedicinalrathes Dr. Frölich
im Jaxtkreise nach Dr. Cless: „Impfung und Pocken in Württemberg“. Stuttgart 1871.
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127
Beitrag zur Wiederimpfung.
S. 556); auch sind alle Soldatenkinder 10 Jahre nach der ersten Impfang —
und zwar mindestens mit 2 Stichen — wiederznimpfen. Zar Beleuchtung
des Erfolges weist man auf die Epidemie 1881 in Indien hin, bei welcher
von 58 728 Mann nur 17 an Pocken erkrankten und bloss 1 Mann starb.
In Frankreich ist nach Mora che die Wiederimpfung zwangsweise
durch KriegsministerialVerordnung vom 31. December 1857 seit 1858 für
alle Recruten eingeführt. Bis 1857 hatte das französische Heer unter
je 1000 Todesfällen durchschnittlich 30 Pockentodesfalle; diese Ziffer fiel seit
1864 auf 13 und später (1872 u. ff.) auf 7 bis 8 *). Der Krieg 1870/71
fand eine seit 1869 wüthende Epidemie bereits vor, welche Nahrung fand
durch viele Tausende junger Leute, die aus Zeitmangel nicht mehr geimpft
werden konnten. Yallin behauptet in der Revue d'hygihne von 1882, dass
sich die Verhältnisse seit 1871 bedeutend gebessert haben, dass sich aber
noch immer bei einem Effectivbestande von 500000 Mann rund 2000 Pocken¬
erkrankungen mit 200 Todesfällen ereignen. Neuerdings beschäftigt man
sich im französischen Heere mit der Impffrage sehr eingehend. Nach einem
amtlichen Bericht in den Archivcs de medecine et de pharmacie militaires
(Juni bis September 1884) hat man Recruten, um über den Werth der ver¬
schiedenen Lymphen ins Klare zu kommen, mit 7 bis 10 Impfstichen wieder¬
geimpft und dabei Erfolg gehabt mit Kälberlymphe in 65*04 Proc. Fällen,
mit Kinderlymphe in 56*66 Proc., mit Lymphe einmal geimpfter Erwachsener
in 54Proc., mit Lymphe niemals geimpfter Erwachsener in 54Proc. und
mit Lymphe wiedergeimpfter Erwachsener in 44*84 Proc. Der Verfasser,
M. Longet, empfiehlt hiernach für die militärische Wiederimpfung in
erster Linie die Kälberlymphe.
In Belgien bezieht man neuerdings zur Wiederimpfungnöthige Lymphe
aus der Militärschlachtanstalt, wo die Kälber und Kühe vor dem Schlachten
geimpft werden. Im Jahre 1882 hatte man bei den schon einmal Geimpften
in 37 Proc. der Fälle Erfolge. Das belgische Heer hat noch immer jährlich
110 bis 200 Pockenerkrankungen mit durchschnittlich 22 Todesfällen zu
verzeichnen.
Ueber Wiederimpfungen in Italien und zwar bei den im Venetianisehen
stehenden Truppen im Jahre 1867 berichtet Manayra (vergl. Feldarzt
Nr. 1, 1869). Es wurden 51 Vit Proc. mit vollkommenem oder unechtem
Erfolg geimpft und wiedergeimpft. Ebenda kamen 69 Pockenfalle vor,
von denen 49 auf nicht Wiedergeimpfte und 20 auf Wiedergeimpfte kamen;
nur von jenen starben 4.
Sehr wissenswerthe Aufschlüsse über die Wiederimpfungen und die
Zahl der Pockenkrankheitsfälle und -Todesfälle im österreichischen Heere
liefern die lehrreichen militärstatistischen Jahrbücher. Nach letzteren
schwankte der Verpfiegungsstand dieses Heeres in den 11 Jahren von 1869
bis 1879 meist zwischen 240 000 und 270 000 Mann, nur im Jahre 1878
*) Vergl. auch Baudoin’s Bericht über die Wiederimpfung der Soldaten im Rec.
de mem. de m6d. etc., 3. s6r., XXX, p. 591, Nov. et Dec. 1874.
Betreffs Hollands vergl. „Wiederimpfung im holländischen Heere im Jahre 1877“, dar¬
gestellt von van Hasselt im Weekbl. van het Nederl. Tijdschr. 10.
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128
Oberstabsarzt Dr. Frölich,
erhob er sich auf 324 000 und fiel 1879 auf 282 000. Die einschlagenden
Feststellungen sind folgende:
Zugang an
Wieder-
Blatternkranken
Blattern-
Jahr
Impfungen
Impfungen
in Heilanstalten
todesf&lle
1869
. •
. 1568
2 648
1717
59
1870
. 3 645
8 548
1750
44
1871
. 6 870
10519
1907
97
1872
. 11015
47 790
3948
247
1873
. 11035
46 790
4003
266
1874
. 5 357
25 439
2371
163
1875
. 4 267
14 834
841
54
1876
. 3 967
11 544
689
27
1877
. 3 380
16 588
1043
65
1878
2 664
13 585
1070
50
1879
. 2 764
13 612
832
61
Die Wiederimpfungen des gedachten Zeitraumes haben der Zahl nach
ganz beträchtlich geschwankt. Die HöchstzifFer fallt in das Jahr 1872, wo
bei Hinzunahme der Impfungen etwa % aller eingetretenen Recruten
geimpft und wiedergeimpft worden sind. Die Wiederimpfungen nehmen
von 1874 wieder erheblich ab und erstrecken sich im Jahre 1878 nur auf
etwa die Hälfte der Recruten. Der Erfolg der Wiederimpfungen war in
nahezu 30Proc. der letzteren zu beobachten. Die meisten Blatternerkran¬
kungen kamen in den Jahren 1872 und 1873 vor; ihre Zahl wurde in den
nächsten Jahren viel geringer (1876 nur noch den sechsten Theil des frühe¬
ren Höchststandes betragend) und hielt sich schliesslich annähernd in der
jährlichen Höhe von 1000. Die Summe der an Pocken in Heilanstalten
Behandelten beträgt für die elf Jahre 20 171 und die Sterblichkeit 1133 =
5*6Proc. der Erkrankten.
Die auffällig hohe absolute Blatternsterblichkeit im österreichischen
Heere legt die Empfehlung nahe, dass das Impfgeschäft grössere Aus¬
breitung im Heere finde und mit denjenigen Mitteln ausgestattet werde,
welche die bisherigen Wiederimpfungserfolge zu verdoppeln geeignet sind.
Der Erfolg der Wiederimpfung hängt von Ursprung und Art der Lymphe,
von der Impfmethode und von der Beschaffenheit des Wiederzuimpfen¬
den ab.
Was das deutsche Heer anlangt, so zeigt sich zunächst in der Zeit,
wo die einzelnen Landesheere noch selbständig organische Heeresfragen
erledigten, folgendes Verhalten:
Im württembergischen Armeecorps sind die Wiederimpfungen
seit 1825 eingeführt. Das Ergebniss war beispielsweise im Jahre 1836,
dass 34Proc. mit Erfolg wiedergeimpft wurden, während bei 25Proc.
der Erfolg unvollkommen war und bei 41 Proc. Erfolg ausblieb.
Im badenschen Armeecorpa wurde die Wiederimpfung 1 ) durch
Allerhöchsten Befehl vom 7. April 1840 reglementarisch geordnet. In dem
30jährigen Zeiträume von 1840 bis 1869 wurden 106 837 Mann wieder-
*) Vergl. „Medicinische Statistik“ etc., von J. Kaiser, Karlsruhe 1871.
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129
Beitrag zur Wiederimpfung.
geimpft und zwar mit steigenden Erfolgen, so dass der echte Erfolg in den
ersten fünf Jahren 32*9 Proc., in den letzten fünf Jahren aber 45 Proc. betrug.
Bei den mit Erfolg Geimpften sind 35, bei den nicht oder ohne Erfolg
Wiedergeimpften 334 Pockenerkrankungen vorgekommen. Seit der Ein¬
führung der Wiederimpfung hat sich nur ein Pockentodesfall ereignet und
zwar betraf derselbe einen bei der Mobilmachung 1859 nicht wieder¬
geimpften Recruten in Freiburg.
Im bayerischen Heere wurde die Wiederimpfung 1843 eingeführt.
Bei den 63 171 Bayern, welche in den Jahren 1856 bis 1860 wiedergeimpft
worden sind, war der Erfolg in 45 Proc. der F&lle gut, in 18Proc. unvoll¬
kommen und in 37 Proc. = 0. In den militärischen Etatjahren vom 1. April
1874 bis 31. März 1879 1 ) sind nur 23 Erkrankungen an echten und 56
an modificirten Pocken, und zwar ohne Todesfall vorgekommen.
Im sächsischen Armeecorps fand der Wiederimpfungszwang durch
Kriegsministerialverfügung vom 22. Juli 1868 Aufnahme. In dem Jahre
1872 wurden hier 25 Fälle von echten Pocken und 181 Varioloiden behan¬
delt, dazu kamen die Rückstände des Seuchejahres 1871 von 4 echten und
40 modificirten Pocken; von allen starben nur 4 Varioloidenfalle. 1873 aber
starb von 9 echten Pocken (einschliesslich 1 Rückstand) und 61 Varioloiden
(einschliesslich 9 Rückstände vom Jahre 1872) überhaupt kein Kranker.
Die Erfolge der Wiederimpfung sind besonders zahlreich: im Jahre 1874
65 Proc., 1875 62*5Proc., 1876 71 Proc., 1877 70'5Proc., 1878 69 Proc.,
1879 73 Proc., 1880 83 Proc. und 1881 79 Proc. der Geimpften.
Im preussischen Heere ist die Wiederimpfung durch den Aller¬
höchsten Erlass vom 16. Juni 1834 zwangsweise durchweg zur Einführung
gelangt. Hier wird, wie nunmehr überhaupt im deutschen Reichsheere, jeder
Soldat, auch der freiwillige, innerhalb der ersten 6 Monate nach seinem
Eintritte in das Heer geimpft, und nur diejenigen sind von diesem Zwange
befreit, welche schon vorher Pocken überstanden haben, oder bei welchen
eine Impfung innerhalb der letzten 2 Jahre vor ihrem Eintritte mit Erfolg
vollzogen worden ist.
Preussen hat mit dieser Einrichtung seit 1833 bis jetzt und nament¬
lich noch im letzten grossen (deutsch - französischen) Kriege so zahlreiche 2 )
und werthvolle Erfahrungen gesammelt, dass dieselben allgemein als maass-
geblich für die einschlagende Gesetzgebung erachtet werden und in die
Erinnerung zurückgerufen zu werden verdienen.
Zur Zeit vor der Wiederimpfung starben im preussischen Heere an den
Pocken und zwar im Jahre
1825 . .
12 Mann,
1830 .
. . 27 Mann,
1826 . .
16
n
1831 .
. .108 „
1827 . .
23
n
1832 .
. . 96 „
1828 . .
35
n
1833 .
. .108 „
1829 . .
. 33
T)
1834 .
• • 38 „
in 10 Jahren zusammen 496.
1 ) Vergl. „Statistischer Sanitätsbericht“ etc. München 1881.
2 ) Das preussische Heer hat allein in den Jahren 1833 bis 1860 1 288 471 Mann,
and zwar 48 Proc. derselben mit Erfolg, wiederimpfen lassen.
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1886. 9
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130
Oberstabsarzt Dr. Frölich,
Seit Einführung der Wiederimpfung gestaltet sich das Verhältnis
wie folgt:
Mit Erfolg
•An
Pocken Von
100 Erkrankten
Jahr
wiedergeimpit
erkrankt
gestorben
gestorben
1834
.39-5
Proc.
619
38
61
1835
.42-8
n
259
5
1-93
1836
.46-8
n
130
9
6*9
1837
.49*9
n
94
3
3*2
1838
.50*9
77
111
7
6.3
1839
.51*5
77
89
2
2*25
1840
.54’6
71
74
2
2-7
1841
.57*07
77
59
3
5*1
1842
77
99
2
2-02
1843
.56*98
77
167
3
1-8
1844
.573
77
69
3
4*4
1845
.58-5
77
30
1
3*33
1846
.60-6
77
30
1
3*33
1847
77
5
0
0
1848
77
22
1
4*5
1849
.64-5
77
62
1
1-6
1850
.615
77
176
1
0*6
1851
.64*5
77
246
3
1-2
1852
.69-3
77
87 .
1
115
1853
.69-6
77
138
1
0*7
1854
77
121
3
2-48
1855
.69*7
77
12
0
0
1856
.70*9
77
21
0
0
1857
77
35
1
29
1858
.69,8
77
64
0
0
1859
.691
77
58
2
3*45
1860
. 7203
77
44
3
6*8
1861
.726
77
56
4
714
1862
.69-6
77
25
1
4*00
1863
.72-6
77
90
0
0
1864
.69-7
77
120
1
0*83
1865
.71*2
77
69
1
1*4
1866 (Kriegsjahr) . 6775
77
156
8
5*13
1867
.71-84
77
188
2
1-06
1868
. —
77
3
1
—
1869
77
5
1
_
1870/71 (Kriegsjahr) —
77
—
316 0
—
1872
((einschliesslich
(Württemberg)
77
205
16
—
1 ) ^ ergl. Lotz „Pocken und Vaccination“ Basel 1880. Das französische Heer hat
1870/71 23469 Mann an Pocken verloren. Endgültig feststehende Zahlen wird der dem¬
nächst erscheinende deutsche Kriegssanitätsbericht bringen.
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131
Beitrag zur Wiederimpfung.
Nachdem im 1. Quartal 1873 noch 5 Pockenerkrankungen mit 2 Todes¬
fällen vorgekommen waren und nunmehr (seit 1. April 1873) sich die
Krankheits- und Sterblichkeitsstatistik auf Etatjahre und zwar (seit 1870)
auf Württemberg mit erstreckt, sind dem statistischen Sanitätsberichte
(Berlin 1882) folgende Zahlen zu entnehmen:
Kalender-Jahr
Es wurden
überhaupt
wiedergeimpft
Es wurden
mit Erfolg
wiedergeimpft.
Etatjahr
vom 1. April
bis 31. März
An Pocken
erkrankt starben
1873 . .
. 120326
93 685
1873/74
4
1
1874 . .
. 122 573
98252
1874/75
0
0
1875 . .
. 120264
96 756
1875/76
4
0
1876 . .
. 121244
99 642
1876/77
0
0
1877 . .
. 120673
101243
1877/78
1
0
1878 . .
. 120707
104 648
1878/79
0
0
1879 . .
. 119840
104129
1879/80
• 0
0
1880 . .
. 122100
106264
1880/81
2
0
Danach ist
von Haus aus
der Erfolg der Wiederimpfungen
grösser als
im österreichischen Heere gewesen, und hat sich derselbe im Laufe der
Jahre mehr als verdoppelt, indem er sich von 33*1 Proc. im Jahre 1833 bis
über 70Proc. erhoben hat. Die Pockenerkrankungen, namentlich aber die
Pockensterblichkeit, hat sich seit Einführung der Wiederimpfung ganz
beträchtlich vermindert. In den 9 Jahren vor Einführung der Wieder¬
impfung 1825 bis 1833 kamen 458 Pockentodesfälle vor; in den 9 Etatjahren
1873 bis 1881 dagegen ist in dem inzwischen die Grösse des österreichischen
Heeres erreichenden preussischen (einschliesslich seiner Contingente) nur
1 Todesfall von 11 an echten Pocken Erkrankten zu beobachten gewesen.
Kaum auf irgend einem anderen Blatte weist die Geschichte der Medicin
einen ähnlichen Sieg der ärztlichen Wissenschaft gegen eine der gefürch-
tetsten Seuchen auf!
Es kann nicht Wunder nehmen, dass nicht nur das deutsche Heer trotz
aller theoretischen Ein wände an der Ueberzeugung von den Segnungen der
Wiederimpfung festhielt, sondern dass auch die deutsche Regierung
bemüht war, diese offenbaren Wohlthaten der deutschen Civilbevölkerung
zugute kommen zu lassen. Die Frucht dieser fürsorgenden Bemühung ist
das deutsche Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874, mit welchem die Zwangs-
impfung und Wiederimpfung seit 1. April 1875 in Kraft getreten ist. §. 1
dieses Gesetzes lautet: „Der Impfung mit Schutzpocken soll unterzogen
werden: 1) jedes Kind vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden
Kalenderjahres, sofern es nicht nach ärztlichem Zeugniss die natürlichen
Blattern überstanden hat; 2) jeder Zögling einer öffentlichen Lehranstalt
oder einer Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags- und Abendschulen,
innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das 12. Lebensjahr znrück-
gelegt, sofern er nicht nach ärztlichem Zeugniss in den letzten 5 Jahren
die natürlichen Blattern überstanden hat oder mit Erfolg geimpft worden
ist.“ Es rückt demnach die Zeit heran, von welcher an auch die Wieder¬
impfungen gemäss Reichsgesetz Geimpfter ihren Anfang nehmen werden,
und möchte ich im Hinblick darauf einen Umstand zum Schlüsse besprechen,
welcher gegenüber dem §. 5 des Impfgesetzes in Betracht zu ziehen sein
9*
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132 Oberstabsarzt Dr. Frölich, Beitrag zur Wiederimpfung.
dürfte. Dieser Paragraph lautet: „ Jeder Impfling muss frühestens am sechsten,
spätestens am achten Tage nach der Impfung dem impfenden Arzte vorgestellt
werden.“ Es ist nun die Wiederimpfung ein Eingriff, welcher, sofern er
Erfolg hat, von Fieberbewegungen, ja selbst von geringem oder sogar
mittelgradigem Fieber gefolgt ist. Die Eigenwfirmeerhöhung nimmt man
häufig erst dann wahr, nachdem unmittelbar nach der Wiederimpfung eine
wenige Zehntel, höchstens V 2 Proc. betragende Erniedrigung der bisherigen
Eigenwärme eingetreten ist. Die entschiedene Temperaturerhöhung nimmt
erst 3 Tage nach der Wiederimpfung ihren Anfang und zwar gestaltet sie
sich beim ersten Anlaufe ziemlich beträchtlich, indem sie nicht selten
ununterbrochen in dem Umfange von nahezu 1° sich erhebt. Der Höchst¬
stand der Eigenwärme tritt am Ende der ersten, oder am Anfänge der zweiten
Woche ein und habe ich einmal 39*4° C. als Höchststand beobachtet. Das
Höhestadium dauert nur Stunden; es fallt dann die Eigenwärme 6 Tage lang
oft unter einmaligem Wegfalle der gewöhnlichen Abendsteigung und erreicht
nun erst ihren früheren Normalstand. Diese Eigenwärme- oder Fieber¬
erscheinungen, wie ich sie bei 20jährigen Männern wahrgenommen habe,
sind voraussetzlich bei einem 12 jährigen Kinde weit mehr zu beträchtlichen
Schwankungen und Ausschreitungen geneigt, so dass die vorgeschriebene
Vorstellung des Impflings gerade im Höhestadium der Fieberbewegung
nicht ganz unbedenklich erscheint. Da es nnn meist sich nicht darum
handeln wird, bei dieser Vorstellung von Wiedergeimpften abzuimpfen
(indem nur einmal Geimpfte sicherer Lymphe in Aussicht stellen), sondern
hauptsächlich darum, den Erfolg der Wiederimpfung festzustellen, und da
ferner die örtlichen Zeichen der erfolgreichen Wiederimpfung schon am
vierten Tage mit punktförmigen Stippchen beginnen, so möchte ich zum
grösseren Schutze der Impflinge folgende Maassregeln für die Wieder¬
impfung empfehlen:
1. Die Vorstellung des wiedergeimpften Impflings hat am fünften Tage
nach der Wiederimpfung stattzufinden.
2. Der mit Erfolg wiedergeimpfte Impfling ist vom fünften bis incl.
elften Tage nach der Wiederimpfung vom Schulbesuche zu befreien.
3. Ausnahmliche Abimpfungen vom wiedergeimpften Impfling (meist
am siebenten Tage) sind in der Wohnung desselben vorzunehmen.
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Mittheilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte.
133
Kritiken und Besprechungen.
Mittheilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte.
Herausgegeben von Dr. Struck, Geh.-Oberregierungsrathe, Director
des kaiserl. Gesundheitsamtes. II. Band. Berlin 1884. A. Hirsch¬
wald, 499 Seiten. Mit dreizehn chromolithographischen Tafeln und
dreizehn Holzschnitten (Schluss 1 ).
Y.
Dr.R.Koch, Dr. Gaffky und Dr.Löffler: Experimentelle Studien
über die künstliche Abschwächung der Milzbrand¬
bacillen und Milzbrandinfection durch Fütterung.
Diese Studien bilden die Fortsetzung und den vorläufigen Abschluss
der Untersuchungen, welche über die Schutzimpfung gegen den Milzbrand
mit künstlich abgeschwächtem Milzbrandmaterial im kaiserl. Gesundheits¬
amte angestellt wurden. Die Resultate, zu welchen die bereits im 1. Bande
der Mittheilungen veröffentlichten Versuche geführt hatten, werden kurz
wiedergegeben.
Toussaint und nach ihm Pasteur hatten verschiedene Methoden
zur Abschwächung des Milzbrandvirus angegeben. Mit dem nach Tous¬
saint zubereiteten Impfmaterial — das Blut eines an Milzbrand verende¬
ten Thieres wurde 10 Minuten hindurch auf 55° C. erwärmt, oder dasselbe
erhielt einen Zusatz von einer bestimmten Menge Carbolsäure — konnte
bei Mäusen, Meerschweinchen und Kaninchen eine Immunität nicht erzielt
werden. Die früheren Versuche waren an grösseren Thieren, insbesondere
an Hammeln, nicht angestellt. Das Pas teur’sehe Verfahren der Milzbrand-
abschwächung, Cultiviren der Milzbrandbacillen in neutraler Hühnerbouillon
zwischen 42° und 43° C., war einer experimentellen Nachprüfung noch nicht
unterzogen worden. Die ersten Mittheilungen Pasteur’s mussten beson¬
ders desshalb mit Vorsicht aufgenommen werden, weil der von ihm ganz
allgemein ausgesprochene Satz: Ein einmaliges Ueberstehen des Milzbran¬
des schützt gegen jede fernere Infection, durch die Erfahrung widerlegt
wird, dass bei dem Menschen, bei dem Pferde und bei der Ratte nicht ein¬
mal durch die glücklich überstandene Einimpfung virulenter Milzbrand¬
bacillen Immunität erlangt wurde.
Pasteur’s erfolgreiche Versuche, durch Impfung mit den nach seiner
Methode abgeschwächten Milzbrandculturen Hammel gegen die Einimpfung
*) Anfang siehe Bd. XVI, S. 589 dieser Vierteljahrsschrift.
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134
Kritiken und Besprechungen.
virulenten Milzbrandes immun zu machen, veranlasste das Gesundheitsamt,
diese Versuche an Schafen zu wiederholen.
Es musste zunächst durch mühsame Vorversuche festgestellt werden,
welches die Erkennungszeichen des abgeschwächten Milzbrandes sind, da
Pasteur 1 s Angaben darüber als ungenau sich herausstellten. Zunächst
ergaben diese Vorversuche die fundamentale Thatsache, dass ein virulenter
Milzbrand durch ein Wachsthum zwischen 42° und 43° C. physiologisch
unwirksam wird, ohne jedoch seine Wachsthumsfähigkeit einzubüssen; eine
Rückkehr zur Virulenz findet nicht statt. Durch diesen ganz abgeschwächten
Milzbrand konnten die Thiere indess nicht immun gemacht werden. Da¬
gegen gelang es, Milzbrand unvollkommen bis zu dem Grade abzu-
schwächen, dass durch die Impfung Mäuse starben, Meerschweinchen ge¬
sund blieben. Aber so wenig Meerschweinchen wie Hammel konnten durch
„Mäusemilzbrand“ (er entspricht dem ersten Vaccin Fastenr’s) immun ge¬
macht werden gegen virulenten Milzbrand. Inzwischen war es durch Mit¬
theilungen Thuillieris bekannt geworden, dass von Pasteur als zweiter
Vaccin ein Milzbrand verwandt wurde, welcher zwölf Tage zwischen 42°
und 43° C. gehalten war. Von den Impfversuchen mit diesem zweiten Vaccin
sei nur kurz angeführt, dass von drei geimpften Hammeln einer an Milzbrand
starb, ebenso vier Meerschweinchen von dreissig geimpften.
Zwei Hammel überstanden die Impfung, blieben auch gesund nach
Injectionen von Culturen eines sechstägigen Milzbrandes, welche bei drei von
den restirenden sechsundzwanzig Meerschweinchen Tod an Milzbrand ver¬
ursachten. Nach einiger Zeit Probeimpfung der beiden Hammel und der
übrig gebliebenen Meerschweinchen mit echtem Milzbrand: es starben
sämmtliche Meerschweinchen und einer der vorgeimpften Hammel an typi¬
schem Milzbrand.
Das gleiche Resultat ergaben die Impfungen mit von Pasteur be¬
zogenen Impfstoffen: Von sechs bereits dreimal vorgeimpften Hammeln starb
einer nach Impfung mit virulentem Milzbrand.
Auch durch die sorgfältigste Schutzimpfung lässt sich somit eine un¬
bedingte Immunität gegen den Impfmilzbrand nicht bei allen Hammeln
erzielen. Welches ist nun die Ursache der Abschwächung? Nach der An¬
sicht Pasteur’s ist es der Sauerstoff der Luft, welcher die Abschwächung
bewirkt, nach Ansicht der Verfasser ist es die Temperatur, welche als das
hauptsächlichste abschwächende Moment angesehen werden muss. Geringe
Temperaturschwankungen sind im Stande, erhebliche Differenzen hervor¬
zurufen in dem Verlaufe der Abschwächung. Je höher man geht in der
Temperatur, um so schneller vollzieht sich die Abschwächung. Daher ist
Toussaint's Verfahren im Grunde von dem Pasteur’schen Verfahren
principiell nicht verschieden. Dennoch besteht eine Differenz. Die nach dem
Toussaint 1 sehen Verfahren abgeschwächten Milzbrandbacillen erlangen
in den Culturen ihre ursprüngliche Virulenz wieder, die nach Pasteur
abgeschwächten bewahren jedoch die nach und nach erlangte Virulenz auch
in späteren Generationen, ja sogar in ihren Dauerformen der Sporen. Je
langsamer, also bei je niedrigerer Temperatur die Abschwächung stattge¬
funden hat, um so sicherer scheinen die physiologischen Varietäten ihre
Eigenschaften zu bewahren.
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Mittheilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte. 135
Die Bedingungen, unter welchen eine Rückkehr zur Virulenz eintritt,
bedürfen noch eines genaueren Studiums. Das wissenschaftliche Factum,
dass Hammel durch Einimpfung von Culturen abgeschwächten Milzbrandes
immun gemacht werden können gegen den Impfmilzbrand, war durch die
Versuche der Verfasser bestätigt. Wie verhalten sich nun aber die geimpf¬
ten Thiere gegenüber der natürlichen Infection? Diese Frage ist für die
praktische Verwertbbarkeit der Schutzimpfungen von der grössten Wichtig¬
keit. Pasteur hatte die Ansicht ausgesprochen, dass die natürliche In¬
fection der künstlichen, was die tödtliche Wirkung anlangt, nachstehe. Zur
Entscheidung dieser Frage war es nothwendig, den Modus der natürlichen
Infection zu studiren. Infection durch Stiche von lnsecten, welche auf
Milzbrandcadavern Nahrung zu sich genommen haben, tritt ganz in den
Hintergrund gegen die Infection vom Digestionstractus aus. Pasteur
nahm an, dass auch der Futtermilzbrand (stachliges Material) eine Art
Impfmilzbrand darstelle, dass die Infection erfolge von kleinen, durch das
Futter erzeugten Verletzungen der ersten Wege. Viele Thatsachen sprachen
inde8s dafür, dass der Darm die Eingangspforte des Milzbrandes darstelle.
Erster Versuch: Ausgehöhlte Stücke frischer Kartoffeln mit sporenfreien
Milzbrandbacterien gefüllt und mit Deckelscheibchen geschlossen wurden
Hammeln auf die hintere Partie der Zunge geschoben und von den Thieren
verschluckt. Die Thiere blieben trotz dreimaliger Fütterung gesund. Die
Milzbrandbacillen gehen im Magen des Hammels zu Grunde, sind daher
nicht im Stande, Darmmilzbrand zu erzeugen.
Zweiter Versuch: Einführung erbsengrosser Dosen von Milzbrandsporen
in der beschriebenen Weise. Fünf Hammel starben innerhalb zwei Tagen
an Darmmilzbrand (ausführliche Sectionsberichte). Sporen passiren die
Sphäre des sauren Magensaftes und wachsen in den alkalisch reagirenden
Darmabschnitten zu Bacillen aus, dringen durch die unverletzte Schleim¬
haut des Darmtractus in die Gewebe ein und vermögen auf diese Weise
eine schnell tödtliche Infection herbeizuführen.
Es war nach diesem Versuche in höchstem Grade wahrscheinlich, dass
bei dem natürlichen Milzbrände die Infection von Sporen mit dem Futter
zu Stande kommt.
Um den Modus der natürlichen Infection möglichst getreu nachzuahmen,
wurde die Dosis der Sporen immer mehr verringert und auch alte Sporen
zum Versuche verwendet. Auch nach Fütterung mit sehr geringen Sporen¬
mengenverendeten sämmtliche Hammel an unzweifelhaftem Darmmilzbrand;
unter ihnen auch die früher mit Bacillen gefütterten.
Das Facit der Fütterungsversuche ist noch einmal kurz zusammen-
gefasst folgendes: Der natürliche Milzbrand entsteht durch eine Infection
vom Darm aus durch kleine mit dem Futter aufgenommene Sporenmengen.
Je grösser die Dosis der aufgenommenen Sporen, um so sicherer ist im ein¬
zelnen Falle die Wirkung. Grosse Dosen von Sporen inficiren nach Ein¬
führung per os vom Darm aus eben so sicher und schnell, wie Bacillen resp.
Sporen nach Impfung in oder unter die Haut. Die Fütterung grosser Dosen
von Milzbrandsporen ist somit das geeignete Mittel, um Thiere, welche
gegen den Impftnilzbrand immun gemacht sind, auf ihre Immunität dem
natürlichen Milzbrand gegenüber zu prüfen.
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136
Kritiken und Besprechungen.
Thiere mit einfachem Magen (Hühner, Tauben, Meerschweinchen, Kanin¬
chen, Mäuse) wurden mit grossen Sporenmengen vielfach ohne Erfolg ge¬
füttert, in einigen wenigen Fällen konnte jedoch Infection constatirt wer¬
den. Zehn durch Schutzimpfung immun gemachte Hammel wurden endlich
zur Prüfung auf ihr Verhalten gegenüber der Fütterung mit frischem Sporen¬
material verwandt. Dieselben hatten schon sämmtlich die Probeimpfung
mit virulentem Milzbrand überstanden, also jedenfalls das Maximum der
durch Schutzimpfung erreichbaren Immunität erreicht. Es starben zwei
von den mit Pasteur*schein Impfstoff geimpften an Darmmilzbrand.
Bei den Hammeln, welche die erste Fütterung überstanden hatten,
wurde nach neun Monaten ein Fortbestehen der erlangten Immunität gegen
den Fütterungsmilzbrand constatirt.
Aus diesen Versuchen geht hervor, dass bei einer Anzahl von Thieren
absolute Immunität erreicht werden kann: ob aber die Immunität schon
nach der Impfung mit dem zweiten Vaccin eine derartige ist, dass die Thiere
der Sporenfütterung widerstehen, muss mit Recht bezweifelt werden, da
von fünf mit Pasteur’schein zweiten Impfstoff und später mit virulentem
Milzbrand geimpften Hammeln zwei an typischem Darmmilzbrand erkrankt
und gefallen sind.
Die natürliche Infection steht, wie Pasteur annahm, der Impfung an
Bösartigkeit nicht nur nicht nach, sondern übertrifft sie vielmehr nicht un¬
erheblich. Die Widerstandsfähigkeit der immunen Thiere gegen den Impf¬
milzbrand gestattet mithin durchaus noch keine bindenden Schlüsse auf die
Widerstandsfähigkeit dieser Thiere gegenüber der natürlichen Infection.
Das Ergebniss aller Versuche wird dahin zusammengefasst: Eine sichere
Immunität gegen den Impfmilzbrand kann ohne erhebliche Verluste durch
die Schutzimpfung nach dem Pasteur’sehen Verfahren nicht erreicht wer¬
den, auch hält diese mit Verlusten erkaufte Immunität dem natürlichen
Milzbrand gegenüber nur unvollkommen Stand. Es ist somit die bisher
geübte Schutzimpfungsmethode für die Praxis nur als ein höchst zweifel¬
hafter Gewinn zu bezeichnen, besonders wenn man erwägt, dass die der
zweiten Schutzimpfung mit einem immerhin noch starken Virus erliegen¬
den Thiere Quellen neuer Infection und somit Ursache der Verbreitung der
Krankheit zu werden, sehr wohl geeignet sind.
VI.
Ueber quantitative Bestimmungen der in der Luft ent¬
haltenen Mikroorganismen. Im kaiserlichen Gesundheitsamte
bearbeitet vom Bezirksarzte Dr. Hesse in Schwarzenberg (Sachsen).
Während die bisher verfolgten Methoden der Luftuntersuchungen hin¬
sichtlich des Gehaltes an Mikroorganismen als unvollkommen bezeichnet
werden müssen, beschrieb Koch in den Mittheilungen aus dem kaiserlichen
Gesundheitsamte Bd. I, S. 32 ff., eine Methode der Untersuchung der Luft
mit Hülfe von Nährgelatine, welche frei von den Mängeln, die jenen an¬
haften, als grundlegend für alle späteren zu erachten ist. Indess lässt eine
quantitative Bestimmung auch der von ihm benutzte Apparat nicht zu. Es
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Mittheilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte. 137
ist das Verdienst des Verfassers vorliegender Arbeit durch ein sehr sinn¬
reiches Verfahren diese Aufgabe gelöst zu haben.
Seine Untersuchungsmethode besteht im Wesentlichen in der Durch¬
leitung von abgemessenen Luftmengen durch lange Glasröhren, deren Wan¬
dungen mit erstarrter Nährgalatine ausgekleidet sind. Der Luftstrom wird
vermittelst eines Aspirators geregelt und zugleich gemessen. Aus der Zahl
der auf der Gelatine auftretenden Kolonien und der Menge der angewandten
Luft ergiebt sich ein genauer ziffernmässiger Ausdruck für den Gehalt der
Luft an entwickelungsfähigen Keimen, natürlich nur solchen, welche mit
dem Nährboden in Berührung kommen und unter den gegebenen Bedin¬
gungen gedeihen. Bezüglich der Beschreibung des Apparates (durch Zeich¬
nungen illu8trirt) und der Art seiner Anwendung verweise ich auf das
Original und beschränke mich darauf, die Untersuchungsergebnisse mitzu-
theilen, so weit sie hygienisches Interesse beanspruchen.
Die im Freien angestellten Versuche ergaben, dass bei feuchter
Witterung die Zahl der Keime ganz auffallend abnahm, und dass die zur
Entwickelung gekommenen Kolonien überwiegend Pilze waren.
In bewohnten Räumen wurde der «Keimgehalt der Luft grösser ge¬
funden als im Freien und diese Vermehrung war wesentlich durch Bac-
terienkeime bedingt. Es tritt dieser Unterschied aber nur dann hervor,
wenn die Luft im Untersuchungsraume in Bewegung gebracht wird. Lehr¬
reich waren in dieser Hinsicht die in einer Schule angestellten Versuche,
um den Keimgehalt der Schulluft vor und während des Unterrichtes, sowie
beim Weggange der Schüler zur Anschauung zu bringen. Hier war das
Ergebniss, dass im ersten Versuche 6, im zweiten 40 und im dritten über
80 Kolonien in je 2 Liter Luft zur Entwickelung gelangten. In einem Kuh-
und Pferdestalle ergab die Luft einen grossen Keimgehalt (circa 120 Kolo¬
nien in 1 Liter Luft), in einem Hadersortirsaale beobachtete Verfasser eine so
massenhafte Entwickelung von Bacterienkolonien auf der Gelatine, dass ihre
Zahl (Tausende aus 1 Liter Luft) auch nicht annähernd festzustellen war. Die
Versuche mit Bodenluft zeigen, dass es bei der gewählten Luftgeschwindig¬
keit und -menge nicht sicher gelungen ist, einem feuchten und einiger-
maassen festen Boden Reime zu entreissen. Vergleichende Versuche in
trockenem Boden wurden nicht angestellt; doch fühlt sich Verfasser zu dem
Ausspruch berechtigt, dass, wenn Keime von dem Boden in die Luft ge¬
langen, diese nur von trockenem und lockerem Boden und von dessen Ober¬
fläche, höchstens aus geringer Tiefe, stammen können.
Nach Durchleitung eines Luftstromes durch eine keimreiche Flüssigkeit
gelangten auffallend wenige Keime in die Röhre.
Aus den mit Baumaterialien angestellten Versuchen geht hervor, dass
schon verhältnissmässig dünne Schichten derselben, selbst der durchlässig¬
sten, den Bacterien bei der angewandten Stärke des Luftstromes den Durch¬
tritt verwehren, woraus der Schluss zu ziehen ist, dass unsere Wände auf
dem Wege dor Porenventilation Bacterien nicht zu durchdringen vermögen.
Erklärt wird jene Erscheinung durch die bereits früher von Koch gemachte
Beobachtung, dass die Bacterienkeime im Gegensatz zu den Keimen der
Schimmelpilze nicht isolirt in der Luft enthalten sind, sondern an anderen
Partikeln haftend oder zu grösseren Massen von Individuen vereinigt.
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138
Kritiken und Besprechungen.
Iiifeciionsversuche wurden vom Verfasser mit den aus seinen Luft¬
untersuchungen gewonnenen Bacterienkolonien nicht ausgeführt, dennoch
werden wir nicht zweifeln können, dass ein grösserer und mannigfaltigerer
Keimgehalt grössere Gefahren für die Gesundheit birgt, weil erfahrungs- und
naturgemäss die Erwerbung gewisser wohlbekannter Infectionskrankheiten,
wie Tuberculose, mit dem Reichthum der Athemluft an Menschen und
Thieren entstammenden Mikroorganismen gleichen Schritt hält (Dichtigkeit
der Bevölkerung).
Die vorstehenden Mittheilungen beruhen auf rund 200 Einzel¬
beobachtungen. Wir schulden dem Herrn Verfasser grösste Anerkennung
für diese höchst mühsamen Arbeiten, die zweifellos, wie es sein im Schluss¬
wort ausgesprochener Wunsch ist, Erweiterung und Ergänzung finden, viel¬
leicht auch mit Erfolg auf bisher unberücksichtigt gebliebene Punkte
(Malariagegenden, See, andere Zonen und Klimate) ausgedehnt werden
können.
VII.
Dr. F. Hueppe: Untersuchungen über die Zersetzung der
Milch durch Mikroorganismen.
Ist die Gährung ein biologischer oder ist sie ein rein chemischer Pro-
cess? Betheiligen sich bei dem Fermentvorgange Organismen, und welche
sind es? Verhalten sie sich constant nach Art und Wirkung?
Diese viel umstrittenen Fragen sind durch vorliegende Arbeit ihrer
Lösung sehr wesentlich näher gebracht. Wir erhalten in derselben zunächst
eine kritische Geschichte der Milchsäuregährung, werden darauf mit den vom
Verfasser angewandten Untersuchungsmethoden und mit seinen Erfahrun¬
gen über das Sterilisiren der Milch bekannt gemacht, und finden in einem
dritten Theile die Resultate zusammengestellt, welche die Untersuchungen
des Verfassers über die wichtigsten der die Zersetzung der Milch veran¬
lassenden Mikroorganismen ergeben haben.
Es ist die Untersuchungsmethode Koch’s (Nachweis der in Frage
stehenden Organismen als constante Begleiter der Processe, ihre Isolirung,
Reinzüchtung ausserhalb der ursprünglichen Medien und Erzeugung der
fraglichen Umsetzungen durch Uebertragung dieser rein gezüchteten Orga¬
nismen auf passend zusammengesetzte Medien), welche auch für die Er¬
forschung der Gährungsvorgänge hier Anwendung fand, und die, wie be¬
kannt, als wichtigsten Vortheil die Benutzung des festen und zugleich
durchsichtigen Nährbodens bietet.
Wie die Reincultur in morphologischer Hinsicht als der einzig zu¬
lässige Ausgangspunkt gelten muss, so sind sicher sterilisirte Medien
die unumgängliche Grundlage in chemischer Hinsicht.
Die Lösung dieser Aufgabe ist zugleich eine Lösung der Frage nach
einer praktischen Milchconservirung. Als das einzig sichere und den Ge¬
schmack nicht wesentlich alterirende Mittel zum Conserviren der Milch
können allein die hohen Temperaturen gelten. Es fragt sich indess, ob die
Milch beim Erwärmen chemische Veränderungen erleidet.
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Mittheilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte. 139
In dieser Richtung Angestellte Versuche ergaben, dass beim Erhitzen
der Milch über 75° C. eine Ausscheidung ihres Serumeiweiss und eine Ver¬
zögerung der Labwirkung eintritt. Auch erfährt der Milchzucker durch
hohe Temperaturen Zersetzungen. Weil man gefunden hatte, dass gekochte
Kuhmilch durch Säuren und künstlichen Magensaft feinflockiger gefällt
wird, so wurde daraus geschlossen, dass Kuhmilch durch das Kochen der
an sich feiner gerinnenden Frauenmilch ähnlicher und dadurch zur Kinder-
nahrung tauglicher wird. Indess ist die feinere Gerinnung der gekochten
Kuhmilch nur scheinbar eine Annäherung derselben an die Frauenmilch.
In Wirklichkeit machen die hohen Temperaturen die Kuhmilch der Frauen¬
milch noch unähnlicher, als sie schon an und für sich ist, und noch schwerer
verdaulich. Demnach hält Verfasser eine Sterilisirung der Milch bei Temper
raturen unter 7Ö°C. vom chemischen und physiologischen Standpunkte für
die richtigste, kann Temperaturen bis zu 100° G. als zulässig erklären, muss
sich jedoch (wegen zunehmender Unlöslichkeit des Gasems) gegen noch
höhere Steigerung der Temperatur aussprechen.
Die vollständige Sterilisirung unter 75° gelingt nur durch discontinuir-
liches Erwärmen. Dies Verfahren dürfte für die praktische Milchconservirung
indess kaum Anwendung Anden.
Weil hei der Temperatur von circa 100° C. die chemischen Umsetzungen
der Milch noch innerhalb der physiologisch zulässigen Grenzen liegen, und
bei dieser Temperatur eine sichere Sterilisirung in relativ kurzer Zeit mög¬
lich ist, so wird sich für die Milchconservirung ein Verfahren empfehlen,
bei welchem 100° nicht überschritten werden.
Durch strömende Dämpfe von circa 100° C. kann die Milch sicherer und
in erheblich kürzerer Zeit sterilisirt werden als hei derselben Temperatur
im Wasserbade.
Ich gehe zur Besprechung desTheiles der Untersuchungen über, welcher
sich mit den in Frage stehenden Mikroorganismen beschäftigt.
Untersucht wurden: die Organismen der Milchsäuregährung, die Bacillen
der Buttersäuregährung, die Organismen der blauen Milch, einige andere
pigmentbildende Bacterien, schleimige Milch aus Oidium lactis.
In einer durch Reinculturen zur Säurebildung gebrachten Milch
(wirkliche Milchsäuregährung) sieht man kurze dicke Zellen, ohne Bewegung
resp. nur mit Molecularbewegung versehen und mit der Eigenschaft, Sporen
zu bilden. Ihre Entwickelungsfähigkeit hört auf bei Temperaturen unter
10°C. und über 45*5°C. DieseMilchsäurebacterien bilden aus Milch¬
zucker, Rohrzucker, Mannit und Dextrose Milchsäure und Kohlensäure;
peptonisirende Eigenschaften entfalten sie nicht.
Die Versuche, ein chemisches, milchsäurebildendes Ferment von den
Bacterien zu isoliren, blieben resultatlos. Indess wird die Existenz von
Enzymen in der Milch überhaupt nicht geleugnet. ImGegentheil sprechen
für das Vorhandensein in derselben, welche als wirkliche Drüsenproducte
aufgefasst werden müssen, besonders Angaben von Meissner, welcher ge¬
funden hatte, dass Ziegenmilch, auch wenn sie gegen Milchsäuregährung
geschützt und ganz frei von Organismen ist, doch allmälig eine Ausscheidung
des Caseins erfahrt, wie bei Zusatz von Lab, und dass diese Wirkung eines
rein chemischen Ferments durch 70° aufgehoben wird.
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140
Kritiken und Besprechungen.
Zum Zustandekommen der Milchsäuregährung ist Luftsauerstoff un¬
bedingt erforderlich. Aber schon eine geringe Menge des Gases reicht
aus, um so viel Säurebildung hervorzurufen, dass es zur Gerinnung des
Caseins kommt; jedoch wächst die Menge der gebildeten Säure proportional
der Sauerstoffzufuhr.
Ob die Buttersäurebacillen bei absoluter Abwesenheit von freiem
resp. absorbirtem Sauerstoff überhaupt zu leben oder zu gähren vermögen
(wie Pasteur annimmt), will Verfasser nicht a priori verneinen; sicher
ist indess andererseits, dass sie bei einem ganz ausserordentlichen Minimum
von Sauerstoff die Gährung ausüben resp. einleiten können. Sie bringen
das Casein der Milch erst labähnlich zur Gerinnung, lösen das geronnene
Albuminat und überführen es in Pepton und einige weitere Spaltungsproducte.
Unter diesen tritt Ammoniak auf und ein mehr oder weniger ausgesprochener
bitterer Geschmack macht sich bemerkbar. Die Milchsänrebacillen rufen
in der Milch also alle die Erscheinungen hervor, welche nach Naegeli die
durch Hitze alterirten, variirten Säurebacterien bewirken sollen.
Untersuchungen über die Organismen der blauen Milch wurden mit
Bterilisirten Medien bisher nicht angestellt, weil scheinbar der Umstand
hinderlich war, dass länger als eine halbe Stunde gekochte Milch in der
Regel nicht mehr blau wurde. Ausserdem arbeiteten die früheren Unter¬
sucher nicht mit Reinculturen. Die Organismen sind ausgesprochene Ba¬
cillen, die sich durch Theilung und Sporenbildung vermehren resp. erhalten.
Impft man mit den reingezüchteten Bacillen rohe oder gekochte Milch, so
treten ausnahmslos zunächst im Rahm, aber geknüpft an die Casein-
bestandtheile blaue Flecken auf, um so intensiver und ausgedehnter, je lang¬
samer die Säurebildung vor sich geht. Aber die Säurebildung und die
Bildung des blauen Farbstoffes sind Lebensäusserungen von zwei ver¬
schiedenen Organismen; die das blaue Pigment in der Milch bildendenBac-
terien machen diese nicht sauer und bringen sie nicht zur Gerinnung.
Fütterung8- und Impfversuche mit blauer Milch resp. mit Reinculturen
Hessen keine Gesundheitsschädlichkeit erkennen.
Geringeres allgemeines Interesse beanspruchen einige andere kurz be¬
handelte pigmentbildende Bacterien und die schleimige Milch. Aus den
Untersuchungen über Oidium lactis hebe ich hervor, dass sterilisirte Milch
mit Reinculturen dieses Pilzes geimpft flüssig bleibt, nicht sauer wird, son¬
dern allmälig eine schwach alkalische Reaction annimmt. Es darf daher
Oidium lactis, wie es bisher vielfach geschehen, nicht als Milchsäureferment
angesehen werden. Krankhafte Erscheinungen konnten auch durch Oidium
lactis nicht hervorgerufen werden.
Zum Schluss hebe ich wiederholt das Verdienst des Verfassers hervor,
die Methode Koch’s auf Untersuchungen über Gährungsvorgänge zum
ersten Male in Anwendung, gezogen und damit den exacten Beweis eines
ursächlichen Zusammenhanges zwischen Zersetzung und Vorkommen der
Mikroorganismen durch deren Reinzüchtung auf festem und durchsichtigem
Nährboden erbracht zu haben.
Dr. Libbertz (Frankfurt a. M.).
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Sanitätsdienst b. d. deutschen Heeren im Kriege gegen Frankreich. 141
Der Sanitätsdienst bei den deutschen Heeren im Kriege
gegen Frankreich 1870 — 1871. Bd. I. Der Sanitätsbericht
über die deutschen Heere im Kriege gegen Frankreich 1870—1871.
Berlin, Mittler.
Fast anderthalb Jahrzehnte hinter uns liegt die denkwürdige Zeit des
grossen Krieges; die Wunden, welche er schlug, sind vernarbt; die Opfer
desselben, wenn nicht vergessen, so doch in fernere Erinnerung gerückt.
Auf den blutigen Wahlstätten wogen friedliche Kornfelder, nur hochragende
Denkmäler erzählen uns noch von den hartnäckigen Ringkämpfen, von dem
Stöhnen der Verwundeten, von den letzten Athemzügen der Sterbenden,
welche dort im Kampfe für das Vaterland ihr Blut vergossen.
Ein nicht minder hochragendes Denkmal ist das Werk, welches nach
langer Bauzeit sich nun vor den Blicken der Ueberlebenden erhebt, auf¬
gerichtet zum Gedächtniss der Gebliebenen, zur Betrachtung und Belehrung
für die Mit- und Nachwelt. Wenn auch das Vaterland in reichem Maasse
die Früchte jener Opfer geerntet hat, so hat doch die wissenschaftliche
Verwerthung der dadurch gewonnenen reichlichen Erfahrungen bisher
nicht in ausgiebiger Weise stattfinden können, da den bezüglichen Ver¬
öffentlichungen nur ein beschränktes Material zu Grunde liegen konnte.
Mit Spannung wurde daher das Werk erwartet, dessen erste Bände jetzt
vorliegen. Es handelt sich um die officielle Veröffentlichung und Verwerthung
des ungeheuren Materials, welches über den Sanitätsdienst und die medi-
cinisch-chirurgischen Erfahrungen im Feldzuge 1870—1871 den deutschen
Kriegsministerien zu Gebote stand. Die Bearbeitung desselben war wesent¬
lich dadurch verzögert worden, dass das betreffende Material zunächst zu
organisatorischen Arbeiten benutzt werden musste, und die disponibeln
Kräfte diesen wichtigen Aufgaben nicht entzogen werden durften; ferner
dass den Bearbeitern der einzelnen Abschnitte das Actenmaterial nicht gleich¬
zeitig zur Verfügung gestellt werden konnte. Wie wir hören, wird nun¬
mehr der Veröffentlichung der ersten Bände in kurzen Zwischenräumen die
der anderen nachfolgen.
Das ganze Werk führt den bescheidenen Titel:
Sanitätsbericht über die deutschen Heere im Kriege
gegen Frankreich 1870—1871. Herausgegeben von der
Militärmedizinalabtheilung des königl. preussischen Kriegsmini¬
steriums unter Mitwirkung der Militärmedizinalabtheilung des
königl. bayerischen Kriegsministeriums, der königl. sächsischen
Sanitätsdirection und der Militärmedizinalabtheilung des königl.
württembergischen Kriegsministeriums,
und ist auf fünf Theile in acht Bänden berechnet, welche sich folgender-
maassen gliedern:
I. Administrativer Theil:
Sanitätsdienst bei den deutschen Heeren (Bd. 1).
II. Statistischer Theil:
Morbidität und Mortalität bei den deutschen Heeren nebst einer
summarischen Uebersicht über die in deutschen Sanitätsanstal¬
ten behandelten Franzosen (Bd. II).
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Kritiken und Besprechungen.
III. Chirurgischer Theil:
A. Die Verwundungen durch Kriegs Waffen bei den deutschen
Heeren unter Berücksichtigung der in deutschen Sanitätsanstal-
ten behandelten verwundeten Franzosen (Bd. HI).
B. Die physikalische Wirkung der Geschosse (mit besonderer
Beziehung auf die im Kriege 1870 —1871 verwendeten Pro-
jeetile), erläutert an den Präparaten der kriegschirurgischen
Sammlung des medicinisch - chirurgischen Friedrich-Wilhelms-
Instituts zu Berlin, nebst dem Katalog der Sammlung (Bd. IV).
C. Casuistik der nach Verwundung durch Kriegswaffen auf Ver¬
bandplätzen oder in Lazarethen der deutschen Heere ausge¬
führten grösseren Operationen (Bd. V).
IV. Medicinischer Theil:
A. Die Seuchen bei den deutschen Heeren unter Berücksichtigung
der entsprechenden Verhältnisse bei den französischen Armeen,
bei den kriegsgefangenen Franzosen und bei der Civilbevölke-
rung der kriegführenden Staaten (Bd. VI).
B. Traumatische, idiopathische und nach Infectionskrankheiten beob¬
achtete Erkrankungen des Nervensystems bei den deutschen
Heeren (Bd. VII).
V. Bibliographie und Register (Bd. VIII).
Bis jetzt sind erschienen der erste Theil (Bd. I) und B. des dritten
Theiles (Bd. IV). Der uns hier in erster Linie interessirende erste Theil
führt den Specialtitel: Der Sanitätsdienst bei den deutschen
Heeren im Kriege gegen Frankreich 1870— 1871, und bildet
einen voluminösen Band in Grossquart von XX und 432 Seiten Text,
282 Seiten Beilagen nebst 64 lithographischen Tafeln, 18 Holzschnitten im
Text, 13 Karten und 16 Kartenskizzen. Der Band besteht aus acht Capiteln.
Das erste Capitel betrifft „Sanitätspersonal und Sanitäts¬
ausrüstung der deutschen Heere“ und bespricht in drei Abschnitten
die Mobilmachung des Sanitätswesens und das Sanitätspersonal, das Sanitäts¬
material der Truppen und die mobilen Sanitätsformationen.
Die Mobilmachung ging den Plänen entsprechend in der vorschrifts-
mässigen Zeit ohne Schwierigkeit vor sich. Das Sanitätspersonal ressor-
tirte von der Militärmedizinalabtheilung des Kriegsministenums, an deren
Spitze der Generalstabsarzt der Armee Dr. Grimm stand. Jede Armee
hatte einen Armeegeneralarzt (die DDr. Löffler, Böger und Schiele),
jedes mobile Armeecorps einen Feldcorpsgeneralarzt, jede Division einen
Divisionsarzt u. s. w. Bei der Generaletappeninspection jeder Armee fun-
girte ein Etappcngeneralarzt mit der der Zahl der betreffenden Armeecorps
entsprechenden Anzahl von Feldlazarethdirectoren. Die Zahl der bei den
Armeen und Etappeninspectionen beschäftigten consultirenden Chirurgen
war nicht etatsmässig festgestellt (sie betrug in Wirklichkeit 12, lauter
hervorragende Capacitäten).
An die Spitze des Sanitätswesens in den heimathlichen Corpsbezirken
traten stellvertretende Generalärzte; für Berlin wurde eine specielle General-
lazarethdirection eingesetzt.
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Sanitätsdienst b. d. deutschen Heeren im Kriege gegen Frankreich. 143
Der etatsmässige Gesammtbedarf an Aerzten belief sich bei der Armee
des norddeutschen Bundes (excl. XII. [sächsisches] Armeecorps und 25.
[hessische] Division) auf 3851. Von diesen Stellen wurden 3679 besetzt,
und zwar 1156 durch active Militärärzte, 1363 durch Aerzte des Beurlaub¬
tenstandes, ausser Dienst, und der Ersatzreserve, der Rest durch Civilärzte
und (347) Aerzte des Auslandes. Bei der mobilen Armee blieben 33, bei
den anfangs immobilen Truppentheilen 139 Stellen vacant. Ausserdem
wurden im Inland noch 1779 Civilärzte contractlich an Lazarethen etc. be¬
schäftigt. Die Chefarzte der Feldlazarethe und die ersten Stabsärzte der
Sanitätsdetachements wurden grundsätzlich den activen Militärärzten ent¬
nommen. Bei den sächsischen, bayerischen, württembergischen, badischen
und hessischen Contingenten wurde der Bedarf an Aerzten, soweit derselbe
nicht durch die vorhandenen activen und beurlaubten Militärärzte gedeckt
war, durch Engagement von Civilärzten auf Kriegsdauer sicher gestellt.
Im zweiten Abschnitt: „Sanitätsmaterial der Truppen“ finden
wir Beschreibung und Abbildung der Arznei- und Bandagentaschen, der Me-
dicin- und Bandagenkasten, der älteren und neueren Medicinkarren und
-Wagen und der Trag- und Fahrbahren, Ausrüstungsgegenstände, welche
von den Truppen selbst mit ins Feld genommen wurden, und zwar der
verschiedenen preussischen, sächsischen, bayerischen, württembergischen
nnd badischen Modelle.
Der dritte Abschnitt: „Mobile Sanitätsformationen“, schildert
als „Formationen zur ersten Hülfe“ die Sanitätsdetachements vonPreus-
sen, Sachsen und Baden, die bayerischen Sanitätscompagnieen und die würt¬
tembergischen Sanitätszüge, mit Abbildungen der entsprechenden Sanitäts¬
und Krankentransportwagen, ferner als „Formationen zur Behandlung und
Pflege der Verwundeten und Kranken“ die Feldlazarethe (bayerische
Aufhahmsspitäler) und das Lazarethreservepersonal (bayerische
Hauptfeldspitäler), ebenfalls mit den entsprechenden Abbildungen.
Jedes Armeecorps besass drei Sanitätsdetachements, von welchen jeder
Division eines zngetheilt ist, während das dritte zur Disposition des com-
mandirenden Generals bleibt. Feldlazarethe, jedes unter dem Commando
eines Chefarztes stehend, kamen 12 auf jedes Armeecorps.
Das Lazarethreservepersonal, ohne etatsmässige Ausrüstung, war zur
Errichtung der stehenden Kriegs- und der Etappenlazarethe, resp. zur Ab¬
lösung der etablirt gewesenen Feldlazarethe bestimmt, und bezog sein Ma¬
terial theils von den abrückenden Feldlazarethen, grösstentheils aus dem
Lazarethreservedepot (1 pro Armeecorps).
Mit den Formationen der süddeutschen Staaten standen im Ganzen 52
Sanitätsdetachements, 193 Feldlazarethe, 51 Sectionen Lazarethreserve¬
personal und 18 Lazarethreservedepots zur Verfügung.
Ein Anhang berichtet über die Verluste des Sanitätspersonals. Wir
entnehmen daraus, dass bei der mobilen Armee 11 Aerzte gefallen und 55
an Krankheiten gestorben sind.
Das zweite Capitel handelt vom Sanitätsdienst und hygie¬
nischen Maassnahmen bei den Truppen.
1. Der Marschhygiene ward von Anfang an grosse Sorgfalt gewidmet,
Wassertrinken auf dem Marsche gestattet und gefördert. Die namentlich
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Kritiken und Besprechungen.
im Beginne des Feldzuges sehr zahlreichen Fusskranken yeranlassten die
Errichtung von Sammelstationen und Marodencompagnieen, welche hie nnd
da selbständige Verwendung fanden. In länger belegten Cantonnements wur¬
den durchweg Krankendepots für Leichtkranke (Revierstuben) eingerichtet,
welche sich vielfach, namentlich bei Belagerungen und Cernirungen zu förm¬
lichen Cantonnementslazarethen ausbildeten und sehr wesentliche Dienste
leisteten. Am schwierigsten war deren Aufgabe vor Metz wegen der dort
herrschenden ungünstigen hygienischen Verhältnisse.
Im Gefecht lag der Sanitätsdienst, soweit nicht bei grösseren Actionen
Sanitätsdetachements und Feldlazarethe in Wirksamkeit traten, den Truppen¬
ärzten mit dem vorhandenen Personal (Lazarethgehülfen und Hülfskranken-
träger, ein resp. vier per Compagnie) und Material ob. Demselben wurde
theils durch Begleitung in die Gefechtslinie mit Besorgung des Verwundeten¬
transports auf Tragen, theils durch Errichtung von Nothverbandplätzen,
auf welchen erste Verbände angelegt und unaufschiebbare Operationen ge¬
macht wurden, genügt. Auch die Weiterschaffung der Verwundeten in
Feldlazarethe geschah, wo Sanitätsdetachements fehlten, durch die Truppen
mittelst-requirirt er Wagen.
2. Die Bekleidung und Ausrüstung der Truppen, welche durch Flanell¬
leibbinden und wollene Decken vermehrt wurde, hat sich im Allgemeinen
gut bewährt. Nur die Fussbekleidung litt vielfach durch die starke Ab¬
nutzung ; langschäftige Stiefel erwiesen sich praktischer als kurze oder Schuhe.
3. Die Ernährung der Truppen geschah theils auf dem Wege der Re¬
quisition, theils durch Magazine. Frisches Fleisch und Wein fehlten auf
den Märschen selten; an Brot und Wasser trat manchmal Mangel ein; viel¬
fach wurde von den Truppen selbst Brot gebacken. Vor Metz und Paris er¬
folgte die Verpflegung meist aus Magazinen; dieselben lieferten neben frischem
Rind- und Hammelfleisch, Speck, Brot und Zwieback auch Conserven, und
zwar „Dauerfleisch“ (bis zur Coagulirung der oberflächlichen Schicht ge¬
dämpftes, getrocknetes und mit Salz und Pfeffer eingeriebenes Fleisch),
Fleischextract, amerikanisches Büchsenfleisch und ungarischen Gulasch,
ferner Erbswurst, von welcher 500 g nebst einer bis zwei Portionen Kaffee
als Tagesportion galt. Diese Conserven bewährten sich im Ganzen gut und
wurden gern gegessen; nur zu lange Darreichung einzelner ohne Abwechse¬
lung erzeugte Widerwillen und Magen-Darmkatarrhe. Reis, Hülsen fruchte,
Mehl und Kaffee wurden gleichfalls geliefert, Kartoffeln undRothwein meist
vorgefunden resp. requirirt. Wenn auch gelegentlich Störungen in der
Verpflegung vorkamen und die Portionen verringert werden mussten, so ist
doch eigentlicher Mangel kaum je eingetreten.
4. Als direct gegen die Verbreitung von Krankheiten gerichtete Maass¬
nahmen sind die ausgedehnten Desinficirungen der Wohnungen, Höfe, Ab¬
orte, Kleider etc. anzusehen, welche namentlich in länger benutzten Can¬
tonnements (Metz, Paris) streng durchgeführt wurden. Ferner wurde der
Prophylaxe gegen Infectionskrankheiten, Syphilis und Krätze besondere
Aufmerksamkeit gewidmet.
5. Eine grosse und wichtige Aufgabe zeigte sich in der Desinfection
der Schlachtfelder. Konnte nach Lage der Verhältnisse die Beerdigung
der Leichen und Verscharrung der Thierkadaver nur eine oberflächliche
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Sanitätsdienst b. d. deutschen Heeren im Kriege gegen Frankreich. 145
und flüchtige sein, so erwiesen sich auch die im Herbst 1870 theils officiell,
theils von Vereinen und Privaten angestellten Versuche zur Desinfection
gegenüber der Grösse der Aufgabe (bei Metz allein gegen 30 000 Menschen¬
leichen) als ungenügend. Erst im Frühling und Sommer 1871 konnten unter
Mitwirkung der französischen und belgischen (Sedan) Regierung endgültige
Arbeiten unternommen werden. Ort und Art der Bestattung sowohl, als
die mitunter sehr grosse Zahl der gemeinsam Begrabenen, erschien vielfach
gesundheitswidrig; so beherbergte z. B. ein Kolossalgrab bei Ste. Marie aux
Chenes 2500 Leichen. Um Metz wurde vom April bis Ende Juli mit über
1000 Mann (Pionniere und Arbeiter) täglich gearbeitet. Die Hauptarbeiten
bestanden in Trockenlegung feuchter Gräber durch Ziehen von Gräben und
Drainirungen, und in Errichtung von Erdhügeln, meist nach vorhergehen¬
der Desinfection. Die Hügel (Einzel- und Massengräber) erhielten eine
Höhe von fünf Fuss, entsprechende Verbreiterung der Basis, wurden mit
Rasen belegt und nächst der Umgebung besäet und bepflanzt. Exhumi-
rungen wurden nur im Notlifalle (zum Zweck von Tieferlegung und in näch¬
ster Nähe von Wohnungen) und mit grosser Sorgfalt vorgenommen; die
blossgelegten Leichentheile wurden mit Chlorkalk oder Desinfectionspulver
(Mischung von Torferde, Gyps, Kohlenpulver und Carbolsäure) bedeckt,
jede Leiche einzeln blossgelegt, auf ein Brett umgedreht und transhumirt.
Auf dem Schlachtfelde von Sedan wurden seitens des Chemikers Creteur
Leichenverbrennungen mittelst Steinkohlentheer und Petroleum vorgenom¬
men, angeblich mit günstigem Erfolge, welcher aber durch deutscherseits
vorgenommene Versuche nicht bestätigt werden konnte. Der Erfolg der
erwähnten Arbeiten war der, dass die befürchteten Epidemieen ausblieben.
Das dritte Capitel ist der Thätigkeit der Sanitätsdetache¬
ments, der Feld-, Kriegs- und Etappenlazarethe gewidmet.
Dieser umfangreiche und interessante Abschnitt bespricht an der Hand
des Generalstabswerkes die in 11 grösseren Schlachten resp. Feldzugsperio¬
den stattgehabte Thätigkeit der genannten Sanitätsformationen im Einzel¬
nen. Wir müssen hier leider auf Detailschilderungen verzichten und den
Leser auf das Original verweisen, und erwähnen nur als Beispiel, dass in
der Schlacht bei Gravelotte bei einem Gesammtverlust von 20 173 Mann
20 Sanitätsdetachements und 24 Feldlazarethe im Wirksamkeit traten, und
auf jeden Arzt dieser Formationen 78 deutsche Verwundete kamen. Als
werthvolle Beilagen (59 bis 63) finden wir zeitlich und nach Armeecorps
geordnete Uebersichten der Thätigkeit sämmtlicher Sanitätsdetachements,
Feldlazarethe und des Lazarethreservepersonals, sowie eine nach Etabli-
rungsorten (alphabetisch) geordnete Uebersicht der beiden letzteren Forma¬
tionen. Dieses Capitel ist mit acht grösseren Karten und 16 Kartenskizzen
ausgestattet, aus welchen die Truppenstellungen und die Thätigkeit der
Sanitätseinrichtungen ersehen werden kann.
Viertes Capitel: Krankenzerstreuung.
Das Princip der Kranken Zerstreuung ist noch nie in so grossartiger
und planvoller Weise durchgeführt worden, als in diesem Feldzuge. Schon
während des Aufmarsches der Armeen dienten neben den anderen, vielfach
anderweit occupirten Verbindungen die Wasserstrassen des Rheins und der
Mosel diesem Zweck. Auf dem Rheine wurden auf 16 Dampfschiffen, meist
Vierteljahnschrift für Gesundheitspflege, 1885. IQ
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Kritiken und Besprechungen.
von Mainz oder Bingen aus, und grösstentheils nach Düsseldorf in der
Zeit vom 27. Juli bis 28. September 1870 in 94 Fahrten 8262 Verwundete
und 2421 Kranke befördert. Die Wasserfahrt wurde sehr gut ertragen;
für genügende Ventilation auch der inneren Schiffsräume war Sorge ge¬
tragen worden.
Im Beginne des Feldzuges brachte die Ueberlastung des Hauptetappen¬
ortes Mannheim nach den ersten Schlachten mancherlei Stockung und Un¬
ordnung in den geregelten Gang der Evacuation; späterhin traten geord¬
netere Verhältnisse ein. Ebenso fand an der Verladestation Remilly nach
den Schlachten bei Metz starke Ueberfüllung mit Kranken und Verwunde¬
ten statt, da die eine vorhandene Bahnlinie den Transport kaum bewältigen
konnte. Es resultirten daraus erhebliche Missstände, welche aber bei der
enormen Anzahl der Verwundeten aus drei grossen Schlachten (über 33 000
Mann) schwer vermieden werden konnten, da die disponibeln Ortschaften
absolut nicht die genügenden Unterkunftsräume boten, und desshalb, sowie
aus Rücksicht auf die Gesundheitsverhältnisse der Truppen, grössere Eva-
cuationen unbedingt nothwendig erschienen; mit Freiwerden der Bahn
Pont-ä-Mousson-Weissenburg wurde die Lage günstiger.
Weiterhin gestaltete sich Nancy durch Beine günstige hygienische Lage
und als Eisenbahnknotenpunkt zu einem Hauptsammelplatz für Kranke und
Verwundete aus Norden, Westen und Süden. Es passirten dort vom 23. August
1870 bis 5. Mai 1871 144 896 Mann, exclusive der in die Lazarethe der
Stadt aufgenommenen. Am Bahnhofe und bei Bonsecours in der Nähe von
Nancy entstanden grosse Barackenlazarethe, in der Stadt selbst waren 13
Kriegslazarethe etablirt. Das Bahnhofbaracken-Etappenlazareth nahm von
August 1870 bis Juli 1871 theils zu längerem Aufenthalt, theils als Pas¬
santen 152 797 Mann auf.
Vom September an traten zur besseren Bewältigung der schweren Auf¬
gabe eigene Evacuationscommissionen in Thätigkeit, und zwar in
Weissenburg, Saarbrücken, Aachen, und später in Epernay; gleichzeitig
functionirten nun eigene Lazareth- und Sanitätszüge, so dass von da an die
Evacuation in geordneterWeise vor sich ging. Die Commission in Weissen¬
burg beförderte bis April rund 147 000, die in Saarbrücken-Forbach 54 000
Kranke und Verwundete. Die Commission in Aachen nahm die von Sedan
über Belgien beförderten Verwundeten und Kranken in Empfang und be¬
sorgte deren Weiterbeförderung (circa 6500 Mann).
Beim Vormarsch auf Paris vermehrte sich die Zahl der Bahn- und
Landetappenlinien, längs deren sich überall zahlreiche Etappenlazarethe
befanden. Epernay-Rheims und Chateau-Thierry wurden nun die Haupt-
evacuationscentren; als der Front näher gelegene Sammelpunkte dienten
Meaux und Lagny.
Die Gesammtzahl der vom Kriegsschauplätze nach der Heimath Beför¬
derten beläuft sich auf etwa 250 000 Mann. Im Ganzen sind vom 1. August
1870 bis 30. Juni 1871 von der mobilen Armee 468 687 Kranke und
92 164 Verwundete, zusammen 560 851 Mann, in Lazarethe aufgenommen
worden; mithin wurden 44*6 Proc. derselben in Lazarethe des Inlandes
transportirt. Es wurde so die Anhäufung von Kranken und Verwundeten auf
dem Kriegsschauplätze vermieden, dem Ausbruch von Epidemieen dadurch
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Sanitätsdienst b. d. deutschen Heeren im Kriege gegen Frankreich. 147
vorgebeugt, und namentlich wurden durch die Entlastung der Feldlazarethe
diese wieder befähigt, bei erneuten Actionen einzugreifen, so dass es im
Augenblicke des Bedarfs nie an der nöthigen Hülfe gefehlt hat.
Durch vier Karten werden die Wege dargelegt, welche die Kranken¬
zerstreuung genommen hat.
Das Hauptmittel zur Ermöglichung dieser umfangreichen Evacuation
bildeten die im
Fünften Capitel speciell besprochenen Sanitätszüge. Vor¬
bereitet waren Waggons zur Krankenbeförderung nur in Preussen und
Württemberg; es waren dies durchgängig Güterwagen mit Stirnperrons, in
welchen Tragen an Gummiringen aufgehängt werden konnten. Drei der¬
artige Züge, in Hannover ausgerüstet, gingen im August nach dem Kriegs¬
schauplätze ab, wurden aber dort zerstreut; aus diesen Wagen wurden
dann später in Weissenburg drei LazarethzQge zusammengestellt. Sodann
wurden in Saarbrücken zwei Güterzüge durch auf Federn gestellte Tragen
zu Lazarethzügen eingerichtet; diese Züge fanden aber nicht geschlossen
Verwendung. Ebenso traten noch im August vier bayerische und dreiwürt-
tembergische Spitalzüge in Wirksamkeit. Vom November ab wurden zehn
preussische „Sanitätszüge“, mit fester geschlossener Organisation, in Dienst
gestellt. Ausserdem kamen noch ein badischer, ein sächsischer und neun
Sanitätszüge der freiwilligen Krankenpflege (aus Frankfurt, Köln , Berlin,
Mainz, Hamburg, Hattingen, der Rheinpfalz und zwei des Herrn v. Hö-
nika) zur Verwendung; im Ganzen sind somit 36 derartige Züge auf¬
gestellt worden. Dieselben bildeten durchweg selbständige, mit dem nöthi¬
gen Personal und Material ausgestattete fahrende Lazarethe, unterschieden
sich aber mehrfach in Zusammenstellung und Ausrüstung. So waren die
bayerischen, württembergischen, der badische und der Kölner Zug zugleich
mit Wagen für sitzende Leichtkranke und -Verwundete versehen, während
die übrigen nur zum Transport Liegender bestimmt waren. Die meisten
Züge bestanden aus 20 Krankenwagen, wozu Küchen-, Depot-, Verwaltungs-,
Arzt-, Brennmaterial- und Gepäckwagen kamen. Die prenssischen Sanitäts¬
züge bestanden aus 28 Wagen mit 200 Lagerstellen; ein bayerischer Zug
konnte 224 sitzende und 60 liegende Kranke befördern, ein württembergi-
scher 128 liegende und 120 sitzende. Bei 19 Zügen bestand durchgängige
Communication der Wagen, neun waren nach dem Einzelwagensystem, und
sieben mit gemischtem System eingerichtet.
Die Rangirung der Wagen war fast durchweg derartig, dass sich die
Verwaltungs-, Arzt- etc. Wagen in der Mitte des Zuges befanden, je eine
Hälfte der Krankenwagen davor und dahinter, und ein Gepäck - oder Vor¬
rathswagen den Zug eröffn ete und schloss.
Verschieden gestaltete sich die innere Einrichtung; in den Kranken¬
wagen der prenssischen Sanitätszüge I bis IX wurden Feldtragen verwen¬
det; über deren Enden gezogene Lederschlaufen ruhten in starken, an Haken
der Wagenstiele aufgehängten Gummiringen, welche später durch Evoluten¬
federn ersetzt wurden. Die Heizung geschah durch Oefen, die Ventilation
durch Schieber und laternartige Dunstabzüge. Die Tragen des zehnten (han¬
noverschen) Sanitätszuges hingen in Tauen, welche an stählernen Federn an
der Decke befestigt waren, ein System, welches sich wenig bewährte.
10 *
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148 Kritiken und Besprechungen.
In den bayerischen Wagen standen fünf Feldbetten auf am Boden be¬
festigten (Grund’sehen) Blattfedern; die Heizung erfolgte anfangs durch
Meidinger’sche Füllöfen, später durch Dampf.
In dem Pfälzer Zuge hingen die vier oberen Tragen in Hanfgurten,
während die vier unteren auf Polsterkissen auf dem Boden ruhten; ähnlich
waren die württembergischen Wagen eingerichtet, nur enthielten sie 16 Tragen.
In dem sächsischen Zuge hingen die oberen Tragen in Gummiringen
an der Decke, die unteren lagen auf in Gummiringen hängenden Quer¬
bäumen; Aus - und Einladung war durch letztere erschwert. Der badische
Zug war theils mit Tragen, theils mit Betten versehen.
Für den Hamburger Zug wurde das Material in Güterwagen auf den
Kiegsschauplatz gebracht, und der Zug erst dort zusammen gestellt. Bei
demselben war eine neue, seitdem als „Hamburger System 44 bekannt ge¬
wordene Befestigungsart der Tragen in Anwendung gebracht, indem je zwei
über einander hängende Tragen mittelst „Teufelsklauen 44 (schmiedeeiserne
Zangen, deren untere Schenkel Ringe tragen, in welche ein in einen Haken
endender Federapparat eingefügt ist) an den Deckbalken befestigt sind.
Durch die Belastung der Tragen schliessen sich die Zangen um so fester;
gegen Seitenschwankungen schützen seitliche Befestigungen der Tragen an
den Wänden durch Gummiringe. Dies System hat sich vorzüglich bewährt
und hat desshalb auch in die Kriegssanitätsordnung vom 10. Januar 1878
Aufnahme gefunden. — Die anderen Züge schlossen sich mit geringen Ab¬
weichungen meist den Einrichtungen der preussischen Sanitätszüge an.
Auf die Einrichtungen der anderen Wagen, das Personal, den Dienst¬
betrieb, die Beköstigung u. s. w. gehen wir hier nicht näher ein, und müs¬
sen auch Betreffs der Thätigkeit der einzelnen Züge auf das Original und
die betreffenden Beilagen (73 bis 87) verweisen.
Im Ganzen sind von 30 Zügen in 176 Fahrten 38 725 Mann befördert
worden (von den fünf ersten preussischen und dem Hattinger Zuge lie¬
gen keine Zahlenangaben vor). Die meisten (21), aber auch kürzesten
Fahrten, machte der badische Sanitätszug.
Alle einschlägigen Constrnctionen etc. sind durch zehn Tafeln und sechs
Abbildungen im Text genauer erläutert.
Sechstes Capitel: Lazarethe des Inlandes. In Preussen
waren dieselben theils staatliche immobile Lazarethanstalten — Reserve-
lazarethe zur Aufnahme von Kranken der mobilen Armee — Garaisonlaza-
rethe, für Kranke der immobilen Heerestheile — Belagerungslazarethe, in
Festungen — und Kriegsgefangenenlazarethe, Hülfslazarethe der letzt¬
genannten oder „Depotlazarethe 44 in Gefangenendepots — theils Lazareth-
und Pflegeanstalten der freiwilligen Krankenpflege — Vereins- und
Privatlazarethe.
Behufs Errichtung von Lazarethen wurde auf gesunde Lage und gute
Eisenbahn- oder Wasserverbindung gesehen, als Gebäude Krankenhäuser,
Casernen, Exercierhäuser, Reitbahnen u. dergl., ferner Schützenhäuser, Turn¬
hallen, grössere Privatgebäude bevorzugt, Kirchen und Schulen nur im Noth-
falle benutzt; ausserdem wurden Barackenlazarethe errichtet.
In den süddeutschen Staaten waren die beiden Kategorieen nicht durch¬
weg streng getrennt, da vielfach der Staat die Gebäude und die Verpflegungs-
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Sanitätsdienst b. d. deutschen Heeren im Kriege gegen Frankreich. 149
kosten lieferte, während Behandlung, Pflege und Verköstigung von der frei¬
willigen Krankenpflege gestellt wurden.
Von staatlichen Lazarethen standen in Preussen am 12. August 1870
schon an 74 Orten 22 408, zur Zeit des grössten Bedarfs an 204 Orten
60 731 Lagerstellen zur Verfügung. Die Zahl erhöht sich durch die Garnison-
und Festungslazarethe etc. auf 96 805, und mit Sachsen (6645), Bayern
(13 345), Württemberg (3611) und Baden (5086) auf die stattliche Gesammt-
summe von 125 542 Betten in den staatlichen Lazarethen Deutschlands.
Dazu kommen noch 23 088 Lagerstellen in Kriegsgefangenenlazarethen an
70 Orten. In denselben sind 425 810 Deutsche (circa 250 000 der mobilen
und 175 810 der immobilen Armee) und 176 472 Franzosen, zusammen
602 282 Mann verpflegt worden.
Siebentes Capitel. Eine besonders umfangreiche und detaillirte
Schilderung findet die in diesem Feldzuge zum ersten Mal in grossem Maass¬
stabe durchgeführte Behandlung in Zelten und Baracken. Die einzelnen
Etablissements sind nach Situation und Construction genau geschildert und
durch Abbildungen erläutert. Wir entnehmen diesem Abschnitt, dass bei
Feld-, Kriegs- und Etappenlazarethen, sowie bei Lazarethen der freiwilligen
Krankenpflege, auf dem Kriegsschauplatz im Ganzen 88 Zelte mit 681 Lager¬
stellen und 94 Baracken mit 4122 Lagerstellen Verwendung fanden.
Im Inlande kamen bei Reservelazarethen 175 Zelte mit circa 2000, bei
Vereinslazarethen 93 Zelte mit 855 Lagerstellen in Gebrauch. Ausschliess¬
liche Zeltlazarethe bestanden 3, 1 bei Bingen, 2 in Köln.
Die Verwendung von Baracken im Inlandewareine weit umfangreichere.
Es sind im Ganzen an 84 Orten bei 114 Garnison-, Reserve-, Vereins- und
Privatlazarethen 459 eigentliche Krankenbaracken mit 12 722 Lagerstellen
errichtet worden; ausserdem bei 10 Etappenlazarethen 17 Krankenbaracken
mit circa 1100 Lagerstellen; ferner bei Kriegsgefangenenlazarethen 130
Baracken mit 7073 Lagerstellen; zusammen also 646 Baracken mit 20 895
Betten. Dazu kommen noch die administrativen Zwecken dienenden Laza-
rethbaracken, sowie eine grosse Anzahl barackenartiger oder barackenartig
aptirter Unterkunftsräume, wie Schiess-, Turn- und Industriehallen, Reit-
bahifen, Exercierschuppen, Kegelbahnen, Trainremisen, Mannschaftsbaracken
n. dergl. Grössere Barackenlazarethe bestanden in Berlin (50 Baracken), in
Frankfurt a.M. (30, 14 u. 7 Baracken), in Gmünd (25 Baracken), in Hamburg-
Altona (29 Baracken), in Hannover (20 Baracken), in Wesel (15 Baracken),
in Leipzig und Ludwigsburg (je 12 Baracken), in Darmstadt (11 und 9
Baracken), in Mannheim und Saarbrücken (je 10 Baracken), in Kassel
(8 Baracken) und in Karlsruhe (6 Baracken); ferner bei Gefangenendepots
in Ulm (18 Baracken), in Koblenz (15 und 14 Baracken), in Wesel (15 und
7 Baracken), in Minden (13 Baracken), bei Glogau (12 Baracken).
Dieser Abschnitt erscheint sehr reich illustrirt durch 1 Karte, 31 Tafeln
mit zusammen 142 Abbildungen und 6 Abbildungen im Text. Die Tafeln sind
zum grossen Theil einem Manuscript des verstorbenen Dr. med. Friedleben
in Frankfurt a. M. entnommen.
Das achte und letzte Capitel dieses Bandes handelt von der frei¬
willigen Krankenpflege, deren Leistungen in den vorigen Capiteln schon
vielfach berührt worden sind.
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Kritiken und Besprechungen.
Der erste Abschnitt bespricht die Entstehung, Berechtigung und histo¬
rische Entwickelung der freiwilligen Krankenpflege überhaupt und speciell
in Deutschland, und gipfelt im Hinweis auf die nun mehr auch allgemein
anerkannte Nothwendigkeit der Centralisation und Einfügung derselben in
den staatlichen Rahmen.
Der zweite Abschnitt schildert die Thätigkeit der deutschen frei¬
willigen Krankenpflege im Kriege 1870— 1871. Bei Ausbruch desselben
trat in Berlin das Centralcomite der deutschen Hülfsvereine,
bestehend aus Delegirten der Landesvereine, zusammen und verblieb dort
in Permanenz; demselben ordneten sich allmälig fast alle einzelnen Vereine
unter, so dass es zur Zeit des Friedensschlusses 25 Landes- , 25 Provinzial-
und 1987 Zweigvereine mit zusammen etwa 255 000 Mitgliedern vertrat.
Zum königlichen Commissar und Militär in spe cteur der frei¬
willigen Krankenpflege wurde der Fürst von Pless ernannt. Ihm
unterstanden die Delegirten im Inlande, welche zugleich als Delegirte
des Centralcomites fungirten und die Thätigkeit der Vereine leiteten; ferner
die den Hauptquartieren der Höchsteommandirenden attachirten Armee-
delegirten (meist Johanniterritter), welche die Bedürfnisse auf dem Kriegs¬
schauplatz festzustellen, und ihre Requisitionen an die, den Generaletappen-
inspectionen beigegebenen Generaletappendelegirten, eventuell an
die Provinzial- und Landesdelegirten, zu richten hatten.
In Aussicht genommen war einerseits Bereitstellung von Personal,
Pfleger und Pflegerinnen, wozu namentlich die Diakonenanstalten, die evan¬
gelischen und katholischen Krankenpflegeorden, die Frauen vereine, ferner
in grossem Umfange die studentischen Kreise, Turner, Schützen, Feuerwehr
und sonstige Verbindungen beitrugen; andererseits Lieferung von Material,
und zwar Lagerungs-, Bekleidungs- und Verbandgegenstände, Instrumente
und Arzneien, Nahrungs- und Genussmittel, und sonstige Lazarethbedürf-
nisse und Utensilien. Dieselben waren in Vereinshauptdepots (für die
I. Armee Koblenz, für die II. Mainz, für die III. Mannheim) zu sammeln,
welchen zur Completirung der Bestände je eine Anzahl Vereinsreserve¬
depots, eventuell das deutsche Centraldepot in Berlin zur Verfügung
standen. Beim Vorrücken der Armeen schoben die Hauptdepots auf den Eisen¬
bahnlinien Zweigdepots vor, und rückten später selbst auf den Kriegs¬
schauplatz, wo allmälig 8 Hauptdepots und 64 Reservedepots errichtet wurden.
Diese Organisation entfaltete denn auch eine entsprechend bedeutende
Wirksamkeit. Dieselbe gliederte sich folgendermaassen:
A. Auf dem Kriegsschauplatz. Zu Hülfsleistungen auf den Schlacht¬
feldern kam nur ein Theil der zu diesem Zweck ausgerüsteten, als „Sani¬
tätscorps, Hülfscorps, Krankenträger, Nothhelfer“ bezeichneten Corporationen.
Dieselben leisteten beim Verwundetentransport aus dem Gefecht, Absuchung
der Schlachtfelder, und erste Hülfsleistung durch Labung, Verband und ärzt¬
lichen Beistand wesentliche Dienste. Andere etablirten sich als eine Art
freiwilliger Feldlazarethe, so das Breslauer Corps unter Prof. Fischer in
Forbach und Neunkirchen, die Grolman’sche Colonne in Donchery, ein
Frankfurter Corps in Etampes; das grösste Lazareth der freiwilligen Kranken¬
pflege auf dem Kriegsschauplatz bestand in Weissenburg unter Prof. Bill-
roth.
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Sanitätsdienst b. d. deutschen Heeren im Kriege gegen Frankreich. 151
Die Feld- und Kriegslazarethe wurden in reichem Maasse mit Personal
und Material versorgt. Für Erquickungs- und Genussmittel ausschliesslich,
vielfach aber auch für Verbandmaterial, Arzneien u. dergl. waren die Laza-
rethe auf die Depots der freiwilligen Pflege angewiesen.
Eine sehr wichtige Rolle spielte die freiwillige Krankenpflege bei dem
Evacuationsdienst, sowohl durch Einrichtung und Begleitung von Sanitäts¬
zügen, als durch Errichtung von Erfrischungs- und Verbandstationen an
den Linien. Ebenso wirkte sie durch Desinfection der Schlachtfelder an
der Prophylaxe mit. Die vielfach stattgehabte, oft eigenmächtig durch¬
geführte Versorgung der Truppen mit Kleidung, Nahrungs- und Genuss¬
mitteln lag eigentlich ausserhalb ihrer Aufgabe. Dagegen wirkte sie
vielfach segensreich durch Führung der Correspondenz der Kranken und
Unterstützung der Seelsorge.
B. Im Inlande erstreckte sich die Wirksamkeit der freiwilligen
Krankenpflege auf Errichtung von Bahnhofstationen zur Verabreichung von
Speisen und Getränk, Decken und Kleidung, Erneuerung der Verbände
u. dergl. für die durchpassirenden Kranken und Verwundeten; ferner auf
Unterstützung der Reservelazarethe, theils durch Uebernahme von Ver¬
waltungszweigen in staatlichen Lazarethen, theils durch Errichtung eigener
Vereins- oder Privatlazarethe, theils durch Uebernahme von Reconvale-
scenten in Privatpflege. So waren z. B. allein in Berlin 26 wohleingerich¬
tete Vereins- und Privatlazarethe mit über 2000 Betten.
Gegen Ende des Krieges bestanden in Deutschland gegen 1500 Vereins¬
und Privatlazarethe mit circa 33 000 Lagerstellen, in welchen etwa 70 000
Deutsche und 1200 Franzosen Aufnahme und Verpflegung gefunden haben.
Der für dieselben seitens der Vereine gemachte Aufwand an Baarmitteln
wird auf über 6 Millionen Mark angegeben.
Eine weitere Thätigkeit der freiwilligen Pflege bestand in der Nach¬
richtenvermittelung, besonders durch das Centralnachweisebureau in Berlin,
welches namentlich auch Nachrichten über in Feindesland gebliebene Ver¬
wundete und Gefangene lieferte; endlich in Beihülfen an Reconvalescenten,
Invalide, Hinterbliebene u. s. w., besonders durch Ermöglichung von Bade-
und klimatischen Curen und durch Beschaffung künstlicher Glieder.
Der Schlussbetrachtung entnehmen wir, dass bei dem Centralcomite
und den mit ihm verbundenen Vereinen über 30 Millionen Mark aus
Deutschland und 8 Millionen Mark aus dem Auslande eingelaufen sind.
Verausgabt wurden über 34 Millionen Mark. Der Werth der eingegangenen
und verausgabten Naturalgaben wird auf über 15 Millionen Mark veran¬
schlagt; die Stärke des zur Verwendung gekommenen freiwilligen Personals
betrug über 30 000 Köpfe.
Der dritte Abschnitt handelt zunächst von der Entwickelung der inter¬
nationalen freiwilligen Krankenpflege, welche, auf dem Gedanken fassend, dass
der verwundete Feind kein Feind mehr sei, zwar schon früher vielfach ange¬
regt und auch angewandt wurde, aber erst durch die Genfer Convention einen
festen, auf völkerrechtlicher Grundlage ruhenden Ausdruck fand; neu erschien
in derselben namentlich die Idee der allgemeinen Neutralisation des Sanitäts¬
personals und -Materials im Kriege. Die freiwillige Krankenpflege ist im
Wortlaut der Convention nicht mit inbegriffen, wurde aber als durch Ein-
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152
Kritiken und Besprechungen.
fügung in den staatlichen Organismus mit unter deren Schutz stehend all¬
seitig stillschweigend anerkannt.
Von deutscher Seite wurde der internationalen Krankenpflege durch
Fürsorge für die französischen Kranken und Verwundeten und Vermittelung
der Communication derselben mit ihrer Heimath, durch Gaben an die noth-
leidende französische Bevölkerung auf dem Kriegsschauplatz, durch Fürsorge
für die Kriegsgefangenen, wofür neben zahlreichen Localvereinen ein eigenes
„Preussisches Commite zur Unterstützung der Kriegsgefangenen“ thätig
war, und Uebermittelung der aus Frankreich und dem Auslande denselben
zugedachten Gaben, Genüge geleistet.
In ähnlicher Weise hat sich die französische Hülfsgesellschaft (Societe
de secours) der deutschen Kriegsgefangenen angenommen.
Die Beihülfe neutraler Völker bestand einerseits in Uebersendung von
sehr reichen Gaben an Geld und Naturalien (darunter über 3 Millionen Mark
aus Nordamerika, allerdings meist von dort lebenden Deutschen), andererseits
in directen Hülfsleistungen. In der Schweiz leistete die internationale
Agentur in Basel theils durch Annahme und Vertheilung von Gaben, theils
durch ihr Informationsbureau, wesentliche Dienste; ausserdem wirkte eine
grosse Anzahl Schweizer Aerzte und Studenten in Lazarethen, besonders
auf dem südöstlichen Kriegsschauplatz. Der Niederländische Verein
hat eigene Lazarethe in Trier, Saarbrücken, Düsseldorf, Wesel, Neuwied und
Mannheim errichtet. Belgisches Personal und Material kam in Saar¬
brücken, Trier und Falkenberg zur Verwendung. Oesterreich sandte
hervorragende Operateure und barmherzige Schwestern. Von englischer
Seite wurden, nebst reichen Gaben an Geld und Material, namentlich Zelten,
Lazarethe in Darmstadt und Saarbrücken errichtet, ferner eine anglo-ameri-
kanische Ambulanz in Sedan und Balan. Ausserdem wirkte eine grosse
Anzahl englischer Aerzte, Damen und Pfleger in Lazarethen.
In einem Anhang, die Genfer Convention im Kriege 1870 — 1871 be¬
treffend, wird deren im Ganzen, wenigstens deutscherseits, möglichst voll¬
ständig stattgehabte Durchführung hervorgehoben, aber über mangelnde
Veröffentlichung und Verständniss auf französischer Seite geklagt, wodurch
vielfach Uebelstände und Missverständnisse hervortraten. Mit Recht wird
betont, dass derartige geschriebene Verträge nur dann praktischen Werth
erlangen, wenn deren leitende Ideen schon ira Frieden in das Bewusstsein
nicht nur der Gebildeten, sondern auch der Massen übergegangen sind.
Hiermit schliesBt dieser Band, welcher sowohl für das allgemeine Publi¬
cum, als auch speciell den Leserkreis dieser Zeitschrift der interessanteste
des grossartigen Werkes sein dürfte. Das Werk selbst ist seitens des Kriegs¬
ministeriums in liberalster Weise an alle Commandobehörden, Truppentheile
und grösseren Lazarethe vertheilt und dadurch weiten Kreisen zugänglich
gemacht worden. Wir haben hier selbstverständlich nur die Umrisse an¬
gedeutet, der Inhalt bietet des Interessanten und Bemerkenswerthen so viel,
dass es sicher Niemanden reuen wird, wenn er sich durch die Stärke des
Bandes von dessen eingehendem Studium nicht hat abhalten lassen.
Stabsarzt Dr. Zimmern (Frankfurt a. M.).
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Dr. Wernich, Lehrbuch für Heildiener.
153
Dr. Wernich, königl. Kreisphysicus und Universitätsdocent in Berlin:
Lehrbuch für Heildiener. Mit Berücksichtigung der Wunden¬
pflege, Krankenaufsicht und Desinfection. Berlin 1884, Hirschwald.
152 S. mit 30 Holzschnitten.
Durch Erlass vom 27. Deceraber 1869 hatte der Cultusminister ver¬
fügt, dass das „nützliche“ Institut der Heildiener oder Chirurgengehülfen
(Heilgehülfe, Assistenzchirurg, Lazarethgehülfe beim Heere) auch nach dem
Inkrafttreten der Gewerbeordnung für den norddeutschen Bund, welche „die
Ausübung der kleinen Chirurgie Niemandem verwehrt“, nicht fallen zu lassen
sei. Vom Jahre 1853 an war als Unterrichtsbuch vorzugsweise das Hand¬
buch für Heilgehülfen von Ravoth im Gebrauch gewesen, während für die
Lazarethgehülfen ein Leitfaden zum Unterrichte, herausgegeben vom Chef
des Militärmedicinalwesens (1868 in fünfter und letzter Auflage) vorhanden
war. Beide Bücher galten als längst veraltet, als Dr. Siegmund Marcuse
sein Lehrbuch für Heilgehülfen 1881 erscheinen liess, auf dessen Titel
bemerkt ist: mit besonderer Berücksichtigung der neueren antiseptischen
Wundbehandlung. Aber auch diese Arbeit kann modernen Anforderungen
nicht mehr genügen, abgesehen davon, dass die hochwichtige Desinfection
nur ganz kurz behandelt und die sicherlich berücksichtigenswerthe Kranken¬
wartung völlig unbesprochen geblieben ist. Gewiss war Herr Dr. Wernich
wie wenige berufen, durch seine hervorragende Stellung in der Desinfections-
frage, sowie durch seine Thätigkeit als Gefängnissarzt, welch letztere die
Heranbildung von „Gefängnisaufsehern und Hülfsaufsehern zu brauchbaren
Lazarethgehülfen“ zur Aufgabe machte, ein gutes Lehrbuch abzufassen, und
er hat solches in dem Sinne gethan, dass er sich es angelegen sein liess, für
alle wichtigen Punkte die Ansicht der maassgebenden Persönlichkeiten der
Reichshauptstadt einzuholen.
Der Inhalt des Lehrbuches zerfällt in acht Capitel.
Das erste handelt von dem Bau des Körpers, seinen Theilen und deren
Verrichtungen. In kurzen Zügen und mit wenig Wortaufwand wird eine
Darstellung des für den Heilgehülfen Wissenswerthen geboten. Gute Ab¬
bildungen, deren Buchstaben nicht immer die nöthige Erklärung Anden,
vermitteln das Verständniss.
An die Spitze des zweiten Capitels, das die plötzliche Unterbrechung
der Lebensthätigkeiten und die Körperbeschädigungen durch Unglücksfälle
erörtert, hat Verfasser den wichtigen Satz gestellt: der Heilgehülfe solle
sich nicht als halber Arzt und vorgreifender Pfuscher benehmen, sondern
als ein gemeinnütziger Helfer. Der erste Abschnitt bespricht Bewusstlosig¬
keit, Scheintod, Vergiftung, Verbrennung, Blutung aus den natürlichen
Oeffnungen. Referent kann nicht umhin, die Schilderung der aus Gruben-,
Cloaken- und Brunnengasen entstehenden Gefahren und der zu leistenden
Hülfe als Vorzüglich und originell zu bezeichnen, ebenso diejenige der Be¬
handlung von Thierbissen, wenn auch bei Bissen wuthverdächtiger Hunde
die Aetzung mittelst 90proc. Carbolsäure (Esmarch) als leicht ausführbar,
hätte Erwähnung Anden können. Vergessen wurde die Vorschrift, erfrorene
Glieder hochzulegen, ferner eine kurze Angabe der Symptome, welche Ver*
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154
Kritiken und Besprechungen.
giftungen mit Säuren hervorrufen, sowie ein Hinweis, was mit einem Indi¬
viduum, dessen Kleider in Brand gerathcn sind, sofort zu geschehen habe*
Des zweiten Abschnittes erster Theil behandelt die Verletzungen ohne Haut¬
trennung, der zweite Theil die Wunden. An die vortreffliche Schilderung
der Fractur und deren Heilung reiht sich die ebenso tüchtige Anleitung zur
antiseptischen Behandlung der Wunden, die mit fetter Schrift die goldene
Regel bringt: niemals einer Wunde schaden. Vermisst hat Referent nur
die stricte Vorschrift, wie ein provisorischer Wundverband zu machen sei.
Das sich mit dem Transporte Verletzter und Schwerkranker befassende
dritte Capitel empfiehlt erfreulicherweise nur das Aufheben von einer Seite.
Die präcisen Vorschriften dürften nur nach der Richtung hin ergänzt werden,
dass beim Aufheben des Verletzten die Träger sich auf je ein Knie nieder¬
lassen, und dass zum Unterfassen des Gesässes der stärkste zu bestellen ist.
Das vierte Capitel enthält die Hülfeleistung bei den vom Arzte aus-
zuführenden Operationen. Mit Recht wird dem Heildiener die Desinfection
seiner Person zur Pflicht gemacht, welche Vorschrift leider in der Praxis
recht oft nicht zur Ausführung kommt. Referent möchte den sonst vor¬
trefflichen Ausführungen noch hinzufügen, es solle der Heildiener angewiesen
werden, die antiseptischen Verbandstücke zur Anlegung des Verbandes auf
einem frisch entfalteten reinen Tuche auszubreiten (nicht auf Tischplatten,
Bettdecken u. s. w.) und etwa auf den Boden gefallene Verbandstücke von
der directen Berührung mit der Wunde unbedingt ausschliessen. Bei den
Gypsbinden wäre die Vorschrift , nur bis zum vollständigen Austreiben der
Luft dieselben im Wasser zu belassen und alsdann gelinde auszupressen,
sowie die Erwähnung des Alaunzusatzes zum Wasser wohl am Platze gewesen.
Die Darstellung der selbständigen Thätigkeit des Heildieners im Be¬
reiche der kleinen Chirurgie — fünftes Capitel — ist nach jeder Richtung
hin zweckentsprechend.
Das sechste Capitel, Krankenaufsicht und Krankenpflege, veranlasst
den Referenten einige Auslassungen anzuführen, z. B. dass gewisse Mixturen
nicht geschüttelt werden dürfen, dass das Arzneiglas stets wieder gehörig
zu verkorken sei, dass man den Patienten, falls Zweifel vorliegt, ob er die
Arznei geschluckt hat, sprechen lässt. Auch erscheint Referent die an¬
gegebene Methode der subcutanen Injection nicht als die allgemein ange¬
nommene. Beim Ausspritzen der Ohren wäre, wenn Eiterung vorhanden,
sehr vorsichtiges Injiciren zu empfehlen gewesen. Ferner hätten die
gelegentlich zu beobachtenden Schwierigkeiten bei Einführung der Clystier-
canüle und was dagegen zu thun sei, Erwähnung finden dürfen. Die Vor¬
schrift des Catheterisraus der Blase lässt die Empfehlung des stricten Ein¬
haltens der Mittellinie des Körpers vermissen. Dagegen wäre die Vorschrift,
den Metallcatheter in 3proc. Carbollösung aufzubewahren, zu streichen, da
dessen Verbleiben in solchem Desinficiens starke Oxydirung zur Folge haben
müsste. Bei den Bädern ist nicht angeführt, dass auf ärztliche Anordnung
hin deren Wärme zu steigern oder zu vermindern ist, durch Zugiessen ent¬
sprechend temperirten Wassers. Ferner fand die Wichtigkeit der Ver¬
hütung des Decubitus durch häufigen Lagerwechsel keine Erwähnung. Ganz
vorzüglich ist der kleine Abschnitt über die Abwartung ansteckender Krank¬
heiten.
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Alfred Duraud-Claye, L’ßpideraie de tievre typhoide ä Paris. 155
Das siebente Capitel giebt die Anweisungen zur Desinfection; dieselben
sind in jeder Hinsicht mustergültig.
Im achten Capitel werden die gesetzlichen Verfügungen und Straf¬
bestimmungen, sowie die Taxen für den Heilgehülfen angeführt und die
nöthigen Instrumente und Verbandmittel verzeichnet.
Das vorliegende Lehrbuch ist in seiner knappen Fassung, in seiner
Beschränkung der Thätigkeit des Heildieners auf ein richtig abgegrenztes
Gebiet und in der Verständlichkeit der Darstellung ein ausgezeichnetes zu
nennen. Wenn Referent eine Anzahl rein sachlicher Ausstellungen gemacht
hat, so geschah das aus dem Grunde, weil bei technischen Vorschriften auch
kleine Einzelheiten nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Nicht nur für
Heilgehülfen, sondern auch für die Collegen ist das Buch von grossem
Werthe, da es über den Wirkungskreis ersterer genaue Auskunft ertheilt
und dem Arzte es leicht möglich macht, in allen Fällen eine richtige Des¬
infection nach bestimmten Regeln anzuordnen.
Dr. Heinrich Schmidt (Frankfurt a. M.).
M. Alfred Durand-Claye, Ingenieur en chef des ponts et chaussSes ,
Professeur aux öcöles nationales des beaux - arts et des ponts et cliaus -
sees■. L’fJpidemie de flövre typhoide ä Paris en 1882.
titudes statistiques. Paris. Imprimn ic et librairie centrales des chemins
de fer. 1883. Klein-Folio.
Seit einer Reihe von Jahren zeigt der Typhus in der französischen
Hauptstadt eine ganz besondere Sterblichkeit, zeitweise das Drei- und Vier¬
fache der Sterblichkeit in London, Brüssel und Berlin. Nimmt man das
Kriegsjahr 1871 aus, so zeichnet sich namentlich das Jahr 1882 vor den
vorausgehenden 14 Jahren aus: es starben 3298 Personen oder es kamen
14*7 Typhustodesfalle auf 10000 Einwohner gegenüber dem 14jährigen
Mittel von 8*3 pro 10000 Einwohner. Der Verfasser versucht es nun, in
seiner überaus fleissigen und mustergültigen; ja grossartigen Arbeit den
Ursachen nachzugehen, die auf Entstehung, Verbreitung und Charakter
jener Krankheit eingewirkt haben. Er will sich — als Nichtmediciner —
nicht in die rein ärztlichen Fragen einmischen, sondern nur eine Anzahl
statistischer Thatsachen sammeln, die als Grundlagen einer vollständigen
medicinischen Bearbeitung benutzt werden können.
Die Resultate seiner Forschung gibt Verfasser in drei Capiteln.
Capitel 1 enthält Statistik der Epidemie, chronologisch und topo¬
graphisch. Capitel 2 enthält Statistik der natürlichen Einflüsse: Meteoro¬
logie, Geologie, Hydrologie. Capitel 3 enthält Statistik der künstlichen
Einflüsse: Wohnungen, Wasser, Entwässerung.
Ein dicker Folioband mit Tafeln und Curven, die von besonderer
Schönheit und Uebersichtlichkeit sind, dient zur Erläuterung aller Verhält¬
nisse. Aus den topographischen Curven ersieht man auf den ersten
Blick, dass der Hauptherd der Epidemie in den niedrig gelegenen, schlecht
drainirten, den Ueberschwemmungen der Seine ausgesetzten, überhaupt in
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156 Kritiken und Besprechungen.
den vernachlässigsten Theilen der Stadt, in den Kreisen der Casernen
Spitäler, Schlachthäuser etc. gewesen ist.
Die graphischen Darstellungen der natürlichen Einflüsse betreffen
Barometerstand, Temperatur, Regenmengen, Sonnenlicht, Verdunstung,
Hydrometrie, Winde etc. Hier sei nur erwähnt, dass die Typhustodesfalle
im Juli und August rapid stiegen, als auf den seit Beginn des Jahres
abnorm trockenen Boden reichliche Regenmengen fielen, während das
Maximum der Epidemie mit der Abnahme der Regenmenge co'incidirt.
Grundwasserbeobachtungen fehlen leider. In geologischer Hinsicht sei be¬
merkt, dass Paris fast ganz auf permeablem Terrain erbaut ist. Alle
niederen Quartiere, die von der Epidemie wenig zu leiden hatten, stehen
auf sandigem und permeablem Alluvium, das von der Seine durchflossen
wird. Andererseits hat das Quartier de VÜcole Militaire , das von der
Epidemie so heimgesucht wurde, ebenso wie das besonders ergriffene zwölfte
Arrondissement gleiche Bodenbeschaffenheit. Diese Differenzen scheinen
von der grösseren oder geringeren Durchlässigkeit und Leichtigkeit, Wasser
zu absorbiren oder zurückzuhalten, herzurühren.
Wenden wir uns zu den künstlichen Einflüssen, bo sei zuerst
der Dichtigkeit der Bevölkerung als einer wichtigen Ursache der
Typhusmortalität Erwähnung gethan, mag man nun die Bewohnerzahl eines
Hectars oder die Bewohnerzahl der einzelnen Häuser rechnen. Allerdings
können die fraglichen Zahlen nicht in absoluten Zusammenhang mit der
Ausbreitung und dem Verlaufe der Epidemie gebracht werden, denn die
Häuser der Arbeiter und Armen, die bekanntermaassen aller hygienischen
Einrichtungen entbehren, sind in der Regel klein und beherbergen nicht
sehr viele Bewohner, während die grossen Prachtbauten, die mit allen
gesundheitlichen Einrichtungen versehen sind, eine sehr starke Bewohner¬
zahl haben; namentlich gilt dies bei einem Vergleiche der Bewohner auf
einem Hectare, welche in dem zweiten Falle viel beträchtlicher sein kann,
als in dem ersten. Aber — sagt der Verfasser — betrachtet man die eng
bei einander liegenden Quartiere mit den einzelnstehenden, so lassen sich
mit Gewissheit die schuldigen Einflüsse in jedem einzelnen Falle nach-
weisen. Der Umfang der diesbezüglichen tabellarischen und graphischen
Darstellungen ist zu gross, um hier weiter beleuchtet werden zu können,
es muss desshalb auf sie verwiesen werden und es sei daher hier nur noch
mitgetheilt, was der Verfasser unter oben angegebenen Vorbehalten sagt:
Die HöchBtzahl der Einwohner eines Hauses trifft fast ohne Ausnahme mit
der Höchstzahl der typhösen Sterbefalle zusammen. So finden sich bei¬
spielsweise in dem Quartier SaintGervais , wo die Bewohner eines Hauses
die absolute Höchstzahl (mehr als 48 Einwohner auf ein Haus) darstellen,
15*19 typhöse Todesfälle auf 10000 Einwohner, während in dem Quartier
iVAtdeuü , wo ein wenig mehr als elf Bewohner auf ein Haus entfallen, nur
5*64 typhöse Todesfälle auf 10000 Einwohner kommen.
Bei der Vergleichung der Bewohner möblirter Wohnungen ein¬
schliesslich der Gasthausfremden mit den übrigen ergiebt sich ein besonders
auffallendes Resultat. Das Quartier des Invalides beherbergt eine beträcht¬
liche Anzahl Bewohner möblirter Wohnungen (4072 auf 10000 Einwohner).
Die typhöse Sterblichkeit daselbst war nicht sehr bedeutend: 9*87 auf
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Alfred Durand-Claye, L’fipidemie de fievre typhoide ä Paris. 157
10000 Einwohner; das nahe daran gelegene Quartier dfl&cole Müüaire da¬
gegen weist die Höchstzahl (32*63) der Sterbefölle auf. Das Quartier Bel -
Air zahlt vier Fünftel seiner Einwohner als Miether möblirter Räume; das
hatte aber einen nur schwachen Einfluss auf die Sterblichkeit, denn sie
erreichte nur 4‘13 auf 10000 Einwohner; der Grund ist darin gegeben, dass
die Bevölkerung daselbst zerstreut und dünn wohnt.
Der WasserversorgungBfrage ist ebenfalls grosse Sorgfalt ge¬
widmet. Uebereinstimmend mit allen Hygienikern erklärt der Verfasser das
Wasser als einen grossen Factor für die öffentliche Gesundheit. Es muss
leicht alle Wohnungen versorgen und alle Abgänge, welche das Leben
liefert, in dem Maasse, als sie erzeugt werden, mit grösster Geschwindigkeit
aus der Stadt schaffen. Die verfügbare Menge, die Güte des Wassers, die
Verwendung für öffentliche und Privatzwecke etc. beeinflussen offenkundig
die allgemeinen Gesundheitsverhältnisse einer grossen Stadt. Paris empfing
im Jahre 1882: 366 096 cbm Wasser innerhalb 24 Stunden (im monatlichen
Durchschnitt) und zwar 106 517 cbm Quellwasser, 127 407 aus der Ourcq,
125 256 aus Flüssen, 6916 aus Brunnen. Bei einer Bevölkerung von
2 239 928 Einwohnern kamen täglich auf den Kopf 0*048 cbm Quellwasser,
0*056 cbm aus der Ourcq, 0*056 Flusswasser, 0*003 Brunnenwasser, zusam¬
men 0*163 cbm.
Nach Abzug des Wasserverbrauchs für den öffentlichen Dienst ver¬
blieben dem Pariser nur noch 0*040 cbm, welche er im Abonnement bezieht.
Rechnet man hierzu noch 0*019 cbm, welche ausser Abonnement bezogen
werden, so beträgt die Gesammtmenge 0*059 cbm täglich auf den
Kopf der Einwohnerzahl; darunter ist jedoch der Verbrauch für
gewerbliche Zwecke, Reinigen der Höfe, Begiessen der Gärten etc. mit in¬
begriffen. Die Versorgung der öffentlichen Anstalten und Springbrunnen
der Strasse zeigt die geringe Menge von 0*014 cbm auf den Kopf.
In welchem Verhältnisse das für den Service public verwendete Wasser
zu der Zahl der typhösen Todesfälle steht, wird durch Tafeln erläutert. Der
Wasserverbrauch ist in allen Arrondissements ziemlich gleich und erlaubt
eigentlich keinen Zusammenhang mit der Entwickelung der Epidemie.
Indessen finden sich doch zwei grosse Ausnahmen, und zwar in den Arron¬
dissements 8 und 16; ersteres hat bei 143*8 cbm Wasser 8*31, letzteres bei
252*5 cbm 6*92 Todesfälle auf 10000 Einwohner.
Auch bei dem Privatwasserverbrauche, der curvenmässig dargestellt ist,
zeichnen sich diese beiden Arrondissements durch bedeutenden Wasser-
consum und geringe Sterblichkeitsziffer aus: Nr. 8 mit 772 cbm und
8*31 Todesfällen, Nr. 16 mit 464cbm und 6*92 Todesfällen pro 10000 Ein¬
wohner. Der geringe Wasserverbrauch in den Arrondissements 4, 5 und 6
entspricht einer starken Sterblichkeit:
Nr. 4 Nr. 5 Nr. 6
Wasserconsum. 275 309 368
Mortalität. 11*66 10*05 10*84
Das Arrondissement 19 mit seinen zahlreichen industriellen Etablisse¬
ments verbraucht die ziemlich grosse Wasser menge von 460 cbm und hat
die höchste Sterblichkeit mit 17*64.
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Kritiken und Besprechungen.
Bezüglich der Güte des Wassers ist nachgewiesen, dass die Verwen¬
dung des stets sehr verunreinigten Wassers der Oorcq fast gleichlaufend
mit der Sterblichkeit«Ziffer ist, so ungleich auch die betreffenden Zahlen
sind. Und dennoch beweisen sie nicht viel, weil andere Quartiere, wo kein
Tropfen Wasser der Ourcq getrunken wird, stärkere Sterblichkeit auf¬
weisen. In einzelnen Arrondissements war der Verbrauch aus der Ourcq:
Arrondissement: 3 7 12 15 9 14 16
Liter pro Tag und Kopf 27 30 16 14 8 0 0*8
Todesfälle. 997 1596 12*89 10*13 5*70 5*56 6*92
Die Verwendung des Quellwassers zeigt ein Obigem entgegen¬
gesetztes Verhältniss. Die Höchstziffer (24 bis 46 Liter pro Kopf) des ver¬
brauchten Wassers trifft überein mit der geringsten Mortalität, während in
den Arrondissements, in denen der Verbrauch nur 4 bis 10 Liter beträgt,
sehr stark von der Epidemie betroffen sind. Hinsichtlich der Verwendung
des Flusswassers lassen sich wegen der vielfachen Schwankungen keine
allgemeinen Schlüsse ziehen.
Bezüglich der Bäder ergiebt sich in ihrer Vertheilung auf die ein¬
zelnen Arrondissements und auf 10000 Einwohner, dass die Höchstzahl
derselben ohne Ausnahme mit der geringsten Sterblichkeit übereinstimmt,
Während mit der geringeren Zahl der Bäder die Sterblichkeit ihr Maximum
erreicht. Die Curven der Waschanstalten sind fast gleichlaufend mit
der typhösen Sterblichkeit. Sollte nicht die Ursache dieser übereinstim¬
menden Curven in dem Zusammensein der Wäscherinnen und in dem
Waschen der typhösen, nicht desinficirten Wäsche zu finden sein?
Ein günstiger Einfluss der gut gebauten Canäle auf die Typhus¬
mortalität scheint in verschiedenen Quartieren stattgehabt zu haben, jedoch
war er im Ganzen geringer als der des Wassers, der Wohnungen, der Be¬
völkerungsdichtigkeit etc. Eine Infection durch die Canäle selbst zeigte sich
nirgends und zwischen dem Zuge der Saramelcanäle und der Entwickelung
des Maximums der Epidemie bestand durchaus kein Zusammenhang. Die
Erbauung neuer Canäle im Jahre 1882 bildete eine hygienische Verbesserung
der damit versehenen Quartiere, nur war das Aufwühlen der Erde nicht
selten von ungünstigem, wenn auch rasch vorübergehendem Einflüsse auf
den Gesundheitszustand der Bewohner.
Sehr nachtheilig wirken die im Allgemeinen noch sehr häufigen „fosses
fixes u mit ihren Infiltrationen und Emanationen; wo dagegen ein Abfluss
nach den Canälen stattfindet, in Coincidenz mit reichlichem Wasserver¬
brauch, scheint ein Sinken der Typhusmortalität einzutreten.
Am Schlüsse seiner mühevollen, mit seltener Bescheidenheit publicirten
Arbeit kommt Durand-Claye zu dem Ergebnisse, dass man nicht eine
einzelne Ursache herausgreifen könne, um die Entstehung der Epidemie und
ihren Verlauf zu erklären, sondern dass eine Gesammtheit von Ursachen
und Bedingungen eingewirkt habe: Lage, Wasserverbrauch, Entwässerung,
Dichtigkeit der Bewohner und andere Umstände mehr; er ist weit davon
entfernt, dem Urtheile der Aerzte vorzugreifen, und bescheidet sich, ihnen
sein Material zu weiterer Forschung vorzulegen.
Dr. E. Marcus (Frankfurt a. M.).
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Dr. R. Blasius, Die Verwendung der Torfstreu.
159
Dr. R. Blasius: Die Verwendung der Torfstreu. Vortrag.
Braunschweig, 1884. 32 S.
Torfstreu hat in den letzten Jahren durch seine mannigfache Verwen¬
dung ein so hohes hygienisches Interesse gewonnen, dass es dankbar an¬
zuerkennen ist, dass der um die Hygiene, speciell seines engeren Heimath-
landes, so hoch verdiente Docent am Polytechnicum zu Braunschweig in
kurzer, anschaulicher Weise uns in vorliegendem Schriftchen die ganze
Torfindustrie, die Gewinnung des Torfes, wie seine verschiedene Verwen¬
dung, speciell auch zur Reinhaltung des Bodens der Städte geschildert hat.
Unter Torf versteht man ein verfilztes Gemenge abgestorbener Pflan¬
zen, welche durch langsame Oxydation mehr oder weniger ihres Wasserstoffs
beraubt und in Kohlenstoff übergeführt sind. An solchen Torflagern ist
bekanntlich der Westen der norddeutschen Ebene sehr reich. Bisher ver¬
wandte man den Torf fast ausschliesslich als Brenn- und Feuerungsmaterial,
wozu sich aber nur die tieferen, fester zusammengepressten Schichten
eignen, während die höheren, trockeneren Schichten, der eigentliche Moos¬
torf (gegenüber dem tieferen Bagger- oder Brenntorf), bisher die unbequeme
Zugabe für die Brenntorflieferanten, nutzlos abgebrannt wurde und meilen¬
weit durch seinen Höhen- oder Moorrauch die Luft verpestete.
Diese oberen Schichten nun, dieser Moostorf ist es, der in den letzten
Jahren mehr und mehr Verwendung findet und mit Recht auch die Auf¬
merksamkeit der Hygieniker auf sich gezogen hat. Es würde zu weit
führen, hier auf die von Blasius genau geschilderte Verwendung des
Moostorfs als Streumittel für Pferde- und Viehställe, für die es durch seine
stark absorbirende Eigenschaft bereits eine grosse Bedeutung gewonnen
hat, auf seine Verwendung als Verbandmittel, als Schutz- und Isolirmittel
gegen Frost und Wärme, als Conservirungsmittel für Früchte und Fleisch,
zur Fabrikation von Papier, Stricken, Watte u. dergl. näher einzugehen,
wir müssen uns begnügen, über das kurz zu referiren, was Blasius in
Betreff der Verwendung des Moostorfes zur Desinficirung und Desodorisirung
der menschlichen Excremente und damit zur Reinhaltung des Bodens mit-
getheilt hat, wobei ihm zahlreiche Versuche in und um Braunschweig herum,
in öffentlichen und Privathäusern, auf dem Lande und zum landwirtschaft¬
lichen Betrieb als Unterlage dienen.
Bei der Fabrikation des Moostorfes wird derselbe, nachdem er getrock¬
net und mit Maschinen zerrissen und zu wallnussgrossen Stücken zer¬
kleinert ist, gesiebt, wobei sich der sogenannte Torfmull als eine feine,
braune, pulverige Masse von dem auf dem Siebe zurückbleibenden Torf¬
streu, einer hellbräunlich gefärbten, faserigen Masse trennt. Während
letztere vorzugsweise als Streumaterial in Viehställen u. s. w. verwandt wird,
ist es der Torfmull, der zur Desinficirung der Aborte gebraucht wird.
Dieser Torfmull, ebenso wie die Torfstreu, hat eine ganz ausserordent¬
lich grosse Aufsaugungsfähigkeit für Flüssigkeiten, von denen er mindestens
das Achtfache seines Gewichts aufnehmen kann; ausserdem aber hat der
Torfmull auch noch eine grosse Absorptionskraft für Ammoniak und die
eigentümlichen Stinkstoffe der menschlichen Excremente. Wird eine Ab-
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Kritiken und Besprechungen.
ortgrube mit Torfmull genügend versehen, so verschwindet der Fäcal-
geruch vollständig, nur ein eigenthümlicher süsser Geruch bleibt in gerin¬
gem Maasse zurück, und Urin etc. wird aufgesogen, so dass in der Grube
eine feuchte, pulverige, nicht riechende und nicht stäubende Masse ver¬
bleibt. Ausser in Abortgruben sind, namentlich auf Eisenbahnen, auch
Versuche mit Torfstreu zur Desodorisirung von Pissoirs, die keine Spülung
haben, gemacht worden, indem man die unteren Rinnen mit Torfmull aus-
streute; die Resultate sollen sehr günstige gewesen sein.
Scheint somit die Einbringung von Torfmull in die Aborte grosse
Vortheile zu gewähren und bietet die Räumung der Closets und Gruben
keinerlei Schwierigkeiten, so bleibt noch weiter der Kostenpunkt zu berück¬
sichtigen, der zum grossen Theil bestimmt wird durch den gewonnenen
Torfstreudünger und dessen praktische Verwerthbarkeit durch die Land¬
wirtschaft. Die Versuche, die hierüber bis jetzt angestellt sind und die
Blasius im Einzelnen mittheilt, sind sehr günstig ausgefallen, die dün¬
gende Eigenschaft des Torfmistes ist eine sehr bedeutende. Da nun der
Preis der Torfstreu, wenigstens in Nordwestdeutschland, ein sehr geringer
ist, 1*50 Mk. per Centner, und der Centner Torfstreu acht Centner Dün¬
ger liefert, der nach dem bisherigen durchschnittlichen Verkaufspreis von
0*35 Mk. pro Centner somit 2*80 Mk. einbringt, so scheint auch von
Seiten der Rentabilität dem neuen Desiufections- oder Desodorisationsmittel
ein günstiges Prognostikon gestellt werden zu können.
Ob die Torfstreu, deren Nutzen für einzelne Gebäude wohl nicht zu
bestreiten sein dürfte, im Grossen zur Städtereinigung angewandt werden
könne, auch diese Frage bespricht Blasius eingehend. Dabei verdienen
besonderes Interesse die von ihm angestellten Versuche zur Erledigung der
Frage, ob die Vermengung von Torfmull mit Excrementen in einer Abtritt¬
grube im Stande sei, die Verunreinigung des Bodens zu vermeiden. Die
Versuche wurden an einer cementirten Grube in dem massig verunreinigten
Boden des Polytechnicums angestellt, in welche nach jeder Defecation Torf¬
mull eingestreut wurde und ergaben das hygienisch sehr wichtige Resultat,
dass der Kohlensäuregehalt der Bodenluft in unmittelbarer Nähe der Abort¬
grube in den sieben Versuchsmonaten von 3*1 pro mille zurückgegangen
ist auf l'l pro mille, also fast auf ein Drittel, dass also der Boden in der
Nähe der Abortgruben sich sehr bedeutend in seiner Reinheit verbessert
hat. Blasius ist weit davon entfernt, dieser kurzen Versuchsreihe irgend
welche Beweiskraft beizulegen und erst weitere Versuche mit undichten
Gruben werden zeigen, ob zu hoffen ist, dass bei der Vermengung mit Torf¬
mull jede Verunreinigung des umgebenden Bodens vermieden werden könne
und der Boden dann durch seine selbstreinigende Kraft wieder rein wird.
Dies bezeichnet Blasius als eine der wichtigsten Vorfragen für die Ver¬
wendbarkeit von Torfmull zur Städtereinigung im Grossen, denen er noch
eine Reihe anderer Fragen anschliesst, die erst auf experimentellem Wege
gelöst werden müssen, ehe man sich zu dem Torfsystem entschlösse.
Jedenfalls wird man den weiteren Versuchen und Untersuchungen in
Betreff der Verwendbarkeit des Moostorfes zur Städtereinigung mit lebhaftem
Interesse entgegensehen. A. S.
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Post, Ueber Morbiditätsstatistik. 161
Dr. Post, Oberstabsarzt: Ueber Morbiditätsstatistik. München,
Rieger.
Das vorliegende Schriftchen liefert einen werthvollen Beitrag zu der
schwierigen Frage, wie weit es möglich sein werde, mit Zuhülfenahine der
freiwilligen Thätigkeit der Aerzte eine einigermaassen erschöpfende Krank¬
heitsstatistik zu Stande zu bringen. Verfasser meint, wenn vielfach auch
schon anerkannt werde, dass die Morbiditätsstatistik sich an der Aufführung
des erforderlichen Unterbaues für die bisher noch in der Luft schwebenden
Prophylaxen betbeiligen müsse, dass zu einem so grossen Zwecke das Zu¬
sammenwirken Aller unentbehrlich sei, und dass neben den Laboratorium¬
versuchen auch die epidemiologischen Beobachtungen von Wichtigkeit seien,
doch der Ansicht, dass, wenn Alle dieser Schuldigkeit nachkämen, die epi¬
demiologischen und prophylaktischen Kenntnisse so in der wirksamsten
Weise gefördert werden müssten, entgegenzuhalten sei, dass man nicht
Allen eine solche extreme Opfer Willigkeit zumuthen könne und dass auch
die fleissigsten Beobachtungen der einzelnen Praktiker epidemiologisch doch
nur geringen Werth haben, indem die Epidemieen im Ganzen und nicht an
berau8gerissenen kleinen Fragmenten studirt werden müssen. Desshalb sei
erforderlich, dass neben den praktischen Aerzten, die nur die Krankheits¬
anzeigen zu liefern haben, ein Corps von Berufsstatistikern auf¬
gestellt werde, welches die Krankheitsbeobachtungen nach einheitlichem
Plane zusammen stellt und dabei auch noch die übrigen epidemiologisch
wichtigen Gesichtspunkte (meteorologische, Trinkwasser-, Grundwasser-
Verhältnisse etc.) verfolgt. Die Irrthümer, in die vielfach statistische
Dilettanten, die die Kunst der möglichsten Vermeidung von Fehlerquellen
nicht genügend erlernt haben, verfallen seien, haben ebenso dazu beigetragen,
die Statistik, eines der wichtigsten Forschungsmittel, in Misscredit zu brin¬
gen, wie die früher oft zu weit gehenden Anforderungen an die Aerzte,
von denen der Staat neben Anzeigepflicht auch noch meteorologische Beob¬
achtungen und statistische Zusammenstellung verlangt habe, bei diesen eine
Abneigung gegen die Anzeige von Erkrankungsfallen erzeugt haben, die
schwinden werde, wenn die unüberschreitbare Grenze der Forderungen klar
und deutlich bezeichnet werde, gerade wie der Besorgniss, dass die geliefer¬
ten Krankheitsanzeigen als todtes Actenmaterial liegen bleiben, durch die
Anstellung von Specialstatistikern der Boden entzogen werde. In der An¬
stellung von Statistikern und ständigen epidemiologischen Beobachtern sieht
Post den Schwerpunkt der Neuorganisation des Sanitätswesens, indem
durch sie die Sanitätsverwaltungen die erforderliche Fühlung mit den Prak¬
tikern erhalten und durch die Einfügung dieses bis jetzt fehlenden Gliedes
in den Sanitätsorganismus derselbe zu ganz neuen und mächtigen Leistun¬
gen befähigt werde.
Dem lesenswerthen Schriftchen ist die Beachtung und Beherzigung des
ärztlichen Standes sehr zu wünschen, dann wird es wesentlich dazu bei¬
tragen, die so schwierige und doch nicht abzuweisende Frage der Mor¬
biditätsstatistik ihrer Lösung einen Schritt näher zu bringen.
A. S.
VierteljahrMchrift für Gesundheitspflege, 1886 .
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162
Kritiken und Besprechungen.
J. Christinger: Mens Sana ln corpore sano. Pädagogische
Vorträge und Stadien. Frauenfeld, Huber. 217 S.
Diese Schrift des Schweizer Pfarrers und Schulinspectors Christinger
hat sich weitere Ziele gesteckt, als lediglich die Schulhygiene, sie behandelt
in erster Linie die ethischen Aufgaben der Schule, widmet aber auch eines
der wichtigsten Capitel der „Gesundheitspflege in der Schule und durch
die Schule“. Es ist erfreulich zu sehen, wie auch hier der Nichtarzt ledig¬
lich vom Standpunkte des für das körperliche ebenso sehr wie für das
geistige Wohl der Jugend besorgten Mannes genau zu denselben Forderun¬
gen gelangt wie sie die Aerzte übereinstimmend seit Jahren aufstellen.
Als ersten Satz stellt er obenan, dass die Schule von der einseitigen Geistes¬
bildung zurückkommend lernen solle, die körperliche Entwickelung des
Kindes nach ihrer ganzen Bedeutung zu berücksichtigen. Zu dem Zwecke
verlangte er vor Allem, dass die Kinder nicht zu jung in die Schule kom¬
men und dass eine ärztliche Untersuchung aller neu aufzunehmenden
Schulkinder jeweilen feststellen solle, welche die nöthige körperliche Reife
erlangt haben und die unreifen für ein Jahr zurückweise. Seine Forde¬
rungen betreffs Dauer des Unterrichts, reichlicher Pausen zwischen dem¬
selben und dergleichen stimmen genau mit den von ärztlicher Seite auf¬
gestellten Forderungen. In Bezug auf den Turnunterricht, für den er ganz
besondere Berücksichtigung verlangt und zwar obligatorisch für beide
Geschlechter, fordert er, dass er nicht militärisch eingerichtet sei, zur Vor¬
bildung für den Dienst im Heere etc., sondern wesentlich dem sanitari-
schen Zwecke, der Ausbildung des Körpers und Verhütung von Schäd¬
lichkeiten desSchullebens dienen soll; der Hauptzweck des Turnens
sei nicht ausserhalb des Individuums (Heer, Gesellschaft, Kunst), son¬
dern in dasselbe zu verlegen, er solle die möglichst grosse körperliche Tüch¬
tigkeit für die Erfüllung aller Lebensaufgaben sein. In Bezug auf die
Ge8undheit81 e h r e als wissenschaftliches Fach mit besonderer Rücksicht
auf Schuldiätetik verlangt Christinger in gewiss vollkommen richtiger
Weise, dass sie in den Unterricht der Lehrerseminare aufzunehmen sei,
während in den obersten Classen der höheren Schulen im Anschluss an die
Lehre von dem Bau des menschlichen Körpers ein Abriss der Hygiene,
enthaltend das Wissenswertheste über Ernährung, Athmung, Wohnung,
Arbeit, Ruhe, Schutz gegen Erkrankung und Krankenpflege behandelt wer¬
den solle. Von den Lehrern verlangt Christinger, dass sie von sani-
tarischen Uebelständen ihrer Classen und von epidemischen Schulkrank¬
heiten den Schulvorstehern unverzüglich Mittheilung machen sollen, damit
diese dann eine ärztliche Untersuchung darüber veranlassen, eventuell von
sich aus die geeigneten Maassregeln treffen. — Sind alle diese hygienischen
Forderungen und Vorschläge auch nicht neu, so ist es, da ihre Anerken¬
nung und Erfüllung doch noch lange keine allgemeine ist, erfreulich, sie
immer wieder aufgestellt zu finden, besonders wenn dies, wie hier, von einem
Schulmanne und nicht von einem Arzte geschieht. A. S.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
163
Hygienische
Gesetze, Verordnungen nnd Entscheidungen.
L Gesetze und Verordnungen.
Erlass königl. wttrttembergischen Miuisterinms vom 2. August 1884,
betreffend Maassregeln wider die Cholera«
Zur Verhütung der Einschleppung und Verbreitung der Cholera wird hier¬
mit mit höchster Genehmigung Seiner Majestät des Königs vom 1. August
d. J. unter Aufhebung der Verfügung vom 29. August 1873 Nachstehendes an¬
geordnet :
I« Allgemeine Bestimmungen.
§. 1. Zum Behufe der obersten Leitung sämmtlicher wegen der Cholera
zu treffender Maassregeln ist als Abtheilung des Ministeriums des Innern eine
besondere mit dem Minister in unmittelbarem, vorzugsweise mündlichem Verkehr
stehende Commission niedergesetzt.
§. 2. Innerhalb der Bezirke werden die gegen die Einschleppung und Ver¬
breitung der Cholera zu treffenden Maassregeln durch die aus dem Oberamt
und dem Oberamtsarzt bestehende Bezirkscommission geleitet.
§. 3. In Orten, welche von der Cholera unmittelbar bedroht sind (vergl.
§. 10), oder in welchen dieselbe ausbricht, werden die bürgerlichen Collegien
im Einvernehmen mit der Bezirkscommission sogleich aus den hierzu besonders
geeigneten Ortseinwohnern und den in dem Ort ansässigen hierzu verpflichteten
oder geneigten Aerzten eine Ortscommission zur Anordnung der nöthigen Maass¬
regeln berufen, welche von den bürgerlichen Collegien den nöthigen Credit zur
Bestreitung der Ausgaben erhält. Vorstand der Ortscommission ist der Orts¬
vorsteher oder sein Stellvertreter.
Die Ortscommission wird in grösseren Orten in verschiedene Abtheilungen
getheilt, welchen je die Besorgung bestimmter Arten der zu treffenden Vorkeh¬
rungen zugewiesen wird. Wo es das Bedürfniss erfordert, hat die Ortscommission
für die Thätigkeit in einzelnen Districten Deputationen aufzustellen.
§. 4. Die Thätigkeit der Bezirks- und der Ortscommissionen regelt sich
nach den Bestimmungen dieser Verfügung (vergl. auch §§. 12 und 32).
Da den Commissionen als solchen eine Straf- oder Zwangsbefugniss nicht
zukommt, so sind, wo die Anwendung eines Zwanges sich als nothwendig heraus¬
stellt, die Anordnungen vom Oberamt beziehungsweise Orts Vorsteher zu erlassen,
welche die Ansicht der Comissionen nach Thunlichkeit zu berücksichtigen haben.
Ebenso sind orts- oder bezirkspolizeiliche Vorschriften durch die Polizeibehör¬
den (vergl. Art. 51 des Polizeistrafgesetzes vom 27. December 1871) zu erlassen.
Maassregeln, welche einen grösseren Kostenaufwand erfordern, sind unbeschadet
dringlicher vorläufiger Vorkehrungen von den Ortscommissionen bei dem Ge¬
meinderath in Antrag zu bringen.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
§. 5. Die Ortscommissionen unterstehen der Aufsicht der Bezirkscommis¬
sion, welche ihre Thätigkeit zu überwachen, ihnen erforderlichenfalls die nöthigen
Directiven zu ertheilen und im Falle ungenügender Durchführung der Vor¬
schriften dieser Verfügung, oder wenn einheitliche Maassregeln für den ganzen
Bezirk angezeigt sind, das Geeignete vorzukehren hat
Auch hat die Bezirkscommission für die rechtzeitige Aufstellung der Orts-
commissionen Sorge zu tragen.
§. 6. Die Bezirkscommission berichtet an die Choleracommission:
1. Telegraphisch über den erstmaligen oder wiederholten Ausbruch der
Krankheit in jedem Orte, sobald derselbe durch den Oberamtsarzt festgestellt
worden ist, ebenso in allen dringenden Angelegenheiten,
2. zugleich mit dem telegraphischen Bericht über den erstmaligen oder
wiederholten Ausbruch der Seuche schriftlich unter näherer Darlegung der
Sachlage,
3. unter Benutzung des in Beilage I. enthaltenen Formulars je für den
Zeitraum vom 1. bis 7., 8. bis 15., 16 bis 22. und 23. bis 30./31. jeden
Monats über den Fortgang der Seuche, wobei etwaige Nachträge und Be¬
richtigungen je in der nächsten Nachweisung abgesondert zu verzeichnen
sind,
4. über die erforderliche Vermehrung des ärztlichen Personals im Bezirk,
5. über etwaige Anstände und Zweifel sowie über ausserordentliche in
dieser Verfügung nicht vorgesehene Schutzmaassregeln und Vorkommnisse, wie
z. B. vorübergehende Unmöglichkeit der Beschaffung der vorgeschriebenen
Desinfectionsmittel, wobei sie jedoch dringende Vorkehrungen vorsorglich
trifft.
Die Berichterstattung ist stets möglichst zu beschleunigen.
Eine Berichtserstattung an die Kreisregierungen findet nicht statt.
§. 7. Für die Kosten findet die Ministerialverfügung vom 14. October 1830,
betreffend die medicinal - polizeilichen Maassregeln bei den der unmittelbaren
Fürsorge des Staates unterliegenden Krankheiten, Anwendung, ferner die Be¬
stimmungen der Medicinaltaxe vom 4. November 1875, und des Diätenregulativs
vom 23. Juni 1873.
Für Zahlungsunfähige werden die Kosten für besondere chirurgische Ver¬
richtungen, für Abgabe von Arzneien, Nahrungsmitteln und Getränken auch
dann auf die öffentlichen Cassen übernommen, wenn sie auf Verordnung anderer
als der aufgestellten Armenärzte sich gründen (§. 37 der Verfügung vom 14. October
1830). Nötigenfalls werden den Gemeinden von der Staatskasse ausserordent¬
liche Beiträge geleistet.
Die Kosten, welche die Aufstellung eines besonderen Hülfsarztes verursacht,
trägt die Staatskasse allein. Derselbe erhält neben der regulativmässigen Ver¬
gütung der Reisekosten und der Diäten der achten Rangstufe noch eine besondere
Zulage von täglich 9 Mark. Eine besondere Verrechnung von Krankenbesuchen
findet nicht statt.
Die Belohnung des mit der Verwaltung des Notharzneimittelvorraths beauf¬
tragten Arztes oder Wundarztes wird von der Ortscommission nach den Ver¬
hältnissen des einzelnen Falles bemessen.
II. M&assregeln, welche im Falle der Gefahr eines Ausbruches der
Cholera zu treffen sind.
§. 8. Wenn im Falle des Ausbruches der Cholera in Deutschland oder
einem ausserdeutschen europäischen Staat die Gefahr einer Verbreitung der
Cholera nach dem Inlande näher gerückt ist, sind folgende vorbereitende M&ass¬
regeln zu treffen.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
1. Seitens der Oberämter und der Oberamtspbysicate sowie der Gemeinde¬
behörden ist ein besonderes Augenmerk zu richten, dass die Strassen und Canäle
gehörig gereinigt, die Abtritte und Düngerstätten in geordnetem Stand erhalten
und die Brunnen gegen Verunreinigungen hinreichend geschützt werden.
In allen denjenigen Ortschaften, in welchen die Cholera in früheren Jahren
epidemisch aufgetreten ist, ist von den Gemeindebehörden, wenn die Ortschaft
Sitz eines Oberamtes ist, von dem Oberamte und Oberamtsphysicat und den
Gemeindebehörden, der Verkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln einer besonders
sorgfältigen und scharfen Controle zu unterwerfen, und die Versorgung mit
Trinkwasser, die Abführung der Schmutzwässer, das Abtrittswesen und der
Zustand der Düngerstätten einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Auf
die Beseitigung der hierbei Vorgefundenen Uebelstände ist unter besonderer
Berücksichtigung der früher schon von der Cholera betroffenen Gebäude
und Quartiere, welche zu diesem Behuf festzustellen sind, allen Ernstes hinzu¬
wirken.
2. Auf Personen, welche aus von der Cholera befallenen oder von ihr
unmittelbar bedrohten Gegenden zureisen, ist während der ersten Woche ihres
Aufenthaltes bezüglich ihres Gesundheitszustandes ein besonderes Auge zu
haben. In grösseren Städten sowie in sonstigen Orten mit erheblichem Fremden¬
verkehr ist von der Ortspolizeibehörde den Gastwirthen die Auflage zu machen,
sobald aus solchen Gegenden zugereiste Gäste von einer Krankheit befallen
werden, bei der nicht sofort der Verdacht der Cholera ausgeschlossen ist, hier¬
von unverzüglich der Polizeibehörde Anzeige zu machen.
3. Die Gemeindebehörden der Oberamtsstädte sowie der Orte mit einer
Einwohnerschaft von mehr als 5000 Seelen und des Grenzortes Friedrichshafen
haben in Erwägung zu ziehen, in welcher Weise für den Falle der Einschleppung
der Cholera die zur Isolirung der Kranken erforderlichen Räume, sowie die
alsdann nothwendig werdenden Desinfectionsanstalten beschafft werden sollen.
4. In den grösseren Städten und in sonstigen Orten mit erheblichem
Fremdenverkehr sind die Gastwirthe durch die Ortspolizeibehörde aufzufordern,
sowohl ihre Abtritte als auch diejenige Bettwäsche, welche durch Dejectionen
von Gästen (Erbrechen oder Stuhlgang) verunreinigt sind, nach Vorschrift der
§§. 27 und 29 zu desinficiren.
§. 9. Bezüglich der Beaufsichtigung des Grenzverkehrs mit der Schweiz
wird seitens des Ministeriums des Innern im einzelnen Falle die erforderliche
Anordnung getroffen werden.
§. 10. Sind infolge der Annäherung der Seuche an die Landesgrenze oder
des Ausbruchs derselben innerhalb des Landes einzelne Orte von ihr unmittelbar
bedroht, so hat in diesen Orten weiter Folgendes zu geschehen:
1. Die in §. 8 Ziff. 1, Abs. 2 für Ortschaften, in welchen schon früher die
Cholera ausgebrochen ist, vorgeschriebenen Maassregeln sind, auch ohne dass
diese Voraussetzung zutrifft, ohne Verzug vorzunehmen, auch ist die in §. 8
Ziff. 4 vorgesehene Desinfection in allen diesen Orten den Gastwirthen und
Herbergsbesitzern aufzuerlegen.
2. Es sind, ohne den Ausbruch der Cholera abzuwarten, alle diejenigen
Schutzvorkehrungen zu treffen, welche zu ihrer Ausführung einiger Zeit bedürfen.
Insbesondere sind
a) passende Isolirräume bereit zu stellen. Wo keine hierzu geeigneten
Krankenhäuser vorhanden sind, und es sich nicht empfiehlt, zu diesem Zweck
eigene rasch erstellbare Nothbaracken zu errichten, ist bei der Ausmittelung der
Locale, welche als Isolirräume verwendet werden sollen, darauf zu sehen, dass
dieselben frei und hoch gelegen sind, und dass ihr Untergrund nicht feucht
ist. Jedenfalls darf das die Räume enthaltende Gebäude nicht schon bei
früheren Epidemieen von der Seuche heimgesucht gewesen sein, oder an einen
mit andern Wohngebäuden in Verbindung stehenden zur Abführung von
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
fixcrementen dienenden Canal angeschlossen sein. Die Krankenzimmer müssen
leicht gelüftet werden können und einen gehörigen Luftraum haben, auch
müssen im Gebäude oder in dessen unmittelbarer Nähe die nöthigsten Einrich¬
tungen und Geräthe zur Desinfection der Kranken (Badewannen), Kleider, Leib¬
und Bettwäsche sowie der Dejectionen vorhanden sein.
b) Für genügenden Vorrath an Desinfectionsmitteln sowie in grösseren Städten
für die Errichtung öffentlicher Desinfectionsanstalten ist Bofort Sorge zu tragen.
Es empfiehlt sich, Desinfectionsmittel mit entsprechender Belehrung an Minder¬
bemittelte nach Bedarf unentgeltlich abzugeben.
c) Die Controle des Fremdenverkehrs in den Gasthäusern und Herbergen
sowie die Aufsicht auf Bettler und Landstreicher muss mit besonderer Auf¬
merksamkeit gehandhabt werden.
d) Den Aerzten und dem Publicum ist die für den Fall des Ausbruchs der
Cholera bestehende Anzeigepflicht (vergl. §. 34) aufs eindringlichste durch
wiederholte öffentliche Bekanntmachung einzuschärfen.
e) In Orten mit Eisenbahnstationen ist sich mit dem Stationsvorstand wegen
der Controle der Desinfection auf dem Bahnhofe sowie der Controle der auf
der Station aussteigenden, nicht weiter reisenden Choleraverdächtigen, soweit
die Conducteure auf solche aufmerksam machen, ins Benehmen zu setzen.
Diese Verdächtigen sind, sofern der Verdacht sich nicht sofort als grundlos
erweist, sogleich ärztlicher Behandlung zu übergeben und zutreffendenfalls in
geeigneten Isolirräumen unterzubringen.
§. 11. Schulkinder, welche ausserhalb des Schulortes wohnen, dürfen,
solange in letzterem die Cholera herrscht, die Schule nicht besuchen, ebenso
sind Schulkinder, in deren Wohnort die Cholera herrscht, vom Besuch der
Schule in einem noch cholerafreien Ort ausgeschlossen.
Gleiches gilt für den Besuch des Confirmandenunterrichts.
§. 12. Die nach §. 10 erforderlichen Maassregeln sind unter steter Aufsicht
der Bezirkscommission von den Ortscommissionen anzuordnen, beziehungsweise
(vergl. §. 4) zu beantragen. Den Ortscommissionen liegt es ob, die Maassregeln
durchzuführen, sowie deren Einhaltung zu überwachen.
§. 13. Ist die Krankheit in der Nähe eines Bezirks oder in demselben selbst
ausgebrochen, so hat die Bezirkscommission es zu verhindern, dass im Bezirk
Messen, Jahrmärkte oder andere Veranstaltungen, welche ein ähnliches gefähr¬
liches Zusammenströmen von Menschen zur Folge haben, stattfinden.
UL Maassregeln, welche in Orten, in welchen die Cholera
ausgebrochen ist, zu treffen sind.
a. Feststellung der Krankheitsfälle.
§. 14. Sobald in einem Orte ein erstmaliger Cholerafall vorkommt oder die
bereits erloschene Seuche wieder ausbricht, ist von dem Ortsvorstand hiervon
der Bezirkscommission telegraphisch oder, soweit dies nicht möglich, durch
besondere Boten Anzeige zu machen.
Zugleich hat der Ortsvorstand wegen unverzüglicher Aufstellung der Orts¬
commission, wenn dies nicht bereits geschehen, Einleitung zu treffen.
Sofort nach dem Eintreffen der Anzeige vom Ausbruch der Cholera begiebt
sich der Oberamtsarzt behufs Feststellung der Krankheit an Ort und Stelle.
Bestätigt sich hierbei der Ausbruch der Cholera, so sind von ihm sofort die
nächsten Weisungen behufs Bekämpfung der Seuche zu ertheilen.
§. 15. Der Ortsvorstand hat auf Grund der eingehenden Anmeldungen
nach dem in Beilage II. enthaltenen Schema ein fortlaufendes Register über
die angemeldeten Krankheitsfälle zu führen, auch nach diesem Schema der
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Hygienische Gesetze und Verordnungen. 167
Bezirkscommission für deren Berichterstattungen (vergl. §. 6 Ziff. 3) das erforder¬
liche Material zu liefern.
In grösseren Städten sind im Falle erheblicheren Umsichgreifens der Krankheit
tägliche Uebersichten über den Stand derselben nach dem Formular Beilage III.
in den Tagesblättern zu veröffentlichen.
Wenn in rascher Folge mehrere Fälle von Cholera in einem Garnisonsort
oder in Orten, welche in nächster Nähe einer Garnison liegen und von den
Angehörigen der letzteren häufig besucht werden, auftreten, so ist hiervon,
wenn der Ort Sitz eines Oberamtes ist, durch dieses, anderenfalls durch den
Ortsvorstand der Militärbehörde des Garnisonorts sofort unter Bezeichnung der
von der Krankheit heimgesuchten Ortstheile Mittheilung zu machen.
Einer Garnison gleichzuachten sind Orte, in welchen Truppen einquartiert
sind, oder in deren nächster Nähe solche im Lager stehen.
b. Isolirung der Erkrankten.
§. 16. Sobald ein Ort von der Cholera ergriffen wird, sind die ersten
Cholerakranken in die hierfür bestimmten oder sofort zu bestimmenden Isolir-
räume (vergl. §. 10 Ziff. 2 a) zu verbringen. Ist dies nicht möglich, so soll
wenigstens der Verkehr dieser Kranken und ihrer Umgebung mit der übrigen
Einwohnerschaft möglichst beschränkt werden. Soweit nicht eine ständige
polizeiliche Ueberwachung durchführbar ist, sind zu diesem Zwecke wenigstens
Warnungsplacate an den Häusern und Wohnungen, in welchen Cholerakranke
liegen, anzuschlagen, auch ist geeignetenfalls in grösseren Städten das Vor¬
handensein von Cholerakranken in bestimmten Häusern durch die Tagesblätter
öffentlich bekannt zu geben.
§. 17. Auch im weiteren Verlauf einer Epidemie sind die Cholerakranken
in thunlichst umfassender Weise, namentlich aber arme und schlecht unter¬
gebrachte Kranke in Hospitäler oder zu diesem Zweck besonders hergestellte
Räumlichkeiten (§. 10 Ziff. 2 a) unterzubringen und zu verpflegen. Unter
Umständen ist es vorzuziehen, den Kranken in der Wohnung zu belassen und
die Gesunden aus derselben fortzuschaffen. Eine derartige Evacuation ist
namentlich angezeigt betreffs derjenigen Häuser, welche früher von der Cholera
gelitten haben und ungünstige sanitäre Zustände (Ueberfüllung, Unreinlichkeit
und dergl.) aufweisen.
§. 18. Sobald die Krankheit in einem Orte eine grössere Verbreitung findet,
ist die Schliessung sämmtlicher Schulen sowie des Confirmandenunterrichts
durch die Bezirkscommission herbeizuführen. Auch wenn nur einzelne Fälle
der Krankheit Vorkommen, soll Eltern, welche ihre Kinder vom Schulbesuch
befreit wünschen, die Erlaubnis hierzu nicht erschwert werden.
c. Sorge für die einzelnen Erkrankten.
§. 19. Für Aufstellung und angemessene Instruirung von Krankenwärtern
und insbesondere, wenn immer möglich, von ständigen Krankenträgern, deren
Namen und Wohnung zu veröffentlichen ist, für Nothlocale in den grösseren
Städten des Landes zur ersten augeublicklichen Unterbringung von Kranken
bei plötzlichen Anfallen, endlich für die nöthigen Transportmittel wird die Orts¬
commission im Einvernehmen mit den betreffenden Behörden und Privatvereinen
schleunige Sorge tragen. Für den Transport der Kranken sind dem öffentlichen
Verkehr dienende Fuhrwerke (Droschken etc.) nicht zu benutzen. Hat eine solche
Benutzung trotzdem stattgefunden, so ist das Gefährt zu desinficiren (vergl. §. 28).
§. 20. In grösseren Orten wird die Ortscommission für Stationen sorgen,
in welchen jederzeit, vor Allem aber Nachts, ein Arzt zu treffen ist.
In Orten, welche keinen Arzt haben, ist erforderlichenfalls für die Dauer
der Krankheit ein solcher mit dem Wohnsitz im Orte aufzustellen, jedenfalls
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168 Hygienische Gesetze und Verordnungen.
aber für augenblickliche Hülfe, Berichterstattung etc. (§. 21 der Verfügung vom
14. October 1830, betreffend die medicinisch - polizeilichen Maassregeln bei den
der unmittelbaren Fürsorge des Staates unterliegenden Krankheiten) ein Wund¬
arzt anwesend zu halten und angemessen zu instruiren.
Ist in einem Bezirke Mangel an den nöthigen Aerzten, so wird der Cholera¬
commission schleunig Anzeige erstattet, vorsorglich aber der nächste verfügbare
Arzt berufen.
§. 21. Die ärztliche Behandlung aller Kranken, welche sich nicht auf ihre
Kosten ärztliche Hülfe verschaffen wollen, und nicht in Anstalten mit eigenen
Aerzten untergebracht sind, liegt den Oberamtsärzten (Districtsärzten, Ortsarmen¬
ärzten) und den ihnen nöthigenfalls von der Choleracommission beizugebenden
Hülfsärzten ob.
In Orten, welche keine Apotheke besitzen, wird die Ortscommission erforder¬
lichenfalls für die Einrichtung eines Notharzneimittelvorrathes und Gebrauchs¬
anweisung Sorge tragen, welcher unter dem Verschluss des im Orte stets an¬
wesenden Arztes oder Wundarztes (§. 20) steht.
Die Medicamente aus demselben werden unentgeltlich abgegeben.
Die Aerzte haben ihre Aufmerksamkeit neben den Kranken mit aus¬
gesprochener Cholera auch den an Diarrhoe Leidenden zuzuwenden und dafür
zu sorgen, dass Einrichtungen getroffen werden, welche die ärmere Volksclasse
für ärztliche Behandlung dieses Unwohlseins geneigter macht. Wenn es möglich
ist, so sollen auch diese Kranken in ein besonderes Local aufgenommen, ver¬
pflegt und von der Ortscommission unterstützt werden.
Die Räume, in denen sich Cholerakranke befinden, sind täglich dreimal ge¬
hörig zu lüften. Gegen Erkältungen beim Auslüften sind die Kranken durch
warme Bedeckung, sowie unter Umständen durch Heizung zu schützen.
Für Herbeischaffung von Eis in genügendem Vorrath ist bei Zeiten zu
sorgen.
d. Beerdigung der Gestorbenen.
§. 22. Die Beerdigung von an Cholera gestorbenen Personen ist möglichst
einfach, ohne auffallende Abweichung von den bestehenden Gebräuchen, Morgens
früh oder Abends spät vorzunehmen. Dieselbe ist unter Abkürzung der für
gewöhnliche Zeiten vorgeschriebenen Fristen thunlichst zu beschleunigen (ver¬
gleiche Abs. 1, Ziff. 4 und Abs. 2 und 3 des §. 13 der kaiserlichen Verordnung,
betreffend die Leichenschau, die Leichenöffnung und das Begräbniss, vom
24. Januar 1882).
§. 23. Leichen der an Cholera Gestorbenen sind da, wo Leichenhäuser
bestehen, sobald als möglich in dieselben zu verbringen, namentlich dann, wenn
für die Aufstellung der Leiche ein gesonderter Raum nicht vorhanden ist. In
Orten, welche keine Leichenhäuser besitzen, sollen bei starker Vermehrung der
Todesfälle provisorische Baracken auf den Kirchhöfen zur Unterbringung und
Bewachung der Leichen bis zur Beerdigung errichtet werden.
§. 24. Die Ausstellung von Choleraleichen vor dem Begräbniss ist zu unter¬
sagen, das Leichengefolge möglichst zu beschränken und dessen Eintritt in
die Sterbewohnung zu verbieten, auch anzuordnen, dass diejenigen Personen,
welche die Leichen besorgen, nicht auch zugleich die Leichenbegängnisse an-
sagen.
§. 25. Leichen auch von Personen, welche nicht an der Cholera gestorben
sind, dürfen aus einem Orte, in welchem die Cholera herrscht, während der Dauer
der Epidemie sowie während eines Monats nach dem Erlöschen derselben nur
auf den ordnungsmässigen Begräbnissplatz des Ortes, nicht aber sonst wohin
nach auswärts verbracht werden.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
e. Vorsichtsmaassr egeln für das mit Cholerakranken und
Choleraleichen beschäftigte Personal.
§. 26. Alle Personen, welche mit Cholerakranken oder Effecten von solchen
oder mit Choleraleichen in Berührung gekommen, namentlich von den Auslee¬
rungen, welche den Ansteckungsstoff enthalten (Stuhlgänge oder Erbrochenes),
beschmutzt sind, haben sich jedesmal, bevor sie wieder mit Menschen in Verkehr
treten oder etwas gemessen, zu reinigen und die Hände mit der in Beilage IV
Ziff. 2 bezeichneten Carbollösung zu waschen. Ganz besonders ist auch dahin
zu wirken, dass in den von Cholerakranken benutzten Räumen nicht gegessen
und getrunken wird.
Hierüber müssen, abgesehen von den Angehörigen der Cholerakranken, die
Krankenwärter, Krankenträger, sowie diejenigen Personen, welche die Wäsche
der Kranken, und diejenigen, welche die Leichen besorgen, durch die Orts¬
commissionen eingehend belehrt werden. Die Wäscherinnen sind ausserdem
anzuweisen, dass sie Wäsche von Cholerakranken sowie von Fremden während
der Cholerazeit benutzte Wäsche der Gasthöfe niemals ohne vorhergehende
gründliche Desinfection zum Waschen annehmen dürfen. Dies ist namentlich
auch den in grösseren Städten bestehenden grösseren Waschanstalten aufzugeben
und sind dieselben bezüglich der Durchführung dieser Vorschrift polizeilich zu
überwachen.
f. Desinfection.
§. 27. Die Desinfection ist im Allgemeinen unter Anwendung der in Bei¬
lage IV angegebenen Mittel zu besorgen, jedoch ist dabei noch besonders zu
bemerken: Ganz besondere Aufmerksamkeit ist der Desinfection der Betten und
der Leibwäsche des Kranken oder Gestorbenen zu widmen, geringwerthige
Gegenstände sind durch Verbrennen zu vernichten. Die Ausleerungen der
Cholerakranken sind womöglich sofort in einem Gefass aufzufangen, welches
eine Carbolsäurelösung von der in der Beilage IV Ziff. 2 bezeichneten Stärke
enthält Mit den Ausleerungen beschmutzte Leib- und Bettwäsche ist sofort
in eine gleiche Lösung hineinzulegen. Kleidungsstücke, für welche diese Be¬
handlung nicht angängig ist, sind vor erfolgter Desinfection, abgesehen vom
etwaigen Transport in eine öffentliche Desinfectionsanstalt, nicht aus dem
Krankenzimmer zu entfernen. Mit den Ausleerungen verunreinigte Möbel,
Fussböden u. s. w. sind mit trockenen Lappen abzureiben, letztere zu verbrennen
oder sofort in die vorerwähnte Carbollösung zu legen. Die Menge der zu ver¬
wendenden Carbollösung musB mindestens den fünften Theil der zu desinficirenden
Masse ansmachen.
§. 28. Wo eine anderweitig genügende Desinfection nicht ausführbar ist,
wie z. B. bei Polstermöbeln, Bettfedern, Matratzen, Wagenpolstern, ganzen
Wagen ist eine Aussergebrauchsetzung derselben und dauernde Lüftung an
einem trockenen, vor Regen geschützten Orte durch mindestens 6 Tage in
Anwendung zu bringen. Ebenso sind Wohnräume, in denen Cholerakranke
gelegen sind, wenn möglich zu räumen und gleichfalls 6 Tage hindurch zu
lüften, damit sie vollständig austrocknen. Das Austrocknen ist besonders bei
nasser und kühler Witterung noch durch Heizen zu unterstützen.
§. 29. Die Aborte und Pissoirs auf Eisenbahnstationen, in Gasthäusern und
Herbergen sind während der Dauer der Epidemie nach der in Beilage IV ent¬
haltenen Anweisung auf Kosten der Eigenthümer zu desinficiren. Auch bei
anderen Gebäuden, welche dem öffentlichen Verkehr zugänglich sind oder einer
grösseren Personenmenge zum Aufenthalt dienen, ist, falls dies nach Lage des
Falles erforderlich ist, eine solche Desinfection der Abtritte anzuordnen.
In denjenigen Häusern, in welchen Cholerafalle aufgetreten sind, oder deren
Abtritte von Cholerakranken benützt worden sind, hat eine einmalige Desinfection
der Abtritte durch die Besitzer stattzufinden.
Im Uebrigen kann in der Regel die Desinfection der Abtritte «unterbleiben.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
g. Allgemeine sanitätspolizeiliche Maassnahmen.
§. 80. Sofort nach dem Ausbruche der Cholera wird der Ortscommission
seitens der Choleracommission eine genügende Anzahl gedruckter Belehrungen
über das Verhalten während der Dauer einer Choleraepidemie zugesandt werden,
für deren Verbreitung unter der Einwohnerschaft seitens der Ortscommission
Sorge zu tragen ist.
§. 31. Den in §. 8 Ziff. 1 dieser Verfügung angeordneten Maassregeln ist
während der Dauer der Cholera erneute und verdoppelte Aufmerksamkeit zu¬
zuwenden und dabei besonders Folgendes zu beobachten:
Für die rasche Abführung der Schmutzwässer aus der Nähe der Häuser
ist Sorge zu tragen und deren Einleitung in etwa vorhandene Senkgruben am
Hause zu vermeiden. Es soll zu diesem Zweck die Reinhaltung der Strassen,
Abzugscanäle, Hofräume u. s. f. regelmässig betrieben werden, und wenn es an¬
geht, durch Abschwemmung geschehen. Pfützen und stehendes Wasser müssen
ohne Verzug abgeleitet werden.
Münden Abtrittsschläuche auf den blossen Boden oder in nicht wasserdichte
Gruben, so sind unverweilt Fässer, Kübel oder andere Behälter unter dieselben
zu stellen.
Nicht wasserdichte hölzerne Behälter werden in ihren Fugen ausgepicht
und wie die zuerst genannten auf Steinplatten oder zusammengelegte Steine
gestellt und Stroh dazwischen gelegt.
Vorhandene Abtrittsgruben sind, so lange die Epidemie noch nicht am Orte
ausgebrochen ist, zu entleeren, während der Herrschaft der Epidemie ist die
Räumung auf das Nothwendigste zu beschränken.
Muss aber wegen Gefahr des Ueberlaufens, welch letzteres auf alle Fälle
absolut zu vermeiden ist, eine Räumung stattfinden, so soll der Inhalt der
Abtritte auf Felder gebracht werden, welche in beträchtlicher Entfernung von
Wohngebäuden und namentlich nicht in der Nähe von Brunnen, Brunnenstuben
oder Brunnenleitungeu liegen.
Die Fäcalmasßen werden dort in eine Grube von höchstens 0*5 m Tiefe und
möglichst grosser Grundfläche gebracht und mit Erde bedeckt.
Unter keinen Umständen ist es zu dulden, dass Fäcalmassen in Bäche,
Flüsse oder stehende Wasser oder auf Düngerstätten geworfen werden.
Für ein reines Trink- und Gebrauchswasser ist Sorge zu tragen; als solches
ist das Wasser, welches aus dem Untergrund des Choleraortes geschöpft wird,
in der Regel nicht anzusehen und nicht zu benutzen, wenn vorwurfsfreies
Leitungswasser zur Verfügung steht. Brunnen mit gesundheitsgefährlichem
Wasser, wozu jedenfalls alle Pumpbrunnen in den Strassen, in der Nähe von
Abtritten und von Häusern mit Cholerakranken gehören, sind sofort zu
schliessen.
Jede Verunreinigung der Stellen, von welchen Wasser zum Trink- oder
Hausgebrauch entnommen wird, und ihrer nächsten Umgebung, namentlich
durch die Abfalle der menschlichen Haushaltungen ist zu verhindern. Ins¬
besondere ist das Spülen von Gefässen und Wäsche, welche mit Cholerakranken
in Berührung gekommen sind, an den Wasserentnahmestellen oder in deren
Nähe strengstens zu untersagen. Endlich ist auch für Reinlichkeit der Wohn-
gelasse selbst sowie der Kleidung, für warme Bekleidung und gesunde Kost,
sowie für das nöthige Brennholz minder Bemittelter Sorge zu tragen.
Was denVerkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln betrifft, welcher sowohl
betreffs der Beschaffenheit der Waaren, als auch der Verkaufslocale zu contro-
liren ist, so kann es nach Umständen nöthig werden, Verkaufslocale wegen der
Gefahr der Verbreitung der Krankheit zu schliessen.
Die Bestimmungen der §§. 8 und 10 haben in Orten, in welchen die Cholera
ausgebrochen ist, auch soweit sie in Vorstehendem nicht wiederholt sind, An¬
wendung zu -finden.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
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h. Von der Thätigkeit der Ortscommissionen insbesondere.
§. 32. Die Aufgabe der Ortscommission ist es, die gemäss §§. 14 bis 31
nothwendig werdenden Maassregeln anzuordnen, dieselben durchzuführen und
ihre Durchführung zu überwachen.
Zu diesem Zwecke wird die Commission beziehungsweise ihre Abtheilungen
oder Deputationen sich beständig durch fortgesetzte Besuche in allen einzelnen
Häusern der Ortschaft über den Gesundheitszustand der Bewohner in Kenntniss
erhalten, für Ernährung, Kleidung und anderweitige Unterstützung der Armen,
soweit ein Bedürfnis hierfür durch Erkrankungsfälle veranlasst ist, Sorge tragen,
in solchen Häusern, wo Cholerafälle Vorkommen, die erforderlichen Anordnungen
und Belehrungen bezüglich der Isolirung und Behandlung der Kranken, Be¬
handlung der Todten, Vorsichtsmaassregeln des Wartepersonals und der Des-
infection geben und den sanitären Zuständen sämmtlicher Häuser im Allgemeinen
ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden, auch auf Abstellung Vorgefundener
Missstände hinwirken. Bei diesen Geschäften wird sich die Ortscommission
stets der Mithülfe der Aerzte versichern und bedienen.
In Garnisonorten hat sich die Ortscommission geeignetenfalls auch mit der
Militärbehörde behufs gleichmässiger Durchführung der Schutzmaassregeln ins
Benehmen zu setzen.
IV. Anzeigepflicht. Schlussbestimmung.
§. 33. Bezüglich der Verpflichtung zur Anzeige vom Ausbruch der Cholera
wird auf die Minißterialverfügung vom 5. Februar 1872 hingewiesen. Die An¬
gehörigen von Cholerakranken beziehungsweise diejenigen Personen, wrelche die
Pflege eines Kranken übernommen haben, werden neben der hiernach ihnen
obliegenden Verpflichtung zur Anzeige von jedem einzelnen Choleraerkrankungs¬
falle unter Hinweisung auf Art. 25 Ziff. 4 des Gesetzes vom 27. December 1871,
betreffend Aenderung des Polizeistrafrechtes bei Einführung des Strafgesetz¬
buches für das Deutsche Reich, für verpflichtet erklärt, auch von jedem Todes¬
fall bei Cholerakranken unverweilt der Ortspolizeibehörde Anzeige zu machen.
Diese Anzeige, welche durch die Anzeige des Todesfalles beim Standesamt nicht
ersetzt wird, geht im Falle der Behandlung des Kranken durch einen approbirten
Arzt auf diesen über.
Bei Cholerafällen, beziehungsweise Choleratodesfällen, welche sich auf
Schiffen ereignen, liegt die Verpflichtung zur Anzeige bei der Ortspolizeibehörde
des nächsten Landungsplatzes dem Führer des Schiffes ob.
§. 34. Der Choleracommission bleibt es Vorbehalten, jederzeit nach Maass¬
gabe der Verbreitung der Krankheit im Lande oder des einzelnen Falls noth¬
wendig werdende weitere allgemeine oder örtliche Maassregeln anzuordnen.
Dieselbe erkennt insbesondere über die etwaige Entsendung von Hülfsärzten
wie auch von Aerzten, welchen die Ueberwachung des Verkehrs an Eisenbahn¬
stationen oder Grenzorten übertragen werden soll.
Stuttgart, den 2. August 1884.
Königl. Ministerium des Innern: Holder.
Anhang.
Instruction zur Vornahme der Desinfection.
1. Inficirte oder verdächtige Kleider, Wäsche, Betten und sonstige Effecten
sind, soweit nicht ihre Vernichtung durch Feuer angezeigt ist, mit heissen
Wasserdämpfen zu behandeln.
Als hierfür geeignete Apparate können nur diejenigen angesehen werden,
in welchen ein fortwährendes Durchströmen von heissen Wasserdämpfen durch
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
den Desinfectionsraam etattfindet und bei welchen die Temperatur der Wasser¬
dämpfe überall mindestens 100° C. beträgt.
Diese Bedingung wird erfüllt, wenn ein in die Oeffnung, durch welche der
Dampf den Apparat wieder verlässt, gebrachtes Thermometer die Temperatur
von 100° C. erreicht.
Die Zeit, während welcher die zu desinficirenden Gegenstände den heissen
Wasserdämpfen ausgesetzt werden, darf bei leicht zu durchdringenden Gegen¬
ständen, z. B. Kleidern, nicht weniger als eine Stunde, bei schwer zu durch¬
dringenden Gegenständen, z. B. Matratzen, nicht weniger als zwei Stunden
betragen. Hierbei ist die Zeit nicht mitgerechnet, welche vergeht, bis der
Dampf, welcher aus dem Desinfectionsraume ausströmt, die Temperatur von
100° C. erreicht hat.
Der Wasserdampf wird am besten in einem Dampfkessel (z. B. einer Fabri^
Heizungsanlage, Locomotive etc.) entwickelt und mittelst einer Röhre in den
DesinfectionBraum eingeleitet.
Der Desinfectionsraum wird zweckmässig in Form eines Kastens aus Dielen
hergestellt und muss mindestens so geräumig sein, dass in demselben zusammen¬
gerollte Matratzen oder andere grössere Bettstücke eingebracht werden können.
Der Deckel muss fest aufsitzen und mit Haken oder Riegeln verschliessbar
sein. Das Dampfrohr soll hart am Boden einmünden, während an dem Deckel
eine ebenso weite etwa 1 m hohe Ausströmungsrölire angebracht ist. Zur Ver¬
meidung einer Durchnässung der Gegenstände wird etwa 10 cm über dem Boden
ein Rost aus Latten, Gurten u. dergl. eingesetzt.
Wo ein Dampfkessel fehlt, kann ein grösserer Waschkessel dienen, über
den man ein Holzfass als Desinfectionsraum stürzt, dessen unterer Boden heraus¬
genommen ist, und dessen oberer Boden zum Ausströmen des Dampfes eine
runde Oeffnung hat, in welche ein Thermometer eingesetzt werden kann. Die
zu desinficirenden Gegenstände sind in das Fass zu legen und deren Herabfallen
in den Kessel durch Schnüre oder Horden oder auf eine andere Weise zu ver¬
hindern. Ein solches Fass muss auf dem Waschkessel nötigenfalls unter
Verstreichen des unteren Randes mit Häfnerlehm möglichst dicht aufgesetzt
werden.
2. Falls genügende Apparate zur Desinfection mit heissen Wasserdämpfen
nicht zur Verfügung stehen, sind die bezeichneten Gegenstände, wenn nicht ihre
Vernichtung durch Feuer vorgezogen wird, während der Dauer von 48 Stunden
in Carbolsäurelösung einzuweichen und darauf mit Wasser zu spülen. Zur
Bereitung der Lösung ist die sogenannte lOOprocentige Carbolsäure (Acidum
carbolicum der Pharmakopoe) zu benützen und zwar ist zu jedesmaligem Ge¬
brauche ein Theil derselben in 18 Theilen Wasser unter häufigem Um¬
rühren zu lösen.
3. Zur Desinfection der dem öffentlichen Verkehr zugänglichen Aborts¬
anlagen sowie derjenigen in Cholerahäusern (vergl. §. 29) ist rohe Carbolsäure
zu verwenden. Die Abtrittsbehälter (wasserdicht gemachte hölzerne Behälter,
ausgemauerte Gruben oder steinerne Tröge) werden zum ersten Mal sowie jedes¬
mal nach ihrer Leerung zum fünften Theil mit einer Flüssigkeit gefüllt, welche
aus Wasser und roher Carbolsäure in dem Verhältnis gemischt ist, dass sie in
10 Theilen 5 Theile wirklicher Carbolsäure enthält.
Sollte im Falle der Ausbruches der Cholera in einem Hause der Abtritts¬
behälter fast oder ganz gefüllt sein, so ist er sofort nach vorheriger möglichster
Desinficirung des Inhaltes und der Umgebung mit roher Carbolsäure zu leeren.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
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Erlass königl. preussfschen Kriegsministeriums Tom 26« August 1884,
betreffend Choleramaassregeln in der Armee«
Bei der noch immer vorhandenen Gefahr des Eindringens der Cholera in
Deutschland und in die Armee erscheint es unerlässlich, frühzeitig Vorsorge zu
treffen, dass beim ersten der Cholera verdächtigen Krankheitsfalle sofort wissen¬
schaftlich constatirt werden kann, ob es sich um wirkliche asiatische Cholera
handelt, da nur unter dieser Bedingung die Möglichkeit vorhanden ist, durch
Vernichtung des Krankheitskeimes in der Umgebung des Kranken diesen Fall
unschädlich zu machen und so der Weiter Verbreitung der Seuche mit Erfolg
entgegen zu wirken. Vorbedingung für die Sicherung der Diagnose bei einer
vereinzelt auftretenden Erkrankung ist die Fähigkeit, durch mikroskopische
Untersuchung und vermittelst methodischer Reinculturen den Cholerabacillus
in den Ausleerungen, der Wäsche oder anderen mit dem Kranken in Berührung
gekommenen Gegenständen nachzuweisen, eine Fertigkeit, welche zur Zeit
nur im Reichsgesundheitsamte mit Hülfe der vom Geheimen Regierungsrath
Dr. Koch dargestellten Präparate und Culturen zu erlangen ist.
Im Hinblick auf die hohe Bedeutung dieser Angelegenheit sowohl für die
gesammte Bevölkerung, als auch ganz besonders für die Armee hat Se. Excellenz
der Herr Kriegsminister genehmigt, dass aus den von einer eventuellen Cholera¬
invasion muthmaasslich zunächst bedrohten Armeecorps je ein Sanitätsofficier
nach Berlin commandirt werde, um im Reichsgesundheitsamte die dort gebräuch¬
lichen Methoden zur Untersuchung auf Cholerabacillen zu erlernen.
Das königliche Generalcommando beehrt sich desshalb die Unterzeichnete
Abtheilung ganz ergebenst zu ersuchen, nach Anhörung des Corpsarztes, welcher
Abschrift hiervon erhält, einen besonders hierfür geeigneten Sanitätsofficier —
wenn angängig, ags der Zahl der jüngeren Stabsärzte — sehr gefälligst so recht¬
zeitig hierher namhaft zu machen, dass dessen Commandirung zum 15. September
d. J. erfolgen kann. Das Commando wird voraussichtlich auf acht Tage bemessen
werden können, doch bleibt die endgültige Festsetzung der Dauer noch von
weiteren Verhandlungen mit dem Reichsgesundheitsamte abhängig und würde
dem königlichen Generalcommando die Abtheilung später noch das Nähere mit-
zutheilen sich erlauben.
Erwünscht wäre es, dass, wo nicht besondere Hindernisse entgegenstehen,
derjenige Sanitätsofficier für die Commandirung ausersehen wird, welcher etwa
bereits längere Zeit mit den mikroskopischen Untersuchungen beim dortigen
Garnisonlazareth betraut gewesen ist. Dem Betreffenden würde das dem dortigen
Gamisonlazareth überwiesene grössere Mikroskop von Seibert und Kraft mit
homogener Immersion und Abbe’scher Beleuchtung hierher mitzugeben sein,
damit er sich mit diesem auf die Bacterienuntersuchung besonders einübe.
Nach seiner Rückkehr in die Garnison wird derselbe sich jederzeit bereit zu
halten haben, um nach Meldung eines choleraverdächtigen Krankheitsfalles auf
Befehl des königl. Generalcommandos sich unverzüglich an den Ort der Erkran¬
kung zu begeben.
Den zu commandirenden Sanitätsofficier sehr gefälligst anweisen lassen zu
wollen, dass derselbe sich am 15. September d. J. Vormittags 10 Uhr auf der
Unterzeichneten Abtheilung und demnächst im kaiserl. Reichsgesundheitsamte
beim Geheimen Regierungsrathe, Oberstabsarzt 1. CI. und k la suite des Sanitäts¬
corps Dr. Koch melde, darf die Unterzeichnete Abtheilung noch ebenmässig
anheimstellen.
Berlin, den 26. August 1884.
Kriegsministerium.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
Erlass königl* preußischen Kriegsministeriums rom 12. September 1884,
betreffend Choleramaassregeln in der Armee.
Aue den bis jetzt hier eingegangenen Mittheilungen verschiedener königl.
Generalcommandos hat das Kriegsministerium ersehen, welche vorbereitenden
Maassnahmen seitens der betreffenden Behörden infolge der diesseitigen Ver¬
fügung vom 25. v. M. hinsichts der zur Abwehr der Cholera erforderlichen
sanitären Anordnungen bereits getroffen beziehungsweise in Aussicht genom¬
men sind.
Unter Bezugnahme auf die §§. 13 bis 17 des Friedenslazarethreglements
bemerkt das Kriegsministerium zunächst ergebenst, dass die eventuell erforder¬
lich werdenden Einrichtungen beziehungsweise Beschaffungen etc. im Allgemeinen
dem dortseitigen Ermessen nach Anhörung des Corpsgeneralarztes bezie¬
hungsweise der Corpsintendantur anheimgestellt bleiben.
Im Speciellen gestattet sich hierbei das Kriegsministerium noch um Berück¬
sichtigung nachbezeichneter Punkte ergebenst zu ersuchen:
1. Beim Ausbruch der Cholera in der Garnison würde darauf Bedacht zu
nehmen sein, Bürgerquartiere, welche durch Insalubrität der Grundstücke, zu
dichte Belegung, die Art der Wasserversorgung, der Latrinenverhältnisse etc. zu
besonderen hygienischen Bedenken Veranlassung geben, zu räumen. Dies trifft
auch zu für Quartiere, in denen die Cholera aufgetreten ist, oder welche sich in
besonders von dieser Krankheit bedrohten beziehungsweise heimgesuchten Stadt¬
gegenden befinden. Es dürfte sich empfehlen, die anderweitige Unterbringung
der aus diesem Grunde zu dislocirenden Mannschaften rechtzeitig ins Auge zu
fassen und bei der diesfalligen Disposition auch die zu diesem Zwecke mit in
Frage kommenden Exercierhäuser etc. zu berücksichtigen.
2. Die Unterbringung der Cholerakranken in Zelten ist pur für den ersten
Zugang dieser Kranken in Aussicht zu nehmen, sofern bis zum Ausbruche der
Krankheit die Beschaffung geeigneterer Unterkunftsräume sich nicht hat ermög¬
lichen lassen.
3. Die Verwendung von Exercierhäusern, Baracken u. s. w. als Cholera-
lazarethe kann diesseits nur als angängig erachtet werden, wenn durch ihre
Lage zu bewohnten Grundstücken, Truppenübungsplätzen etc. eine Gefahr der
Uebertragung der Krankheit ausgeschlossen erscheint.
Für etwa geplante Errichtung von Baracken würde die Kriegsbaracke mit
Heizeinrichtung (§. 66 der Anlage zur Kriegssanitätsordnung) ein zweck¬
entsprechendes Modell gewähren.
4. Die Unterbringung von Cholerakranken in den Garnisonlazarethen ist
nach der Verfügung vom 25. October 1866 unzulässig. Wenn zwingende Noth-
wendigkeit ein Abweichen von diesem Grundsätze erheischt, so sind die Cholera¬
kranken jedenfalls in Isolir- oder solchen Bäumen unterzubringen, die eine voll¬
ständige dauernde Trennung dieser Kranken eventuell unter Zuhülfenahme
besonderer Abschliessungsvorrichtungen (Vorschläge etc.) zulassen. In gleicher
Weise ist das mit der Pflege und Wartung der Betreffenden beauftragte Per¬
sonal von der Berührung mit anderen Kranken etc. auszuschliessen.
5. Beim Auftreten der Cholera in Casernements und Massenquartieren
werden — ausser den bereits vorgeschriebenen prophylaktischen Maassregeln —
noch folgende besonders zu beachten sein:
a) Als Theil der vorschriftsmässigen Latrinendesinfection hat sich täglich
mehrmals eine gründliche Reinigung der Latrinensitzbretter durch Abscheuern
mit desinficirenden Lösungen stattzufinden.
b) Für die sofortige Unschädlichmachung der in der Caserne, Quartier etc.
gebrauchten Bett- und Leibwäsche (soweit letztere im Casernement etc. verbleibt),
und der sonstigen Effecten der an Cholera erkrankten Mannschaften ist Sorge
zu tragen. Zu dem Zwecke sind die Wäschestücke sofort am Bette- beziehungs-
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Hygienische Gesetze und Verordnungen 175
weise auf dem Zimmer des Erkrankten in ausschliesslich dazu bestimmte, mit
hinreichend starken desinficirenden Flüssigkeiten gefüllte Gefasse einzulegen
und mehrere Stunden lang einzuweichen, sofern die Wäsche nicht sogleich an
Ort und Stelle der Desinfection durch hohe Hitzegrade unterzogen werden kann.
Die weitere Reinigung der Wäsche Cholerakranker ist besonders zu regeln. Die
näheren Modalitäten, unter welchen letzteres zu erfolgen hat, müssen von den
localen Verhältnissen abhängig bleiben. Die sonstigen Effecten der Erkrankten,
sowie derjenigen Mannschaften, welche dieselbe Stube mit jenen bewohnten,
werden sobald als möglich der Desinfectionsanstalt — wohl verschlossen — zu
überweisen, bis dahin aber auf dem zu räumenden und unter Verschluss zu
haltenden Zimmer der Erkrankten zu isoliren sein.
c) Mannschaften und sonstige Personen, welche mit Cholerakranken (durch
Handreichungen, Transporte etc.) in Berührung kommen, sind zur sofortigen
gründlichen Reinigung, besonders der Hände mit desinficirenden Flüssigkeiten
anzuhalten.
Einer besonderen Sorgfalt wird bedürfen die Bereitstellung der erforder¬
lichen DesinfectionBmittel und Utensilien auf einen hierfür einzuräumenden,
ausser der Gebrauchszeit unter Verschluss zu haltenden Zimmer, ferner die
Anweisung eines Lazarethgehülfen, unter dessen Leitung die ad a) bis c)
erwähnten Desinfectionsmaassregeln vorzunehmen sind. Für die Zwecke ad 5.
a) bis c) ist die Benutzung von Sublimatlösungen zulässig in den Fällen, in
welchen die Gefahr missbräuchlicher oder unvorsichtiger Anwendung dieses
Desinfectionsmittels durch entsprechende Vorkehrungen ausgeschlossen werden
kann.
d) Was die Familienmitglieder casernirter Unterofficiere etc. betrifft, so wird
bei etwa vorkommenden Choleraerkrankungsfallen die sofortige Räumung der¬
jenigen Casernenlocale, in welchen die Seuche auftritt, zu veranlassen sein. Das¬
selbe gilt für die Familienmitglieder der in den Casernen wohnenden Beamten.
Es erscheint daher nothwendig, das vorsorgliche Vereinbarungen getroffen
werden, durch welche für den eintretenden Bedarfsfall die sofortige Unterkunft
der betreffenden Patienten in öffentlichen Heilanstalten gesichert wird.
6. Die während der Behandlung im Lazarethe gebrauchte Leib- und Bett¬
wäsche der Cholerakranken ist in gewöhnlicher Weise, wie bei 5 b angegeben,
sofort nach der Abnahme im Krankenzimmer selbst in eine desinficirende
Flüssigkeit von genügender Concentration zu tauchen und nur in dieser aus
dem Zimmer zu entfernen. Werden nach dem Ermessen des Corpsgeneralarztes
ausser zur Desinfection auch zur eigentlichen Wäschereinigung besondere
Wa8chgefä88e erforderlich, so können solche zu diesem ausschliesslichen Zweck
in der erforderlichen Anzahl über den Etat beschafft werden.
7. Für diejenigen Garnisonen, in welchen eine Sicherstellung der erforder¬
lichen Transportmittel (bedeckter, federnder Wagen) zur Ueberführung cholera¬
kranker Mannschaften in die betreffende Krankenanstalt im Vertragswege nicht
gelingt, können eintretenden Falls Krankenfahrbahnen (nach dem Beck’sehen
System) in der dortseits für nothwendig erachteten Anzahl beschafft werden.
Ueber die Construction etc. der erwähnten Fahrbahnen wird auf desfallsige
Requisition die Intendantur des 14. Armeecorps Auskunft ertheilen.
Wegen rechtzeitiger Erlangung der erforderlichen Fahrbahren für den Fall
des eintretenden wirklichen Bedürfnisses wird die Corpsintendantur das Erfor¬
derliche in die Wege zu leiten haben.
Es möchte angezeigt sein, bei der Desinficirung der von Cholerakranken
benutzten Fahrbahren, mit Rücksicht darauf, dass dieselbe sehr schwierig ist,
in ganz besonders sorgsamer Weise zu verfahren.
Ausserdem erscheint es zulässig, im Bedarfsfälle auch die Krankentragen
und Krankentransportwagen der Sanitätsdetachements zur Beförderung der
Cholerakranken in der erforderlichen Zahl heranzuziehen. Die Bespannung der
Wagen würde wenn angängig, durch die Truppen zu stellen sein.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
Das königl. Generalcommando wird ergebenst ersucht, gefälligst besondere
Anordnung zu treffen, dass eventuell auch die Desinficirung dieser Wagen und
Tragen mit der erforderlichen Gründlichkeit ausgeführt wird.
Der Transport von Cholerakranken auf offenen, unbedeckten Wagen oder
Karren ist nicht für zulässig zu erachten.
8. Die Vereinbarung angemessener Verpflegungskostensätze für die Auf¬
nahme cholerakranker Mannschaften etc. in Civilkrankenanstalten bleibt den
Corpsintendanturen überlassen.
9. Von besonderer Wichtigkeit erscheint als vorsorgliche Maassregel eine
sorgfältige Ueberwachung der Wäsche des Soldaten, wie schon vorstehend bei
5 b und 6 speciell erwähnt.
Bezüglich der Casernenwäsche, deren Reinigung in den Garnisonwasch¬
anstalten erfolgt, werden die Garnisonverwaltungen mit entsprechender Anwei¬
sung zu versehen sein.
Hinsichts der Reinigung der Leibwäsche empfiehlt es sich, auf eine möglichst
einheitliche Regelung hinzuwirken, soweit dieserhalb seitens der Truppen nicht
schon Fürsorge getroffen ist. Eventuell würde die Reinigung den Garnison¬
waschanstalten gegen Erstattung der Selbstkosten zu übertragen sein, wenn die
Einrichtungen derselben eine derartige Betriebserweiterung gestatten.
Auch die Privatwäsche der Mannschaften ist in Cholerazeiten zu controliren
und die vielfach gebräuchliche Absendung der schmutzigen Wäsche in die
Heimath gänzlich zu untersagen.
10. Bezüglich der Beerdigung der an der Cholera Gestorbenen greifen die
Bestimmungen des §. 365 des Friedenslazarethreglements beziehungsweise die
Vorschriften im §. 22 des Regulativs, enthaltend die sanitätspolizeilichen Vor¬
schriften bei den am häufigsten vorkommenden ansteckenden Krankheiten, vom
8. August 1835 Platz.
11. Sämmtliche durch die bezüglichen Einrichtungen, Beschaffungen etc.
im Bedarfsfälle entstehenden Kosten sind von der Corpsintendantur hierher
anzumelden.
Berlin, den 12. September 1884.
Kriegsministerium.
Erlass königl* Regierung zu Minden vom 25. Juli 1884, betreffend Cholera-
maassregeln im Regierungsbezirk Minden*
Nachdem den Behörden mitgetheilt, was an vorbeugenden Maassnahmen zur
Verhütung der Einschleppung und Verbreitung der Cholera zu geschehen, richten
wir unsere Aufforderung an die Bevölkerung, durch ebenso willige wie pünkt¬
liche Ausführung der Anordnungen der Behörde zur Hebung des öffentlichen
Gesundheitszustandes möglichst beizutragen. Indem ein jeder für sich und das
Wohl der Seinen umsichtig sorgt, unterstützt er zugleich die Behörde in ihrem
Bemühen zur Abwehr der Seuche und fördert so mit dem eigenen auch das
Allgemeinwohl.
Die Furcht vor der Cholera ist schädlich, wenn sie lähmend wirkt auf die
gebotene Thatkraft; sie ist dagegen Nutzen schaffend, wenn sie hilft, alle Vor¬
beugungsmaassregeln auf das Sorgfältigste auszuführen. Die Angst vor der
Seuche muss verschwinden, sobald die Ueberzeugung sich Bahn bricht, dass wir
diesem Feinde keineswegs machtlos gegenüberstehen, sondern im Besitze der
kräftigsten Mittel, ihn abzuwehren, uns befinden.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
Die Cholera ist eine in Indien einheimische Krankheit, welche erst seit dem
Jahre 1830 nach Europa eingeschleppt ist und seit dieser Zeit auch wiederholt
unser Vaterland heimgesucht hat. Es muss hervorgehoben werden, dass in
Europa zu keiner Zeit und an keinem Orte diese Seuche selbständig sich ent¬
wickelt hat. Bis auf den heutigen Tag ist sie immer den Verkehrsstrassen
gefolgt, welche aus dem Orient nach Europa sie leiteten. Ihr Vermittler ist
stets der Mensch selbst gewesen. Nur dort hat sie festen Fuss auf fremdem
Boden gefasst, wo sie zur Entwickelung und Ausbreitung ihrer Keime geeignete
Verhältnisse vorfand. Die Geschichte der Cholera weist deutlich nach, dass die¬
selbe überall dort am mörderischsten wirkt, wo zu ihrer Abwehr die geeigneten
Vorsichtsmaassregeln am wenigsten beobachtet und ausgeführt waren.
Es ist der Wissenschaft bei der Mehrzahl der ansteckenden Krankheiten
nachzuweisen gelungen, dass das eigentliche Krankheitsgift, die Krankheitsträger,
höchst kleine, nur mit stärkster Vergrösserung des Mikroskopes wahrnehmbare
Pilze sind. Geheimrath Koch hat das grosse Verdienst, zuerst den Pilz des
Milzbrandes, dann den Pilz der Lungenschwindsucht und in neuester Zeit den
Cholerapilz aufgefunden zu haben.
Die Erfahrung hatte bereits festgestellt, das9 die Cholera niemals anders,
als durch Ansteckung entsteht. Ferner ist constatirt, dass die Ansteckung bei
Cholera nicht wie bei den ansteckenden Ausschlagskrankheiten (Scharlach, Masern,
Flecktyphus) durch Berührung oder durch die Ausathmung oder Ausdünstung
des Kranken, sondern ganz allein durch die Ausleerungen derselben erfolgt.
Wie die Trichine die Hauptbedingungen zu ihrer Fortentwickelung im
Dünndarm, wie der Pilz der Diphtherie seinen Lieblingssitz auf der Schleim¬
haut des Rachens und der Luftröhre des Menschen findet, so entwickelt sich
auch der Cholerapilz nur auf der Schleimhaut des Darmcanals, vorzugsweise des
Dünndarms, im Menschen. Von hier aus gelangt er in die Blutmasse und übt
dann in Folge des ihm innewohnenden Giftes seine zerstörende Wirkung auf
Blut- und Nervensystem. Durch die Anhäufung der Pilze auf der Darmschleim¬
haut und in Folge des durch dieselben ausgeübten Reizes werden Veränderungen
des Gewebes, lebhafte Bewegungen des Darmes und heftige Diarrhöen hervor¬
gerufen. Mit den Ausleerungen des Kranken gelangen die entwickelten Cholera¬
pilze dann in die Aussenwelt.
Aus dem Angeführten geht hervor, wessbalb die Ansteckung bei der Cholera
von Individuum zu Individuum viel geringer ist und sein muss, als bei den an¬
steckenden AusBchlagskrankheiten (Scharlach, Masern etc.) und warum die An¬
steckung nur durch die Ausleerungen des Kranken stattfinden kann.
Die Personen, welche die Cholera von einem Orte zum anderen schleppen,
sind nicht immer schwer Erkrankte, sondern auch solche, welche an Cholera-
Diarrhoe nur in so geringem Grade leiden, dass sie selbst sich für gesund halten
und daher trotz ihrer Diarrhoe mehr oder weniger weite Reisen unternehmen.
Ueberall aber, wo sie ihre Ausleerungen zurückgelassen, werden sobald daselbst
die Bedingungen zur Entwickelung der Pilze günstig waren, die Aborte zu Krank¬
heitsherden für das betreffende Haus, ja für die betreffende Stadt. Zunächst erkran¬
ken alle die, welche jene Aborte benutzen und es treten sehr bald mehr oder weni¬
ger mörderische Hausepidemieen ein, die dann alsbald durch Vervielfältigung
und Verbreitung der Krankheitskeime zu Stadtepidemieen führen.
Abortsgruben und Misthaufen scheinen die beste Brut- und Keimstätte der
Cholerapilze zu sein. Ist die Senkgrube nicht dicht oder fliesst dieselbe über,
dann gelangen die Pilze mit der Jauche in den Erdboden oder in die Rinn¬
steine, Canäle und Brunnen. Auf diese Weise wird, wo nicht geradezu die Aus¬
leerungen Cholerakranker in den Rinnstein geschüttet wurden, Brunnen und
Trinkwasser mit Cholerapilzen geschwängert und vergiftet. Der Boden nimmt
Vierteljahnschrift für Gesundheitspflege, 1886. 22
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178 Hygienische Gesetze und Verordnungen.
natürlich von dem Schmutzwasser, der Jauche und den Auswurfsstoffen um so
mehr auf, je durchlässiger und poröser er ist. Prof. Petttenkofer hat nach¬
gewiesen, dass ein Platz für eine ausgedehnte Verbreitung der Cholera um so
geeigneter ist, je mehr die den Boden durchtränkenden Auswurfsstoffe sich
unter Bedingungen befinden, welche günstig oder ungünstig für eine faulige
Zersetzung sind. Je feuchter der Boden, um so schneller erfolgt aber die Ver¬
wesung der in ihm enthaltenen organischen Stoffe. Schmutzige Stadtviertel,
Häuser mit feuchtem Keller, mit nassem Untergrund weisen fast immer die
höchste Zahl Choleraerkrankungen und die meisten Sterbefalle nach. Wo also
die durch die Ausleerungen eines Cholerakranken deponirten Pilze einen zu
ihrer weiteren Entwickelung und Vermehrung günstigen Boden finden — und
das ist jeder mit Schmutzwasser, Jauche, mit in Verwesung befindlichen Stoffen
durchträukte Boden — da gedeihen, vermehren und verbreiten sich die Krank¬
heitsträger und die Epidemie hält so lange an, bis die für den Cholerakeim
empfänglichen Menschen durchseucht sind.
Wie die Ausleerungen der Cholerakranken sind auch die mit denselben
beschmutzten Kleider, die Wäsche, die Möbel und der Fussboden ansteckend.
Dass die Wäsche des Kranken daher die Ansteckung besonders verbreitet, ist
natürlich. Dieselbe brachte, wie die Erfahrung vielfach nachweist, Wäscherinnen,
die in ganz gesunden Orten, fern von der durch Cholera heimgesuchten Gegend
sich befanden, allein durch das Reinigen derselben die Seuche und den Tod.
Haben Personen, welche Cholerakranke pflegen, irgend wie ihre Hände mit
den Ausleerungen des Kranken verunreinigt, so können bei nicht sehr sorg¬
fältiger Reinigung und Desinficirung derselben beim Ergreifen der Nahrung
letzterer die Pilze mitgetheilt und auf diese Weise die Krankheitsträger in den
Magen des Krankenpflegers gelangen. Auch das mit den Pilzen verunreinigte
Getränk, Trinkwasser und auch Milch, führt dieselben in den Magen und ver¬
mittelt so die Ansteckung. Von der Menge der eingeführten Pilze, von dem
Entwickelungsstadium, in welchem sich dieselben befinden, aber auch von der
Beschaffenheit des menschlichen Organismus, in welchen sie als Parasiten ein-
treten, hängt es ab, ob und bis zu welchem Grade sie sich entwickeln und ver¬
mehren. Ist der Angesteckte kräftig, leidet er namentlich nicht an Magen- und
Darmkatarrh, neigt er nicht zu Diarrhöen, sondern erfreut sich gesunder und
kräftiger Verdauungsorgane, dann fehlen die zur Entwickelung der Cholera¬
keime günstigen, ja nothwendigen Bedingungen und vielfach werden die ver¬
schluckten Pilze unentwickelt und ohne weitere Störung hervorgerufen zu haben,
wieder abgehen, ebenso wie die Pilze der Diphtherie und anderer anstecken¬
der Krankheiten nicht überall haften, sich entwickeln und Krankheit erzeugen.
Bei weniger starken Naturen zeigt sich die Wirkung der Pilze durch das
Auftreten leichter, bald vorübergehender Diarrhöen. Ist aber der Schleimhaut¬
boden des Dünndarms der Entwickelung der Pilze günstig, dann entstehen recht
bald stärkere Diarrhöen, denen in wenigen Tagen ein Choleraanfall folgt. Ist
die betreffende Schleimhaut durch lange vorausgegangene Catarrhe geschwächt
und so geeigneter Nährboden für die Pilze geworden, dann bildet sich rech-
bald Brechdurchfall (Cholerine) aus und Cholera.
Das Wesen der Krankheit, die angegebene Art und Weise ihrer Entwicke¬
lung und Verbreitung lehrt uns, welche Mittel wir gegen dieselbe zu gebrauchen
und wie wir gegen diesen andringenden Feind uns in Vertheidigungszustand zu
setzen haben. Zunächst wird der Verkehr mit Choleragegenden zu vermeiden
sein. Von dort zugereiste Personen und zugesandte Sachen werden genau über¬
wacht und Kleider und Wäsche sorgfältig desinficirt werden müssen. Dass die
vor dem Eintritt der Seuche vollzogene Reinigung des Bodens, der Häuser, der
Gassen, der Aborte, Senkgruben und Rinnsteine einen unendlich grösseren Nutzen
hat, wie die nach dem Auftreten der ersten Fälle versuchte Beseitigung der
Missstände, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
Die von udb erlassene Verfügung giebt den Sanitätscommissionen und Polizei¬
behörden genau die Missstände an, welche beseitigt werden müssen, um den
Boden und die Luft rein zu halten. Es suche diesen Anordnungen ein Jeder
auch in seinem Hause auf das Gewissenhafteste nachzukommen.
Es ist daher nothwendig:
I. Sorge für Reinhaltung von Haus und Hot
1. Misthaufen sind aus der Nähe der Häuser ganz zu entfernen. Stagniren-
des Wasser ist abzulassen. Bei Entleerung der Senkgrube überzeuge sich
ein jeder, ob das Mauerwerk derselben auch undurchlässig ist und ob
keine Verbindung mit dem Brunnen besteht. Die Aborte müssen rein
gehalten und fleissig desinficirt werden.
2. Unter den Gewerbetreibenden sind namentlich die Metzger zur grössten
Reinlichkeit im Hause und in den Schlachträumen verpflichtet. Sie haben
besonders darauf zu sehen, dass alle Abfälle sofort entfernt, dass Blut und
Schmutzwasser nie in den Rinnstein fliesst, und dass täglich desinficirt
wird.
3. Wohn- und Schlafräume dürfen nicht mit Personen überfüllt sein. Eine
frische, reine Luft sei stets in Stube und Kammer anzutreffen. Die Rei¬
nigung und Entfernung dumpfer Luft oder gar schlechten Geruches wird
besser durch Zugluft, als durch Räucherung mit wohlriechenden Sachen
besorgt.
II. Ein jeder hat ferner, wie Haus und Hof, wie seine ganze Umgebung
auch den eigenen Körper in vorbeugende Obhut zu nehmen und, damit er
nicht zum Nährboden werde für die gefürchteten Cholerapilze, ihn rein zu
halten.
1. Es sehe daher ein jeder Hausvater bei sich und den Seinigen auf grösste
Reinlichkeit in Kleidung und Wäsche.
2. Jede Erkältung ist zu vermeiden. Es ist daher der alte Rath, zur Cholera¬
zeit eine Leibbinde von Flanell zu tragen und für warme Füsse zu sorgen,
nicht zu unterschätzen.
3. Alles ist zu vermeiden, was den Körper schwächt, denn die Gefahr der
Ansteckung steigt mit der Abnahme der Widerstandskraft dos Körpers.
Verstimmende Gemüthsbewegung etc., namentlich Aerger und Furcht, sind
in ihrer störenden Einwirkung auch auf den Magen bekannt.
4. Alle Excesse in Speise und Trank, Ueberladungen des Magens, können zur
Cholerazeit die schlimmsten Folgen haben. Eine ängstliche Auswahl der
Speisen ist dagegen nicht nothwendig, aber wohl ist es geboten, schwer-
verdauliche Sachen und alles zu vermeiden, was auch sonst nicht gut ver¬
tragen wurde, besonders aber, was nach allgemeiner oder individueller
Erfahrung Verdauungsstörung und Diarrhoe hervorruft. Man geniesse
daher nicht zähe Mehlspeisen, frisches, noch warmes Brot, sehr fett zu¬
bereitete Gerichte, sehr fettes Fleisch, alten oder fetten Käse.
Obst. Nur reifes Obst und Gemüse darf genossen werden, aber auch
solches ist zu untersagen, welches wegen seines Wasserreichthums zum
Durchfall führen kann, wie Melonen und Gurken.
Getränke. Von besonderer Wichtigkeit ist das Trinkwasser. Man
trinke desshalb nur dann, wenn es nach Geschmack, Geruch und Aus¬
sehen durchaus rein ist. Ist die Seuche am Orte ausgebrochen, dann
trinke man nur gekochtes Wasser, ebenso nur gekochte Milch, dem ge¬
kochten Wasser kann Rothwein, Rum, Kaffee oder guter Branntwein zu-
gesetzt werden. Dass dieser Zusatz das erlaubte Maass nicht überschreiten
darf, ist selbstverständlich. Unter allen Getränken hat sich bei der Cho-
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180 Hygienische Gesetze und Verordnungen.
lera keines stets so schädlich gezeigt, wie der Branntwein, mochte er nun
ungewohnt oder unmässig genossen werden. Auch ein gutes Bier darf
getrunken werden, wogegen junges oder gar sauer gewordenes ebenso
schädlich ist wie Most und junger und saurer Wein.
Kost. Fleichkost sagt im Ganzen am besten zu, jedoch muss das
Fleisch immer recht gut sein.
5. Ist die gewohnte Lebensweise den Anforderungen der Gesundheit ent¬
sprechend, so hat man keinen Grund sie zu ändern und es gilt als Vor¬
schrift, die Nahrungsweise, bei welcher man sich bis dahin stets wohl
befunden hat, nicht der Cholera wegen mit einer ungewohnten zu ver¬
tauschen.
6. Von grösster Wichtigkeit ist es, sofort den Arzt zu Rathe zu ziehen, so¬
bald Diarrhoe, wenn auch leichten Grades, sich eingestellt hat. Bei ein¬
tretendem Unwohlsein suche man sofort das Bett auf, trinke heissen Pfeffer-
minzthee und suche in Transpiration zu kommeu. Der Arzt wird dann
das Weitere bestimmen. Nicht genug ist zu warnen vor jenen Geheim¬
mittelkrämern, die auch hier aus der Noth ihrer Mitmenschen ein Ge¬
schäft zu machen suchen. Schaden ihre „unfehlbar wirkenden Cholera¬
tropfen und Elixire“ nicht direct, so schaden sie doch gewiss dadurch,
dass die zur Heilung geeignetste Zeit unbenutzt vorüber geht und dass
der Arzt dann häufig zu spät kommen wird.
III. Fine sehr wichtige Rolle spielen in der Cholerazeit schliesslich auch
die DesinfectionBmittel. Nicht alle Mittel, welche übelriechende Massen
geruchlos machen, sind Desinfectionsmittel.
Eisenvitriol z. B. beseitigt den üblen Geruch, zerstört aber in keiner Weise
die Pilzkeime und Entwickelung. Unter allen Desinfectionsmitteln ist das bewähr¬
teste Carbol- (Phenyl-) säure.
Ist die Cholera an einem Orte ausgebrochen, so ist
1. der Kranke sofort zu isoiiren oder in ein Krankenhaus zu bringen.
2. Es sind aus seinem Zimmer all die Möbel, Kleider und sonstigen Sachen,
welche zu seiner Wartung und Pflege nicht unbedingt noth wendig sind,
zu entfernen.
8. Da Gläser, Schusseln, Küchengeschirre, wenn sie mit verunreinigtem Wasser
gespült werden, gleichfalls die Ansteckung vermitteln können, so empfiehlt
es sich, auch zum Spülen derselben nur gekochtes Wasser zu gebrauchen.
Das Spülen und Reinigen von Gefässen oder Wäsche, welche mit Cholera¬
kranken in Berührung gekommen, darf weder an Brunnen noch sonstigen
Wasserentnahmestellen geschehen.
4. Die Ausleerungen des Kranken, sowohl die Stühle als das Erbrochene,
sind sofort in einem Gefass aufzufangen, welches mit öproc. Carbolsäure-
lösung bis zu einem Drittel angefüllt ist.
5. Mit den Ausleerungen des Kranken beschmutzte Leib- oder Bettwäsche ist
sofort in eine gleiche Carbolsäurelösung hineinzulegen und 48 Stunden
darin zu lassen, sodann mit heissem Wasser zu spülen.
6. Weder die Ausleerungen des Kranken noch irgend welche mit denselben
beschmutzten Gegenstände dürfen aus dem Krankenzimmer vor erfolgter
Desinfection entfernt werden.
7. Mit den Ausleerungen des Kranken verunreinigte Möbel, Fussböden etc.
sind mit trockenen Lappen gründlich abzureiben und letztere sofort zu
verbrennen.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen. 181
8. Alle Personen, welche im Zimmer des Kranken verkehren, dürfen daselbst
weder essen noch trinken. Bevor sie das Zimmer verlassen, haben sie
die Hände mit 5proc. Carboisäurelösung zu waschen.
9. Kleidungsstücke, Betten und andere, mit der Carbolsäure nicht zu desinfi-
cirende Sachen, sind in einem Apparat mit heissen Wasserdämpfen von
100° C. zu behandeln.
10. Wo eine anderweitige genügende Desinfection nicht ausführbar, wie z. B.
bei Polstermöbeln, Matratzen etc. sind dieselben einer Zugluft an einem
vor Regen geschützten Orte durch mindestens 6 Tage auszusetzen. Ebenso
sind Wohnräume, in denen Cholerakranke gelegen, zu räumen und gleich¬
falls 6 Tage lang zu lüften, damit sie vollständig austrockuen. I)a9 Aus¬
trocknen kann durch Heizen unterstützt werden.
11. Alle geringwerthigen Gegenstände, die mit dem Kranken in Berührung
gekommen, wie Stroh etc. sind sofort zu verbrennen.
Minden, den 25. Juli 1884.
Königliche Regierung, Abtheilung des Innern.
Erlass des schweizerischen Bnndesratlies vom 25. Juli 1884, betreffend
Instruction für die schweizerischen Cholera-Experten.
§. 1. Die Experten haben die Aufgabe, die cantonalen Gesundheitsbehörden
in der Ausführung der vom Bundesrathe erlassenen Vorschriften über Cholera¬
polizei zu unterstützen, für deren gleichmässige Handhabung in den verschiede¬
nen Cantonen zu sorgen, und unnöthige oder schädliche Maassregeln zu ver¬
hüten.
§. 2. Sie werden sich zunächst bei den cantonalen Sanitätsbehörden über
die in Ausführung des Kreisschreibens getroffenen Vorkehren erkundigen und
auf auffällige Unterlassungen aufmerksam machen j sie werden im weiteren durch
persönliche Nachschau in wichtigeren Ortschaften sich überzeugen, ob nach den
verschiedenen Richtungen von Titel I des Kreisschreibens das Nothwendige in
zweckentsprechender Weise geschehen ist und namentlich auch genaue Kenntniss
nehmen von der Ausführung der die Eingangsstationen betreffenden, in Titel II,
Ziffer 4 enthaltenen* Vorschriften.
Die Ausführung der die Eisenbahnen, Posten, Dampfschiffe betreffenden
Vorschriften wird direct von dem Post- und Eisenbahndepartement durch seine
eigenen Organe überwacht.
§. 8. Bei mangelhaftem Befund wenden sich die Experten, nach genomme¬
ner Rücksprache mit den Gemeindebehörden, in erster Linie um Abhülfe an die
verantwortliche Cantonsbehörde, und wenn diese Abhülfe nicht rechtzeitig er¬
folgt, an den Bundesrath beziehungsweise dessen Departement des Innern. In
Dringlichkeitsfallen haben die Experten die Pflicht, auf Grundlage der Vorschriften
des Bundesraths, das Nöthige unverzüglich anzuordnen und von den getroffenen
Anordnungen der cantonalen Sanitätsbehörde sofort Mittheilung zu machen.
§. 4. Sie ertheilen cantonalen und Gemeindegesundheitsbehörden über alles,
was die Choleraschutzmaassregeln und deren zweckmässigste Ausführung betriflt,
auf Begehren Aufschluss und Rath, wobei sie sich in Betreff der technischen
Vorkehren, wie z. B. Desinfection, an die amtlich adoptirten Grundsätze und
bezüglich der ökonomischen Fragen an die Ziffer 3 des Titels III des Kreis¬
schreibens halten.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
§. 5. Bei Ausbruch der Cholera im Lande haben sie die Eingrenzung der
ersten Fälle zu überwachen. Sie begeben sich, sobald sie vom eidgenössischen
Departement des Innern oder von einer cantonalen oder communalen Behörde
Anzeige erhalten, sofort an den betreffenden Ort, um sich von der Vollständig¬
keit und Genauigkeit der getroffenen Maassregeln zu überzeugen, beziehungsweise
die Ergänzung derselben zu veranlassen.
§. 6. Sie haben bei Privatnachrichten oder Gerüchten die Pflicht sofortiger
Telegrammnachfrage bei den betreffenden Orts gesund hei tsbehörden oder Aerzten.
§. 7. Nach Einrichtung der ersten Schutzmaassregeln werden sie den Gang
aller Vorkehrungen: Absperrung, Nothspitäler, Auslocirung, Desinfection, Haus¬
besuche und Verpfleguug, vor Allem auch die Regelmässigkeit der Anmeldungen
überwachen und sich in geeigneter Weise darum bemühen, dass nichts unter¬
lassen werde, was zur Eingrenzung der Seuche und zur Tilgung derselben
geschehen kann.
§. 8. Sie besuchen die einzelnen Choleraorte so oft, als sie es für nöthig
finden, sowie auch nach Auftrag des eidgenössischen Departements des Innern
oder auf Ansuchen cantonaler Sanitätsbehörden.
§. 9. Sie berichten über ihre Thätigkeit an das eidgenössische Departement
des Innern, bei Ausbruch und Dauer einer Epidemie täglich durch Telegramme
und wöchentlich einmal schriftlich.
Wo keine Epidemie in Frage kommt, genügt nach den ersten Berichten
über Ziffer 2 und 3 der Instruction ein Schlussbericht.
§. 10. Die Experten gemessen für ihre amtliche Correspondenz in Cholera¬
angelegenheiten Portofreiheit.
§. 11. Die Normirung der Entschädigung der Experten wird einem beson¬
deren Beschlüsse Vorbehalten.
Bern, den 25. Juli 1884.
Im Namen des schweizerischen Bundesrathes.
Der Bundespräsident Welti. Der Kanzler der Eidgenossenschaft Ringier.
Anhang:
Neue Anleitung zur Desinfection bei Cholera.
Wir beehren uns, Ihnen in der Beilage eine neue Anleitung zur Desinfection
bei Cholera, wie solche aus den Berathungen der Cholera-Experten hervorgegangen
ist, mit dem Bemerken mitzutheilen, dass die in den Erlassen vom 4. Juli abhin
bezeichneten Desinfectionsvorschriften durch die schweizerische Aerztecommission
bereits vor einem Jahre aufgestellt worden sind, d. h. zu einer Zeit, wo man
die seither in Egypten und Indien gemachten neuesten Erfahrungen über die
Cholerakrankheit noch nicht gekannt hat. In Benutzung dieser Erfahrungen
sind daher die unterm 4. d. mitgetheilten Desinfectionsvorschriften modificirt
und auch wesentlich vereinfacht worden, und es treten nun diese neuen Be¬
stimmungen an die Stelle der früheren.
1. Leibwäsche, Bettwäsche und Wolldecken, welche durch die Ent¬
leerungen Cholerakranker beschmutzt worden sind, werden am besten durch
Verbrennen vollkommen beseitigt. Soweit dies nicht angeht, sind dieselben so¬
fort in Öproc. Carbollösung zu werfen und sollen in derselben 24 Stunden ver¬
weilen, bevor sie zur Wäsche gegeben werden.
In derselben Weise durch öproc. Carbollösung zu desinficiren ist ferner
Leib- und Bettwäsche Cholerakranker, auch wenn sie nicht in erkennbarer Weise
durch Entleerungen verunreinigt ist.
Die Herstellung der öproc. Carbollösung ist in dem Verhältniss auszuführen,
dass 1 Liter flüssige Carbolsäure *) mit 18 Liter Wasser verdünnt wird. Ist eine
*) Flüssige Carbolsäure gleich: 100 Gewichtstheilen Acidum carbolicum crystallisatum
mit 10 Gewichtstheilen Wasser.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
öproc. Carbollösung nicht vorhanden, so lässt sich diese Vorschrift dadurch
ersetzen, dass die Cholerawäsche eine Stunde lang gekocht wird. Die Carbol-
lösung und das Kochwasser, das von derartiger Wäsche abgegossen wird, ist in
die Abtritte zu entleeren.
Cholerawäsche soll nicht herumgeführt, sondern stets am Orte der Erkran¬
kung desinficirt werden. Sie darf niemals undesinficirt zur Wäsche
gegeben werden.
2. Federbetten, Matratzen und Kleider, welche obiges Verfahren
nicht zulassen, können durch einstündiges Verweilen in einem von Wasserdampf
durchströmten Kasten desinficirt werden. In diesem Falle ist darauf zu halten,
dass die Temperatur des Dampfes an der Ausströmungsöffuung der Temperatur
des siedenden Wassers entspricht.
Wenn ein solcher Kasten nicht zur Verfügung steht, so lasse man diese
Gegenstände, nachdem die Verunreinigungen in der sub Ziffer 4 zu beschreiben¬
den Weise abgewischt sind, sechs Tage lang an einem luftigen, trockenen, vor
Regen geschützten Raume stehen.
Wie die Effecten Cholerakranker, sind Wäsche und Kleidung des Warte¬
personals derselben zu behandeln.
W r erthlose Gegenstände, wie Bettstroh, Laub, schlechte Kleider sind durch
Verbrennen zu beseitigen. '
8. Die Entleerungen Cholerakranker und Choleraverdächtiger sind in
Nachttöpfen und Becken aufzufangen, welche mit öproc. Carbollösung soweit
gefüllt sind, dass die entleerten Massen vollständig in die Carbollösung hinein¬
fallen. Ist dies nicht geschehen, so sind die entleerten Massen mit dem gleichen
Volumen Öproc. Carbollösung zu übergiessen. In jedem Cholerahause soll ein
Kübel von Eisenblech mit Deckel, handhoch mit öproc. Carbollösung gefüllt, die
desinficirten Ausleerungen aufnehmen und es sollen diese dann täglich einmal
in einem Garten oder Acker, weit entfernt von Brunnenleitungen, Bächen und
Canälen vergraben werden. Ist solches, z. B. in Städten, nicht möglich, so wird
der Inhalt dieses Kübels alle 24 Stunden in den Abtritt entleert 1 ).
4. .Werden Böden, Wände und Möbel durch Choleraentleerungen ver¬
unreinigt, so sind dieselben nicht zu waschen, sondern mit in Öproc. Carbollösung
befeuchteten Lappen aufzuwischen. Diese Lappen sind zu verbrennen.
6. Zimmer, in welchen Cholerakranke gelegen haben, sind zu räumen und
müssen, bevor sie wieder bezogen werden dürfen, sechs Tage hindurch leer
stehen, damit alle Infectionsstoffe austrocknen. Das Austrocknen ist durch Heizen
zu unterstützen.
6. Für den Transport von Cholerakranken zum Spital müssen eigene Fuhr¬
werke bereit gestellt werden.
Werden zum gewöhnlichen Gebrauch dienende Fuhrwerke — Droschken,
Postwagen, Omnibus, Eisenbahnwagen — von Cholerakranken benutzt, so sind
die Verunreinigungen so wie unter Ziffer 4 angegeben, abzuwischen. Dann sind
die betreffenden Fuhrwerke auszurangiren und haben sechs Tage an einem
trockenen, luftigen, vor Regen geschützten Orte zu stehen. Erst dann können
sie wieder in Gebrauch gestellt werden.
7. Alle Personen, welche Cholerakranke und deren Entleerungen berührt
haben, sollen sich unmittelbar darauf Hände und sonst verunreinigte Körper-
theile mit Öproc. Carbollösung waschen.
8. Leichen dürfen nicht gewaschen werden, sondern sind unmittelbar
nach dem Tode in ein in Öproc. Carbollösung getränktes Leintuch einzuschlagen.
2 ) Die gleiche desinficirende Wirkung wie durch Öproc. Carbollösung wird durch eine
Lösung von Sublimat (1 Gewichtstheil auf 1000 Gewichtstheile destillirten Wassers) erzielt.
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184 Hygienische Gesetze und Verordnungen.
9. Abtritte sind vor Ausbruch der Epidemie gründlich zu reinigen. Wah¬
rend der Dauer der Epidemie dürfen sie nicht häufiger*geleert werden, als es die
Anfüllung erforderlich macht. Es soll in die Abtritte der öffentlichen Gebäude
und der Logishäuser täglich rohe Carbolsäure oder statt derselben Wiener¬
lösung, welche aus 1 kg roher Carbolsäure, 2 kg Eisenvitriol und 20 Liter
heissem Wasser besteht, geschüttet werden, bis dieselben deutlichen Carbolgeruch
annehmen.
10. Oeffentliche Bedürfnisanstalten (Pissoirs), ebenso die entspre¬
chenden Abtheilungen der Schulhausabtritte sind täglich mit trockenem Chlor¬
kalk zu bestreuen.
Bern, den 1. August 1884.
Im Namen des schweizerischen Bundesrathes.
Der Bundespräsident Welti. Der Kanzler der Eidgenossenschaft Ringier.
Erlass des Medicinalamtes zu Bremen vom 18. Juli 1884, betreffend die
öffentliche Reinlichkeit.
Unter Aufhebung der die öffentliche Reinlichkeit betreffenden Verordnung
vom 29. September 1871 wird hierdurch in Gemässheit des §. 13 der Medicinal-
ordnung vom 2. August 1878 mit Genehmigung des Senats verordnet:
§. 1. Die Beseitigung menschlicher Auswurfsstoffe und anderer leicht ver-
weslicher Gegenstände durch Ablagern, Vergraben oder Ausgiessen in Hofen,
Gärten, Gräben, Canalrosten oder Gossensteinen ist verboten.
§. 2. Spül- und Abfallwasser darf durch Ausgiessen auf die Canalrosten
der Strassencanäle und der mit denselben in Verbindung stehenden Hauscanäle
nur unter der Bedingung beseitigt werden, dass sofort nach der Entleerung der
Gefässe in den Canal mindestens ein Eimer reines Wasser nacligegossen wird.
§. 3. Die Ablagerung und Ansammlung der in §. 1 und §. 2 bezeichnten
Stoffe ist nur in wasserdichten Gefassen oder Latrinen gestattet. Die Gefässe
müssen in den Monaten Mai bis September einschliesslich mindestens alle
zwei Tage, in den übrigen Monaten mindestens alle drei Tage zur Entleerung
durch die Nachtkarren von den Benutzern auf die Strasse gesetzt werden.
§. 4. Die Aborte und Pissoirs in Gasthäusern, Restaurationen, Schenken,
Schulen und anderen für eine grössere Anzahl Menschen bestimmten Anstalten
und Häusern sind stets durch zweckmässige Desinfection nach der zu veröffent¬
lichenden Anweisung des Gesundheisrathes von den der Gesundheit nachtheiligen
Ausdünstungen frei zu halten.
Den vom Medicinalamte zu treffenden Anordnungen zur Reinigung und
Desinficirung sämmtlicher Latrinen, Priveteimer, Pissoirs und Hauscanäle ist
Folge zu leisten.
§. 5. Das Halten von Schweinen und Ziegen in der Stadt ist in der Regel
nicht gestattet. Wer Schweine oder Ziegen halten will, bedarf hierzu einer
Erlaubnis des Medicinalamtes. Den in dieser Erlaubnis des Medicinalamtes
festgesetzten besonderen Bedingungen ist Folge zu leisten.
§. 6. Uebertretungen vorstehender Bestimmungen werden mit Geldstrafe
bis zu sechzig Mark oder mit Haft bis zu vierzehn Tagen bestraft
Familienväter, Dienstherren und selbständige Gewerbetreibende sind für
die Uebertretungen ihrer Hausgenossen, Dienstboten und Geschäftsgehülfen
verantwortlich.
Bremen, den 18. Juli 1884. Das Medicinalamt.
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Hygienische Gesetze und Verordnungen.
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Erlass des Mediclnalamtes zu Bremen vom 19. Juli 1884, betreffend
Reinigung und Desinfleirung der Latrinen und Hauseanäle.
In Ausführung des §. 4 Absatz 2 der Verordnung des Medicinalamtes vom
18. Juli 1884, betreffend die öffentliche Reinlichkeit, treten bis auf Weiteres
folgende Vorschriften in Kraft:
§. 1. Sämmtliche Latrinen, welche ein Jahr lang nicht gereinigt sind,
müssen binnen sechs Wochen in der vorgeschriebenen Weise entleert und
sofort nach der Entleerung ausgeschwefelt werden. Die Entleerung der Latrinen
in anderer Weise als vermittelst Einsaugung in einen geschlossenen, verdünnte
Luft enthaltenden Behälter (Kesselwagen) ist nur nach vorgängiger besonderer
Erlaubniss der Polizeidirection gestattet. Gesuche um solche Erlaubnis sind
an die Districtspolizeibüreaus schriftlich einzureichen.
Verpflichtet zur Entleerung und Ausschwefelung der Latrinen sind die
Hauseigenthümer.
§. 2. Die Latrinen, Aborte und Pissoirs in Gasthäusern, Restaurationen,
Schenken, Schulen und anderen für eine grössere Anzahl Menschen bestimmten
Anstalten und Häusern müssen täglich und zwar Morgens desinficirt werden.
§. 3. Die Ausschwefelung und Desinficirung (§§. 1 und 2) hat m der vom
Gesundheitsrath empfohlenen, unten angegebenen Weise zu erfolgen.
§. 4. Die Hauscanäle, die offenliegenden Canäle auf Höfen und zwischen
Häusern, sowie die Abfallrohre der Spülsteine müssen täglich mit reinem
Wasser gründlich ausgespült werden.
Indem das Medicinalamt die im öffentlichen Gesundheitsinteresse unerläss¬
liche Beachtung der vorstehenden Vorschriften allen Hausbewohnern zur Pflicht
macht, weist es namentlich darauf hin, dass möglichst rasche Abfuhr aller
Unrathstoffe uud reichlichste Verwendung von Wasser für die in gegenwär¬
tigen Zeitverhältnissen ganz besonders nothwendige öffentliche Reinlichkeit von
grösster Bedeutung sind. Dabei muss auch rücksichtlich der nicht unter §. 2
fallenden Latrinen, Aborte und Priveteimer die Anwendung der vom Gesund¬
heitsrath empfohlenen, unten bezeiohneten Mittel zur Desinfection dringend
empfohlen werden. Ebenso ist auf einen fortdauernd guten Zustand der vor¬
handenen, eventuell herzustellenden Wasserverschlüsse zur Verhütung des Aus¬
tritts der Canalgase das grösste Gewicht zu legen.
In Betreff des Trinkwassers hat der Gesundheitsrath sich gutachtlich dahin
geäussert, dass überall, wo das Brunnenwasser von mittelmässiger Qualität ist,
das Leitungswasser als Getränk vorzuziehen ist,
Bremen, den 19. Juli 1884. Das Medicinalamt.
Anweisung des Gesnndheitsrathes von Bremen vom 19« Juli 1884, betreffend
zweckmässige Desinfection.
Unter Bezugnahme auf die vom Medicinalamte erlassene Verordnung vom
18. Juli 1884, die öffentliche Reinlichkeit betreffend, giebt der Unterzeichnete
nachstehende Anweisung zur Desinfection von Aborten, Pissoirs und anderen,
schädliche Ausdünstungen veranlassenden Localitäten, sowie von Kranken¬
zimmern :
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186
Hygienische Gesetze und Verordnungen.
1. Sammelgruben für thierische Abfälle, Pissoirs, übelriechende Abläufe
oder Canäle werden, soweit sie zugänglich, mit trockenem Chlorkalk oder
Carbolpulver gut bestreut, und zwar so reichlich, dass der faulige Geruch ver¬
schwindet nnd der des angewandten Mittels vorherrscht. Die Wände des Pissoirs
sind mit Chlorkalklösung zu begiessen.
2. Senkgruben und Abtritte werden, nachdem sie zuvor entleert worden,
ansgeschwefelt. Es geschieht dies am besten durch Sachverständige in der¬
selben Weise, wie das Ansschwefeln der Weinfässer durch Verbrennen von
Schwefelfaden oder von in geschmolzenen Schwefel getauchter grober Lein¬
wand. Für eine Grube mittlerer Grösse genügt ein Stück von % qm Grösse,
oder die entsprechende Menge von Schwefelfäden. Man befestigt sie an einem
Eisendraht und senkt sie brennend in die Grube, die sich mit Dampf von
verbranntem Schwefel (schwefliger Säure) füllt. Das Erlöschen des brennenden
Schwefellappens beweist, dass die Grube genügend mit Schwefeldampf (schwef¬
liger Säure) angefüllt ist. Nachdem dieser verschwunden, d. h. aufgesogen,
giesst man in die Grube eine Auflösung von Eisenvitriol, mit Carbolsäure ver¬
setzt. Für die wöchentlichen Ausleerungen einer Familie von 12 Personen
genügen 2 kg Eisenvitriol in heissem Wasser gelöst mit 200 g bis 300 g roher
Carbolsäure versetzt. Bei Wasserclosets ist der Eisenvitriol und die Schwefelung
wegen der metallenen Hähne und Röhren unzweckmässig, da Metalle von der
schwefligen Säure und den Metallsalzen leiden; man beschränkt sich bei diesen
auf Carboisäurelösung in grösserer Menge und häufige und reichliche Spülung.
Werden statt der Gruben Eimer benutzt, so ist für die Beseitigung der
üblen und schädlichen Ausdünstungen die Verwendung von Torfstreu in Pulver¬
form dringend zu empfehlen. Es geschieht dies in der Weise, dass nach
jedesmaliger Benutzung eine Hand voll Torfstreu auf den Inhalt des Eimers
geschüttet wird. Vor dem Ausstellen des Eimers auf die Strasse ist die Ober¬
fläche des Inhaltes noch mit einer fingerdicken Schicht Torfstreu zu bedecken.
Räume, welche von an ansteckenden Krankheiten Leidenden bewohnt
waren, oder in denen die Leichen solcher Kranken gestanden, sind sehr gründ¬
lich zu desinficiren. Entwickelung von Chlorgas durch Uebergiessen von Chlor¬
kalk mit verdünnter Schwefelsäure oder Salzsäure, Scheuern des Fussbodens
mit Chlorkalklösung (1:50), Tünchen der Wände mit Kalkmilch, der man l / M
Carbolsäure zusetzt, endlich Ausschwefelung, falls die Mobilien dieselbe ertragen,
sind die wirksamsten Mittel. Eignen sich die Zimmer nicht zur Anwendung
dieser Mittel, so verdampfe man wiederholt etwas reine Carbolsäure in ihnen
durch Auftropfen von 20 bis 30 Tropfen auf ein heisses Eisen. Nach der An¬
wendung der Desinfektionsmittel, wobei die Räume während 12 Stunden
geschlossen zu halten sind, muss immer reichliche Lüftung der Zimmer während
einer Woche folgen. Letzteres ist dringend zn empfehlen.
Bemerkung. Carbolsäure kommt von sehr verschiedenem Gehalt an
wirksamen Bestandtheilen im Handel vor; man wähle nicht die billigste, min¬
destens eine solche mit einem Gehalt von 50Proc., nnd für weisse Wäsche
sowie zum Räuchern der Zimmer nur reine. Carbolstreupulver oder Desinfections-
pulver ist ein Gemenge von Carbolsäure mit erdigen Theilen von 8 bis 4 Proc.
Säure. Diese Mischung eignet sich auch zur Verwendung für Wasserclosets.
Bremen, den 19. Juli 1884.
Der Gesundheitsrath.
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Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe.
187
n. Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe.
Kunstwein«
Auflösung des Vertragsverhältnisses wegen Gesundheitsschädlich-
keit verkauften Kunstweines.
Aus den Entscheidungsgründen: „Wenn seitens des Klägers in der
Berufungsinstanz besonders geltend gemacht wird, nach dem neuerdings von
dem Kläger erhobenen chemischen Gutachten des Dr. F. sei der fragliche Wein
nicht als Kaufmannsgut anzusehen, und als gesundheitsschädliches Getränk im
Sinne des §. 12 des Reichsgesetzes vom 14. Mai 1879 zu betrachten, so dass aus
diesem Grunde die Auflösung des Vertrages erfolgen müsse, so ist doch damit
der rechtliche Standpunkt nicht verlassen; denn auch in diesen Fällen würde
Kläger seines Rechts auf Vertragsauflösung verlustig sein, wenn er bei dem
Vertragsabschlüsse wusste, dass der Wein mit Kartoffelzucker versetzt sei; weil
^r damit wissentlich eine Waare gekauft hätte, die nicht Kaufmannsgut war
und die, sofern die Versetzung des Weines mit Kartoffelzucker stets als gesund¬
heitsschädlich im Sinne des Reichsgesetzes zu betrachten ist, auch gesundheits¬
schädlich war. Kläger hätte also in diesem Falle nach dem civilrechtlich allge¬
mein geltenden Grundsätze: „dem Wollenden geschieht kein Unrecht“ (Volenti
non fit injuria) keine Rechtsverletzung durch die Beklagten erlitten und es
würde ihm also jedes Klagerecht abzusprechen sein. — Wollte man aber auch
annehmen, dass eine Versetzung des Weines mit Kartoffelzucker im Sinne des
Reichsgesetzes nicht unbedingt als gesundheitsschädlich zu betrachten sei, die
Gesundheitsschädlichkeit vielmehr erst dann bestehe, wenn die verkaufte Waare
nur ein aus Trestern, Wasser und Kartoffelzucker bereitetes Getränk sei, so
dass also die Kenntniss des Klägers von dem Kartoffelzusatze keinen der auf
das Reichsgesetz gestützten Auflösungsanspruch beseitigenden Einwand enthalte,
so würde doch auch dieses im vorliegenden Falle nicht mehr releviren. Es
würde nämlich diese klägerische Behauptung von der Qualität der Waare so¬
wohl mit dem Inhalte, als auch mit dem klägerischerseits selbst erhobenen und
übergebenen auf dieselbe chemische Untersuchung basirten früheren Gutachten
des Dr. F. im Widerspruche stehen, da in beiden nur von Wein die Rede ist,
der nur einen sehr bedeutenden Kartoffelzusatz enthalte. Dazu kommt, dass
die Richtigkeit dieser klägerischen Behauptung selbst durch die angebotene
Beweisführung nicht mehr festgestellt werden könnte, weil der fragliche Wein
bereits seit über anderthalb Jahren an den Kläger abgeliefert wurde und dessen
Qualitätszustand unter allen Umständen in Folge davon, dass er, wie nothwen-
dig, mit anderem Weine aufgefüllt wurde, dessen Qualität unter den vorliegen¬
den Verhältnissen jedenfalls eine zweifelhafte bleibt, oder dass dieses nothwen-
dige Ausfüllen unterlassen wurde, nicht mehr derselbe wie zur Zeit des
Vertragsabschlusses sein kann. Es ist aber auf die in dieser Beziehung bean¬
tragte weitere Beweisaufnahme um so weniger jetzt noch einzugehen, als der
Umstand, dass Kläger 1277 Liter von den erkauften 4174 Litern weiter verkaufte
und nicht erwähnte, dass diese, die doch auch als Wein, bezüglich Traubenwein,
und nicht als ein im Sinne des Reichsgesetzes beanstandetes Getränk verkauft
wurden, von den Käufern in irgend einer Weise beanstandet worden wäre, da¬
für spricht, dass das hier vom Beklagten verkaufte Getränk nur das war, was
Kläger selbst in der Klage angegeben hat, also ein Wein, der mit Kartoffel¬
zucker versetzt war.“ (Erkenntniss des Oberlandesgerichts zu Darmstadt vom
11. November 1883; Dr. Puch eit, Zeitschr. f. d. Franz. Civilrecht Bd. XV,
8. 495 ff.)
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188
Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe.
Weinfälsch un g.
Aus den Entscheidungsgründen: „Soweit es sich um die Anwendung des
Strafgesetzes handelt, erscheint die Revision als nicht gerechtfertigt. In dem
angefochtenen Urtheil ist festgestellt, dass die 108 Liter Flüssigkeit, welche am
.15. April 188S aus dem Geschäfte des Angeklagten dem Wirth N. geschickt
wurden, als gefälschter Wein im Sinne des §. 10 Nr. 1 und 2 des Reichsgesetzes
vom 14. Mai 1879 anzusehen sind und dass die Annahme ausgeschlossen ist,
diesem Wirth sei Naturwein zugeschickt worden, welchen er selbst verfälscht
habe. Es wurde vielmehr als erwiesen angesehen, der Wein sei im Geschäft
des Angeklagten verfälscht worden. Die Strafkammer hat zwar angenommen,
der Angeklagte sei zur Zeit, als der Wein verschickt wurde, abwesend gewesen,
hat aber weiter festgestellt, dass die Leute des Angeklagten den in zwei im Keller
befindlichen Fässern enthaltenen sauren Wein mit dem in einem anderen Fasse
Vorgefundenen halbfertigen Kunstwein verschnitten, und dass sie bei diesem
Verfahren, insbesondere bei der Absendung des gefälschten Weines dem be¬
stehenden GeschäftBgebrauch gemäss, sohin mit Zustimmung des Angeklagten
und auf dessen Geheiss und Anordnung handelten. Damit soll offenbar gesagt
sein, der Angeklagte habe seine Leute beauftragt, wenn in seiner Abwesenheit
Wein bestellt werde, eine solche Mischung vorzunehmen und dieselbe an den
Besteller abzuschicken. Auf Grund dieser Feststellung konnte aber die Straf¬
kammer ohne Rechtsirrthum annehmen, dass der Angeklagte wissentlich ein
verfälschtes Genussmittel verkauft habe. Ob ein Weinhändler, wenn bei ihm
Wein bestellt wird, seine Leute beauftragt, diesen Wein aus einem bestimmten
Fass zu entnehmen, das, wie ihm bekannt ist, Kunstwein enthält, oder, ob er,
wenn er auf einige Zeit verreist, den Auftrag hinterlässt, für den Fall einer Be¬
stellung von bestimmtem Inhalt in dieser Weise zu verfahren, hat rechtlich die¬
selbe Bedeutung. Der Angeklagte macht zwar weiter noch geltend, es sei nicht
festgestellt, dass er den in Frage stehenden Wein unter Verschweigung des Um¬
standes verkauft habe, dass derselbe verfälscht, bezw. Kunstwein sei. Aber auch
diese Rüge kann die Revision nicht rechtfertigen. Es ist zwar in den Gründen
nicht ausdrücklich festgestellt, dass der Angeklagte die Eigenschaft des Weines
als Kunstwein verschwiegen habe; aber dieselben lassen doch deutlich erkennen,
dass die Strafkammer es als erwiesen ansah, der Wein sei als Naturwein ver¬
kauft worden. Zudem wurde der Angeklagte ausdrücklich für überführt erklärt,
„108 Liter Wein, welche verfälscht waren, wissentlich unter Ver¬
schweigung dieses Umstandes verkauft zu haben“. Unter diesen Um¬
ständen ist die Verschweigung der Fälschung in hinreichender Weise festgestellt
und der Thatbestand des in Frage stehenden Vergehens erschöpft. Demgemäss
war das Rechtsmittel zu verwerfen.“ (Erkenntniss des I. Strafsenats des Reichs¬
gerichts vom 19, Januar 1884; Dr. Puohelt und Duy, Juristische Zeitschrift f.
Elsass-Lothr. Bd IX, S. 111 ff.)
Getränkererfälschung.
§. 367 Nr. 7 ist durch §. 10 Nr. 2 und §. 11 des Reichsgesetzes, betr.
den Verkehr mit Nahrungsmitteln etc. vom 14. Mai 1879 nicht
aufgehoben.
Der Angeklagte ist in der Berufungsinstanz auf Grund der Feststellung, dass
er am 2. November 1882 in einem Destillationsgeschäft sogenannten „Ver-
schnittrum“, d. h. eine zu y 4 aus echtem Jamaicarum und zu a / 4 aus Wein-
Bprit bestehende Flüssigkeit, welche als ein verfälschtes Getränk anzusehen sei,
durch seine von ihm hierzu mit ausdrücklichem Aufträge versehene Ehefrau
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Entscheidungen deutscher Gerichtshöfe. 189
feilgehalten und verkauft habe, wegen Uebertretung des §. 367 Nr. 7 des Reichs’
Strafgesetzbuches mit Geldstrafe belegt worden. Die Anwendung der Straf¬
bestimmung in §. 10 Nr. 2 des Reichsgesetzes vom 14. Mai 1879 ist desshalb
unterblieben, weil nicht für erwiesen angesehen worden ist, dass der Angeklagte
bei dem Verkaufe des Schnittrums dessen Verfälschung verschwiegen oder den¬
selben unter einer zur Täuschung geeigneten Bezeichnung feil gehalten habe.—
Die Revision des Angeklagten rügt nun unrichtige Anwendung des §. 367 Nr. 7 des
Reichsstrafgesetzbuches, indem die Anwendbarkeit dieses Strafgesetzes durch die
Bestimmungen des angezogenen Reichsgesetzes vom 14. Mai 1879 ausgeschlossen
werde. Die vorige Instanz hat sich zur Rechtfertigung ihrer Ansicht, dass die
gedachte Vorschrift des Reichsstrafgesetzbuches nicht durch §. 10 des genann¬
ten Reichsgesetzes für aufgehoben zu erachten sei, auf verschiedene Vorent¬
scheidungen des Reichsgerichts bezogen und das Oberlandesgericht ist nicht in
der Lage, diesen Ausführungen des Reichsgerichts, insoweit dieselben auf die
rechtliche Beurtheilung des vorliegenden Straffalles von Einfluss sind, entgegen¬
zutreten; denn Inhalt und Zweck des nur angezogenen Gesetzes setzen ausser
Zweifel,, dass durch dasselbe die bei dessen Erlass bezüglich der Verfälschung
von Nahrungs- und Genussmitteln bereits bestehenden strafrechtlichen Bestim¬
mungen keineswegs aufgehoben oder beschränkt, sondern ergänzt und verschärft
worden sind. Die Bestimmungen im §. 10 Nr. 2 und §.11 des Reichsgesetzes
vom 14. Mai 1879 unterscheiden sich von der Vorschrift im §. 367 Nr. 7 des Reichs¬
strafgesetzbuches hauptsächlich darin, dass sie a) das dolose Delict von dem
fahrlässigen trennen und ein jedes mit besonderen Strafen bedrohen; sowie
b) die nach §. 367 des Reichsstrafgesetzbuches gleich werthigen Thatbestandesmerk-
male des Feilhaltens oder Verkaufe ns verdorbener oder verfälschter Nah¬
rungsmittel insofern einschränken, als einem jeden derselben ein besonderes
Erschwerungsmoment hinzugefügt wird und zwar dem Verkaufe: die Ver¬
schweigung des Verderbnisses oder der Verfälschung und dem Feilhalten:
eine zur Täuschung geeignete Bezeichnung. Mit Rücksicht auf die
Verschiedenheit des Inhalts beider Gesetze kann aber nicht behauptet werden,
dass der Thatbestand des §. 367 Nr. 7 des Reichsstrafgesetzbuches in dem That-
bestande des §. 10 Nr. 2 verbunden mit §. 11 des Reichsgesetzes vom
14. Mai 1879 aufgehe. Denn wie ein Feilhalten verdorbener oder verfälschter
Nahrungsmittel auch ohne den Gebrauch einer zur Täuschung geeigneten
Bezeichung Vorkommen kann, so ist auch dem Vertheidiger nicht darin bei¬
zupflichten, dass der Thatbestand des §. 367 Nr. 7 des Reichsstrafgesetzbuches,
insoweit derselbe durch den Verkauf verfälschter Nahrungsmittel begründet,
die Verschweigung der Verfälschung zur stillschweigenden Voraussetzung
habe. Vielmehr enthält die Strafvorschrift in §. 367 Nr. 7 des Reichsstrafgesetz¬
buches ein präventives, zur Verhütung der Möglichkeit einer Täuschung
gegebenes Polizeigesetz, wodurch überhaupt dem vorgebeugt werden soll, dass
verdorbene oder verfälschte Nahrungsmittel in den öffentlichen Verkehr gelangen,
weil dadurch die Gefahr vervielfältigt wird, dass Besitzer derselben Personen
werden, welche derartige Nahrungsmittel aus Unkenntniss ihres verdorbenen
oder verfälschten Zustandes erwerben und gemessen, wesshalb auch die An¬
wendung des §. 367 Nr. 7 dadurch, dass der Käufer den verdorbenen oder ver¬
fälschten Zustand der verdorbenen Waare gekannt und dennoch gewollt hat,
nicht ausgeschlossen wird. Wollte man aber selbst dem §. 367 Nr. 7 eine so
weitgehende Bedeutung nicht beilegen und insbesondere Straflosigkeit dann
annehmen, wenn verdorbene oder verfälschte Nahrungsmittel unter der Eröff¬
nung, dass sie verdorben oder verfälscht seien, feilgehalten oder verkauft werden,
so folgt doch daraus, dass eine Verschweigung der Verfälschung nicht statt¬
gefunden hat, noch nicht ohne Weiteres, dass die Verfälschung ausdrücklich
kundgegeben worden ist. Im vorliegenden Falle wurde zwar für erwiesen
angesehen, dass auf den im Verkaufslocale des Angeklagten aufgestellten
Fässern und Flaschen, worin er den von ihm bereiteten Verschnittrum auf-
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190 Kleinere Mittheilungen.
bewahrte, eine Etikette mit dem Worte „Verschnittrum“ angebracht, auch in
seinem Verkaufslocale ein allen daselbst Verkehrenden deutlich sichtbares
Placat ausgehängt gewesen sei, auf welchem mit grossen Lettern die wesentlich
verschiedenen Preise des echten und des billigen sogenannten Verschnittrums
au lesen waren. Allein auf Grund dieser Feststellung hat die vorige Instanz
nur angenommen, dass der Angeklagte die Verfälschung des Verschnittrums
nicht verschwiegen, nicht aber, dass er dieselbe in deutlicher und allen Käufern
erkennbarer Weise kundgegeben habe. Endlich kann auch dem Vertheidiger
nicht zugegeben werden, dass dem Angeklagten das Feilhalten und Verkaufen
des fraglichen Verschnittrums erlaubt gewesen sei, weil das gewerbsmässige
Verkaufen und Feilhalten solchen Verschnittrums nicht gemäss §. 5 Nr. 2 des
Reichsgesetzes vom 14. Mai 1879 verboten worden sei. Denn durch die letztere
Vorschrift soll, wie aus den Worten: „zum Schutze der Gesundheit“ deut¬
lich hervorgeht, nur einem gesundheitswidrigen Gewerbebetriebe entgegen¬
getreten werden, während durch Feilhalten und Verkauf gefälschter Nahrungs¬
mittel, auch wenn sie nicht gerade gesundheitsschädlich sind, immer noch
das wirtschaftliche Interesse des kaufenden Publicums geschädigt wird.
Unrichtige Gesetzesanwendung kann daher dem angefochtenen Urtheile nicht
zum Vorwurfe gemacht werden.“ (ErkenntnisB des königl. sächsischen Ober¬
landesgerichtes zu Dresden vom 25. April 1884; Klemm und Lamm, Annalen
Bd. V, S. 419 ff.)
Kleinere Mittheilungen.
Von der Zeitschrift des königlich prenssischen statistischen BOreaus
(Herausgegeben von dessen Director, Geheimen Regierungsrath E. Blenck) ist
soeben der XXIV. Jahrgang (1884) abgeschlossen und in einem stattlichen Bande
mit mehreren graphischen beziehungsweise kartographischen Darstellungen
ausgegeben worden. Aus dem reichen Inhalt sei hier als von specieller
hygienischem Interesse erwähnt: Die Lebens- und die Feuerversicherung in
Preussen in den Jahren 1881 und 1882 und die Ergebnisse der deutschen Ver¬
sicherungsanstalten im Jahre 1882 mit Rückblicken auf frühere Jahre (von
H. Brämer). — Die Geburten, Eheschliessungen und Sterbefalle bei der Civil-
und Militärbevölkerung des prenssischen Staates im Jahre 1883. — Grösste
Niederschlagsmengen in Deutschland, mit besonderer Berücksichtigung Nord¬
deutschlands (von Dr. G. Hellmann). — Die Entwickelung der communalen
Wohnungsstatistik und ihre Ergebnisse (von M. Hovet). — Wirkliche und
Mittelpreise der wichtigsten Lebensmittel für Menschen und Thiere in den
bedeutendsten Marktorten der preussischen Monarchie während des Kalender¬
jahres 1883 beziehungsweise des Erntejahres 1882 — 83. Auf Grund der Markt¬
berichte von 165 preussischen Marktorten bearbeitet vom königlichen statisti¬
schen Büreau etc.
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Kleinere Mittheilungen. 191
Yerb altuiiggmaassregeln bei Kinderkrankheiten für MOtter und Kranken¬
pfleger betitelt sich ein auf Veranlassung des ärztlichen Leiters der Leipziger
Poliklinik, Dr. Fürst, von Denicke’s Verlag in Leipzig herausgegebenes und in
der dortigen Kinderpoliklinik eingeführtes Schriftchen, das aus sieben losen,
auch einzeln erhältlichen Octavblättera ] ) besteht, die in allgemein verständlicher
Form die wichtigsten Verhaltungsmaassregeln bei gewissen Krankheitsgruppen
des Kindesalters enthalten und zur Vertheilung an die Mütter kranker Kinder
auf der Leipziger Poliklinik bestimmt sind, um ihnen die sonst nur mündlich
gegebenen Verhaltungsmaassregeln dauernder einzuprägen.
Nr. 1 bespricht das Verhalten der Kinder bei Scrophulose, vor
Allem die zweckmässigste Ernährung, wobei genau angegeben wird, was den
Kindern zu essen und zu trinken erlaubt, was verboten wird, ferner den mög¬
lichst reichlichen Aufenthalt in frischer, reiner Luft, das Lüften der Zimmer,
Bäder und Waschungen, für grössere Kinder Turnen und Körperübungen und
dergleichen.
Nr. 2 behandelt in ähnlicher Weise das Verhalten bei Rhachitis, wobei
noch besonders auf die Beachtung der Knochen des Kindes hingewiesen und
vor jedem zu frühen Sitzen, Stehen und Gehen der Kinder gewarnt wird.
Nr. 8 handelt von dem Verhalten bei Krankheiten der Athmungs-
organe, giebt hier alle erforderlichen Maassregeln bei Husten [in Bezug auf
Zimmer- oder Bettaufenthalt, Ausgehen und die einfachsten Mittel, warnt vor
allen sogenannten Hausmitteln und vor der weitverbreiteten Meinung, der
Husten komme vom „Zahnen“ und bedürfe keiner ärztlichen Behandlung.
In Nr. 4 wird das Verhalten bei Nervenkrankheiten besprochen, bei
denen neben dem „Zahnen“ auch die „Würmer“ eine Rolle spielen und die
Eltern abhalten bei Zeiten ärztliche Hülfe zu suchen, die hier gerade am
Anfang der Erkrankung besonders wichtig sein kann; auch werden in Bezug
auf kalte Umschläge, Eisblase, Uebergiessungen, Ableitungen etc. die zweck¬
mässigen Maassnahmen geschildert.
Nr. 5 bespricht das Verhalten bei Brechen, Diarrhoe und sonstigen
Verdauungsleiden und giebt hier eine grosse Reihe von diätetischen Vor¬
schriften, bei denen die Milch natürlich die wichtigste Rolle spielt.
Nr. 6 handelt von dem Verhalten bei fieberhaften Krankheiten
und giebt den Müttern sehr genaue und zweckentsprechende Belehrung über
die Erkennung von Fieber bei einem Kinde, über die verschiedenen Arten der
Anwendung des Thermometers (wobei besonders das Pa ulke* sehe Universal¬
thermometer, das Stuben-, Bad- und Krankenthermometer zugleich ist, empfohlen
wird) und über die Bedeutung der gefundenen Wärmegrade; ferner werden die
kühlen Waschungen und Einwickelungen, kalte Umschläge, abkühlende Bäder,
das leichte Zudecken im Bett und manches andere Wissenswerthe genau
geschildert.
Nr. 7 endlich giebt Verhaltungsmaassregeln für die Impflinge und
bezeichnet das Verhalten nach dem Impfen, wobei mit Recht das Hauptgewicht
auf die Reinlichkeit gelegt wird.
Die verschiedenen Blätter können in den Händen von Müttern und Kinder¬
pflegerinnen von grossem Nutzen sein, sie können viel Vorurtheil beseitigen
und Vernünftiges und Zweckmässiges an dessen Stelle setzen und wäre es zu
wünschen, dass diese oder ähnlich einfache, allgemein verständliche Verhaltungs¬
maassregeln in allen Kinderpolikliniken und überhaupt in der Kinderpraxis zur
Verwendung kämen, da im Allgemeinen viel mehr durch Unwissenheit, als durch
Mangel an gutem Willen geschadet wird. £.
1 ) Der Preis der sieben Blätter beträgt 50 Pf. Die einzelnen Nummern werden auch
apart abgegeben und zwar 10 Expl. für 40 Pf.; 25 Expl. für 80 Pf.; 50 Expl. für 1 M.
30 Pf.; 100 Expl. für 2 M. (auch gemischt).
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192
Kleinere Mittheilungen.
Noch einmal Cibils« In Band XVI, Seite 543 dieser Vierteljahrsschrift ist
unter der Ueberschrift: Was ist Cibils? die Vermuthung ausgesprochen,
dasselbe sei möglicherweise ans Pferdefleisch dargestellt, da die verschiedenen
chemischen Reactionen von denen der bisher gebräuchlichen Fleischextracte
nieht unwesentlich abweichen und manche Aehnlichkeiten mit Liebig’s
Beschreibung der Pferdefleischbrühe ergaben; zudem war über Ursprung und
Herstellung des Präparates auf den Flaschen und den Gebrauchsanweisungen
nicht das Geringste erwähnt, namentlich nirgends gesagt, dass es von Ochsen¬
fleisch bereitet sei.
Nach näheren Informationen hat sich diese Vermuthung unseres geschätzten
Mitarbeiters nicht bestätigt. Es sind in Folge jenes Artikels der Redaction
glaubwürdige Beweise vorgelegt worden, dass das Präparat in Uruguay (La Plata)
aus dem Fleisch der dort in ungeheuren Herden wild weidenden Ochsen in
der Weise dargestellt wird, dass das Fleisch zerkleinert und in kaltem Zustande mit
reiner Salzsäure extrahirt und dann mit kohlensaurem Natron neutralisirt wird,
wodurch das Präparat ganz frei von Leim und sehr reich an Eiweiss ist, welches
durch das Neutralismen in zarter Form ausgeschieden wird, wesshalb es nöthig
ist, den Extract vor dem Gebrauch leicht aufzuschütteln.
Das Extract besteht nach der Analyse des Chemikers Herrn Dr. C. Rüger
in Berlin 1) aus einer Lösung von Nährsalzen, Eiweiss und Creatin (60*96 Proc.),
2) aus einer gelatinirten, resp. coagulirten Eiweissflüssigkeit, welche sich absetzt
und mit Fett emulsirt ist (36*30 Proc.) und 3) aus fein zertheilten Fragmenten
unter dem Mikroskop leicht erkennbarer Muskelfleischfasern (2*74 Proc.).
Seine chemische Zusammensetzung ist nach den beiden übereinstimmenden
Analysen des Herrn Professors Dr. A. Hilger in Erlangen und des Herrn
Dr. C. Rüger in Berlin:
Dr. Hilger Dr. Rüger
Speciflsches Gewicht.1*21 Proc.
Trockenrückstand. 36*04 „
Mineralische Bestandteile (Asche) . . . 19*44 „
Organische Bestandteile.16*00 „
Fett.0*37 „
Stickstoff als lösliche Eiweissstoffe . . . 210 „
Chlor als Kochsalz und Chlorkalium . . . 9*36 „
1*21 Proc.
35*44 „
19*43 „
16*01 n
0-38 „
2*10 „
9*36 w
Redaction.
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Der fünfte internationale Congress für Hygiene
und Demographie
Yom 21. bis 27. August 1884
im Haag.
Berichte von Dr. R. Blasius (Braunschweig), Dr. G. Custer (Rheineck)
und Dr. R. Böckh (Berlin).
Der fünfte internationale hygienische Congress hatte nach den beiden
erschienenen Mitgliederlisten 324 Theilnehmer. Nach den verschiedenen
Ländern vertheilten sich dieselben folgendermaassen:
141 Holländer (85 aus
dem Haag),
70 Franzosen,
30 Spanier,
19 Belgier,
14 Deutsche,
10 Schweizer,
9 Engländer,
8 Nordamerikaner,
5 Russen,
4 Italiener,
3 Portugiesen,
2 Oesterreicher,
2 Serben,
2 Egypter,
1 Rumäne,
1 Bulgare,
1 Türke,
1 Japanese,
1 Südamerikaner.
Nächst den Holländern und speciell den Bewohnern des Haag waren
die Franzosen, wie vor zwei Jahren in Genf, in überwiegender Anzahl ver¬
treten. Von unmittelbaren Nachbaren der Niederlande waren die Belgier
verhältnissmässig zahlreich erschienen, während Deutschland noch schwächer
der Zahl nach vertreten war, als auf dem letzten Congress in Genf, wo
wenigstens 23 Theilnehmer aus deutschen Landen verzeichnet waren. Auf¬
fallend gering war auch die Zahl der Engländer, während die Vereinigten
Staaten von Nordamerika ein verhältnissmässig grosses Contingent gestellt
hatten. Spanien hatte eine auffallend grosse Zahl von Hygienikern gesandt,
vielleicht in alter Erinnerung an den früheren politischen Zusammenhang
beider Staaten. Italien war sehr schwach vertreten, wahrscheinlich, da die
meisten Hygieniker durch die drohende Choleraepidemie in ihrer Heimath
zurückgehalten waren. Egypten hatte ebenso viele Vertreter entsandt, als
der mächtige Kaiserstaat Oesterreich-Ungarn. Die nordischen Staaten
Europas waren nur durch Russland vertreten, Dänemark, Schweden und
Norwegen fehlten gänzlich, offenbar in Folge des kurz vorher in Kopen¬
hagen stattgefundenen internationalen medicinischen Congresses, der ja auch
seine Section für Hygiene hatte.
Vierteljahnschrift für Gesundheitspflege, 1886 . 13
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194 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag
Wie vom Genfer Congreaae, kann man daher auch von dem Haager
Congreaae sagen, dass er nicht vollkommen den wünachenawerthen inter¬
nationalen Charakter trug. Wenn wir wirklich wiaaenachaftlichen Vortheil
von einem internationalen Congresae haben sollen, so darf nicht eine Nation
in so auffallender Weise dominiren und fast nur in einer Sprache die
Verhandlung geführt werden. Es war gewiss sehr anzuerkennen, dass
die Holländer auf ihre eigene Sprache gänzlich verzichtet hatten und fast
immer sich der französischen Sprache bedienten — immerhin bekam dadurch
der Congress aber einen etwas einseitigen französischen Charakter, was
gerade dem Gegenstände, mit dem er sich beschäftigte, in keiner Weise
entsprach, da gerade im jetzigen Augenblicke die deutschen Hygieniker
gewiss mit in den ersten Reiben der öffentlichen Gesundheitspflege hervor¬
treten.
Im Artikel 8 des Reglements des fünften internationalen hygienischen
Congresses heisst es: „Wenn auch die französische Sprache diejenige ist,
in der die Verhandlungen geführt werden, so können die Mitglieder auch
in jeder anderen Sprache sich ausdrücken; wenn es gewünscht wird, so
können die Mittheilungen dann in französischer Sprache kurz wieder¬
gegeben werden.“ Derartige Bestimmungen dürften besser für einen
folgenden Congress fortbleiben. Ein Nutzen internationaler Congresse wird
erst dann vollkommen erreicht werden, wenn die Mitglieder, wie dies schon
in dem Berichte über den vierten internationalen hygienischen Congress in
dieser Zeitschrift (siehe Jahrgang 1883, S. 193) hervorgehoben ist, sich
in französischer, englischer und deutscher Sprache aus¬
drücken und sich auch gegenseitig darin verstehen. Wenn
ein Redner nicht seine eigene Sprache spricht, wird es ihm schwer werden,
so, wie er möchte, seine innersten Gedanken wiederzugeben — Ueber-
setzungen, und wenn Bie noch so gut gemacht werden, sind immer nur ein
sehr ungenügender Ersatz und wenn sie nun gar, wie das wohl im Haag
geschah, Satz für Satz gegeben werden und der Vortragende dadurch
immer unterbrochen wird, so schaden sie dem ganzen Eindrücke der Rede
auf das Entschiedenste.
Die Wissenschaft ist international, von irgend welchen nationalen
Eigentümlichkeiten muss daher auch bei einer derartigen wissenschaft¬
lichen Zusammenkunft abstrahirt werden. Jeder hat die Literatur und
die Forschungen fremder Länder gebührend zu berücksichtigen und ein
Ignoriren von wissenschaftlichen Resultaten, die von Forschern anderer,
vielleicht nicht befreundeter, Nationen erlangt sind, ist nicht zu billigen.
Dass die letzten internationalen hygienischen Congresse einen so ein¬
seitigen Charakter getragen haben, ist aber mit unsere eigene Schuld. Wenn
nicht mehr als 14 Deutsche sich an einem Congresse eines benachbarten
stammverwandten Landes betheiligen, so muss man sich nicht wundern,
dass sie nicht im Stande sind, den französischen Anstrich der Versammlung
irgendwie zu beeinflussen. Es ist daher dringend wünschenswerth, auf
dem nächsten Congresse in grösserer Anzahl aufzutreten.
Der Congress war von dem Organisationscomit4, speciell von dem
Generalsecretär Dr. van Overbeek de Meijer, Professor der Hygiene in
Utrecht, vortrefflich vorbereitet. Ein reiches Material lag den einzelnen
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195
vom 21. bis 27. August 1884.
Sectionen vor, Referenten waren für viele Fragen vorher bestellt, manche
Fragen mussten wegen Zeitmangel noch unerledigt bleiben und auf einen
nächsten Congress verschoben werden.
Die Leitung des Congresses, speciell der allgemeinen Versammlung,
lag in den Händen eines Juristen, des Dr. jur. W. H. da Beaufort, der
sich seines Amtes mit ausserordentlicher französischer Gewandtheit entledigte.
Die allgemeinen Sitzungen fanden in einem grossen Saale in der „Diligentia“
statt, die Sectionssitzungen theils in demselben Raume, theils in dem
prächtig eingerichteten Sitzungssaale der ersten Kammer der General Staaten.
Beide Gebäude sind nur wenige Minuten von einander entfernt, so dass der
Besuch der Versammlungen den Theilnehmern sehr bequem gemacht war.
Von der Bevölkerung des Haags wurden die Congressmitglieder in der
liebenswürdigsten Weise empfangen. In dem grossen Saale des Palais des
arts et des Sciences fand am ersten Abend ein festlicher und herzlicher
Empfang Seitens der städtischen Behörden statt. Der Bürgermeister der
Stadt, Dr. jur. J. G. Patijn, gab den freudigen Gefühlen seiner Mitbürger,
den Congress in ihren Mauern tagen zu sehen, in beredtester Weise Aus¬
druck. Die zoologisch - botanische Gesellschaft hatte den Congress zum
Abendconcert im Jardin d } acclimatisation eingeladen, ebenso der Cercle litte -
raire nach seinem Pavillon im „Bosch“. Das Organisations- und Receptions-
comite hatte ein schönes Fest im Kurhause in Schevenin gen arrangirt und
der Graf C. J. E. van Bylandt den ganzen Congress zu einem zauberhaft
grossartigen Feste nach seinem Schlosse Arendsdorp eingeladen, das leider
etwas durch die Ungunst der Witterung litt. Der in die Congresstage
fallende Sonntag wurde durch eine überaus gelungene Fahrt nach Rot¬
terdam und Dordrecht ausgefüllt. Die Rheinische Eisenbahngesellschafb
hatte die Extrazüge nach Rotterdam und zurück angeboten, in Rotter¬
dam selbst wurden die Congressmitglieder in der zuvorkommendsten
Weise von den dortigen städtischen Behörden empfangen und dann zu den
grossartigen Hafen- und Schiffbauanlagen geführt. Später nahm ein reich¬
geschmücktes Dampfschiff sie auf und führte sie, erfrischt durch würzige
Speise und Trank, nach Dordrecht und der grossartigen Eisenbahnbrücke
bei Moerdijk. Der ungezwungenste Verkehr von Männern der verschieden¬
sten Nationalitäten entwickelte sich am Bord des Schiffes und einer der
Hauptvortheile internationaler Congresse, der persönliche Verkehr bis dahin
sich fremd gegenüberstehender Forscher, wurde Jedem geboten, der ihn
wünschte.
Der Präsident und die Vicepräsidenten des Organisationscomites hatten
die Delegirten der verschiedenen Staaten zu einer Soiräe und einem Diner
vereinigt. Auch in Privatkreisen zeigte sich einzelnen Congressmitgliedern
gegenüber die grösste Gastfreiheit. Manche Freundschaft wurde im ge¬
selligen Verkehr geschlossen, immer wieder hörte man aus dem Munde der
holländischen Collegen die volle Anerkennung der grossartigen neueren
Leistungen der deutschen Wissenschaft und gewiss den meisten unserer
Landsleute ist der dringende Wunsch ins Herz eingeprägt, bald auch in
unserem engeren Vaterlande die Hygieniker aller Länder gastlich zu gemein¬
samen Arbeiten begrüssen zu können. Blasius.
13*
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19G Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Allgemeine Sitzungen.
Berichterstatter: Br. R. Blasius.
, Erste Sitzung.
Donnerstag, den 2 1. August.
Wie üblich, war die erste Sitzung der feierlichen Eröffnung und den
Begrüssungsreden der Delegirten fremder Länder gewidmet. In Gegenwart
der diplomatischen Vertreter von Spanien, Belgien, Italien, Nordamerika,
Frankreich und Deutschland begrüsste der Präsident des Organisations-
comites, Dr. de Beaufort, die ansehnliche Versammlung, indem er
zunächst dem tiefen Bedauern Ausdruck gab, dass der ursprünglich zum Prä¬
sidenten deßignirte frühere Minister der Niederlande, Ritter G. J. G. Klerck,
am 18. Januar dieses Jahres im Haag verstorben sei. Redner sprach dann
vou der tiefen Trauer, die das ganze Land ergriffen habe durch den Tod
des letzten Sohnes deB Königs und die grössere officielle Festlichkeiten
verbiete. Der Haag, fuhr er fort, biete, wenn auch keine grosse Weltstadt,
so doch viel des Schönen an Kunst und eigne sich vortrefflich zu wissen¬
schaftlichen Vereinigungen; die das öffentliche Wohl zum Gegenstaude
ihrer Berathungen hätten, die Bevölkerung werde den Verhandlungen des
Congresses mit grosser Aufmerksamkeit folgen und besonderen Werth auf
die Beschlüsse und Resultate derselben legen. Was die speciellen Auf¬
gaben des Congresses anbetreffe, so habe er die wissenschaftlichen Resultate
der hygienischen Forschungen festzustellen, damit der Staat auf deren
Grundlage seine Gesetze zum Schutze seiner Bürger beschliesse. Während
Bastiat früher auf die Frage, welche Dinge darf ein Mensch dem anderen
mit Gewalt auferlegen, die Antwort gegeben habe: „je rien ccnmais qu’une:
la justice u , vergass er, dass, was Recht ist in den Augen des Einen, Unrecht
ist für den Anderen, dass über den Begriff von Recht nicht immer Ein¬
stimmigkeit herrscht. Das Streben unserer jetzigen Zeit gehe dahin, die
Gesetzgebung auf die wissenschaftlichen Resultate der öffentlichen Gesund¬
heitspflege zu basiren, derartige Gesetze hätten die Förderung des Volkswohlea
zur Folge. Wenn man auch die persönliche Freiheit möglichst schützen
müsse, so dürfe man im Interesse des öffentlichen Wohles dem Einzelnen
gewiss gesetzliche Beschränkungen auferlegen. Die Zeiten hätten sich
geändert, während früher nach einem Dichterworte (Michael Montaigne)
„kein Arzt sich freute, wenn seine Freunde gesund sind tf , kämpfe und
arbeite der Arzt und Hygieniker jetzt für die Gesundheit des Einzelnen,
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. It. Blasius). 197
der Völker und damit der ganzen Menschheit. Znm Schlüsse wies der
Redner hin anf das den Plafond des Sitzungssaales der ersten Kammer
zierende Bild, das die Republik der vereinigten Niederlande darstellt anf
dem Gipfel ihrer Macht im 17. Jahrhundert, als die Bewohner aller Erd-
theile, ans den niederländischen Kolonien, nahen, um ihre Gaben als Zeichen
der Huldigung darzubringen. Jetzt sei diese sinnbildliche Darstellung zur
vollendeten Thatsache geworden, die Männer der Wissenschaft aus allen
Ländern seien hier versammelt, um zum Wohle der Gesamrotheit hier ihre
Berathungen abzuhalten. Mit dem Wunsche, dass die Resultate des Congresses
zum Wohle der Menschheit in hohem Grade gereichen möchten, erklärte
der Präsident deji Congress für eröffnet.
Der Generalsecretär des Organisationscomites, Prof, van Overbeek
de Meijer (Utrecht), gab zunächst einen Ueberblick über das, was in
Betreff des Congresses seit dem vierten internationalen Congresse in Genf
vorgefallen war und besprach das Entgegenkommen, das das Organisations-
coroite Seitens vieler Staaten, Comraunen und wissenschaftlichen Gesellschaf¬
ten gefunden habe, die traurigen Zwischenfälle durch den Tod des Prinzen
von Oranien und Ritter G. J. G. Klerck. Ara gefährlichsten für das Zu¬
standekommen des Congresses war die herannahende Cholera, man wandte
sich dieserhalb nach Paris und erhielt von dortigen Sanitätsbeamten den
Rath, bei der langsamen Verbreitung der Seuche und der anscheinenden
Localisirung in Toulon und Marseille, den Congress ruhig abzuhalten, auch
mit zu dem Zwecke, die nothwendigen Maassregeln gegen die Werterver¬
breitung der Cholera hier einer allgemeinen Besprechung zu unterziehen.
Auf Vorschlag von Rochard (Paris) wurde durch Acclamation das
Organisationscomitä zum definitiven Vorstande des Congresses gewählt.
Zu Ehrenpräsidenten wurden dann ernannt: Oakley und Billings
(Nordamerika), Bradel (Bulgarien), Brouardel, Rochard (Frankreich),
Caro (Spanien), Chaumont, Corfield (England), Corradi (Italien), Crocq
(Belgien), Eulenberg, Emmerich (Deutschland), Felix (Rumänien),
Haltenhof (Schweiz), Soyka (Oesterreich-Ungarn), Suzor (Russland),
There8opoli8 (Brasilien), Zoeros-Bey (Türkei), Bonders (Holland).
Zum Schlüsse sprachen Corradi von Pavia und Caro von Madrid
den Dank aus für den gastfreien Empfang in den Niederlanden und über¬
brachten die Grüsse von Italien und Spanien.
Zweite Sitzung.
Freitag, den 2 2. August.
Vorsitzender: Dr. de Beaufort (Haag).
Da Professor Pasteur (Paris) durch Krankheit verhindert war, seinen
angekündigten Vortrag über „die Abschwächung des Krankheitsgiftes u zu
halten, war Professor J. Rochard, Generalinspector des Marinesanitäts-
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198 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
dienstes in Frankreich, als Stellvertreter eingetreten. Er hielt einen Vor¬
trag über den
Geldwerth des mensoMiohen Lebens.
Nachdem der Redner die Arbeiten von Chadwick, Farr, Douglas-Galton,
James Paget (deutsche Arbeiten wurden nicht genannt 1) erwähnt, stellte
er folgende Thesen auf:
1. Jede Ausgabe für die öffentliche Gesundheitspflege ist eine Er¬
sparung.
2. Nichts verursacht mehr Unkosten als die Krankheit und der Tod.
3. Die Schädigung des menschlichen Lebens ist die schlimmste Beein¬
trächtigung der menschlichen Gesellschaft.
Abgesehen von dem intellectuellen Werthe hat das menschliche Leben
einen rein materiellen Werth, der z. B. speciell von den Versicherungs¬
gesellschaften berücksichtigt wird. Er variirt nach Alter, Geschlecht, Wohn¬
ort, socialer Stellung u. s. w. Der materielle Werth des menschlichen
Lebens steigt von der Geburt bis zur vollkommenen Körperausbildung,
erhält sich einige Zeit (35. bis 40. Jahr) und fällt dann bis zum Greisenalter
wieder. Er ist geringer bei den Frauen als bei den Männern, geringer
bei den Landbewohnern als bei den Städtern, geringer in den niederen
Volksclassen als bei den gebildeteren. Wenn man nach diesen allgemeinen
Grundsätzen die Bevölkerung Frankreichs eintheilt, so erhält man für den
Werth 8ämmtlicher Einwohner Frankreichs 41 321 236 656 Frcs., was bei
einer Einwohnerzahl von 37 672 048 pro Kopf einen Werth von 1097 Frcs.
bringen würde, eine Zahl, die jedenfalls nicht zu hoch gegriffen ist, wenn
man bedenkt, dass Chadwick 200 Pfd. St., Farr 159Pfd. St und die Ame¬
rikaner 3500 Dollars rechnen.
Hiernach repräsentirten die 858 237 Todesfälle, die Frankreich
1880 erlitt, wenn man die Beerdigungskosten mitrechnet, ca. 1 Million
Francs.
Um die Unkosten durch Krankheiten zu berechnen, erhält man
nach den offlciellen Listen der französischen Hospitäler für das Jahr 1880
462 257 Kranke, die mit 15 904 373 Krankheitstagen behandelt wurden.
Rechnet man 2 Frcs. für den Tag, so kosteten diese Kranken 31 808 756 Frcs.
Da 41 911 starben, so kann man auf 100 Kranke 9 Todesfälle im Durch¬
schnitt rechnen. Der Arbeitsverlust durch diese Kranken (2 Frcs. für den
Mann, 1 Frc. für die Frau) würde 22 087 419 Frcs. betragen, derGesammt-
verlust für die menschliche Gesellschaft 53 896 175 Frcs. Berechnet man
nun aus der Gesammtzahl der Todten und mit Berücksichtigung des Um¬
standes, dass 9 Todesfälle auf 100 Kranke kommen, die Zahl derjenigen,
die in ihren Wohnhäusern krank waren, und den Geldverlust, den sie der
Gesammtheit brachten, so erhält man für diese die Summe von 654524408 Frcs.
Nehmen wir den Geldverlust durch die Hospitalkranken hinzu, so verlor
Frankreich im Jahre 1880 im Ganzen durch Krankheit 708 450 583 Frcs.
Suramiren wir hierzu den Verlust durch Tod, so erhalten wir
1 649107 027 Frcs., die Frankreich durch Tod und Krankheit verlor, die
Hälfte seines Budgets.
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. R. Blasius). 199
Gelänge es durch hygienische Maassregeln, die Sterblichkeitsziffer nur
um Vio herabzusetzen, so würde Frankreich 165 Millionen jährlich sparen.
Möglich ist dies, da hauptsächlich die contagiösen Krankheiten ihre Opfer
fordern. Die Pest hat im 16. Jahrhundert in 53 Jahren 100 Millionen
Sr.hlachtopfer gefordert, im 14. Jahrhundert raffte der schwarze Tod in
4 Jahren 77 Millionen Menschen hin, in Genua 40 000, in Neapel 60 000,
in Venedig 70 000. Aussatz kommt nicht mehr vor, vor wenigen Jahren
gelang.es Loris Menzikoff durch einen dreifachen Cordon, den er um
die Krankheitsstätten zog, die sibirische Pest zu beschränken. Das
gelbe Fieber, das 1730 noch in Spanien wüthete, 1804 in Livorno und
zuletzt 1823 in Lissabon, kann, wenn wir uns durch Quarantänen nur sorg¬
fältig schützen, von uns ferngehalten werden. So gut, wie es gelungen
ist, die Pest, den Aussatz u. s. w. aus Europa zu beseitigen, müssen wir
auch die jetzt noch Tausende hinraffenden Infectionskrankheiten bekämpfen.
Die Cholera müssen wir uns durch gemeinsame Maassregeln nach einem
internationalen Sanitätscodex fernhalten, die fünf Invasionen, die Frank¬
reich vor der jetzigen letzten durchgemacht hat, haben 346 478 Opfer hin¬
gerafft, ganz Europa hat die Cholera bereits einen Schaden von 3 Millionen
Frcs. zugefügt. Die eruptiven Fieber kosten Europa jährlich mehr als
300 Millionen, von denen man durch passende sanitäre Maassregeln die
Hälfte sparen könnte. Die Pocken kosten Frankreich allein jährlich
7 387 000 Frcs., zehnmal mehr als es kosten würde, ein regelmässiges Impf¬
system einzurichten. Der Typhus ist die Geissei der europäischen Armeen.
Von 2 834 600 Soldaten, die 1884 in Europa unter den Waffen standen,
starben jährlich an Typhus 5669 (in Frankreich 337 auf 100 000, in
Italien 209, in Oesterreich 158, in Preussen 95, in England 31); rechnet
man den Werth eines 21jährigen Menschen zu 6000 Frcs., so giebt dies
einen Verlust von 34 014 000 Frcs. jährlich.
Wir können durch rationelle hygienische Verbesserungen diese Krank¬
heit bekämpfen, wie es Brüssel, München und Frankfurt in den letzten
Jahren bewiesen haben.
Zur Verbreitung dieser Gedanken müssen wir Alles benutzen, das auf
die öffentliche Meinung wirkt, das Buch, die Zeitschrift, die Gesetzgebung,
den Lehrstuhl, die Congresse und die Gesellschaften für öffentliche Gesund¬
heitspflege. Vor allen Dingen müssen wir Geld dazu haben, das Kriegs¬
budget komme dem der Hygiene zu Hülfe. Europa gebraucht jetzt im
vollen Frieden 2 903 000 000 FrcB. jährlich für seine Armeen. Hiervon
nehme man Etwas, um den Grundstock für das Capital der Hygiene zu
bilden. Die Aera der grossen Kriege nähert sich ihrem Ende, wenn wir
das Friedenszeitalter nicht mehr durchmachen, so werden es unsere Gross¬
kinder vielleicht mit erleben. „Dies Zeitalter des Friedens wird erscheinen,
und dieser Blick in die Zukunft tröstet mich ein wenig über die traurigen
Verhältnisse der Gegenwart. Dies ist vielleicht eine Einbildung, die ich
pflege, aber bis zu meinem letzten Athemzuge will ich sie für mich be¬
wahren/ So schloss der Redner seinen eleganten, mit lautem Beifall
bejubelten Vortrag.
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200 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Dritte Sitzung.
Sonnabend, den 2 3. Augnst.
Vorsitzender: Gelieimeratli Dr. Eulenberg (Berlin).
Professor Dr. H. Cohn ans Breslau hielt einen Vortrag über
Tageslichtmessungen in den Schulen
mit Demonstration von Apparaten des Professors Leonhard Weber
(Breslau). Schon seit langer Zeit ist es bekannt, dass man bei abnehmen¬
der Helligkeit eine Schrift znm Lesen dem Auge näher bringen muss,
trotzdem hat man bei Schulbauten Behr häufig auf Lage, Grösse und Zahl
der Fenster nicht die für das Auge erforderliche Rücksicht genommen.
Alle Autoren sind einstimmig darin, dass durch Lesen und Schreiben bei
schlechter Beleuchtung Kurzsichtigkeit hervorgerufen wird, ob durch die
Anstrengung der Accommodation, oder die grössere Arbeit der inneren
Augenmuskeln, ist für die Beurtheilung dieser Frage gleichgültig. In
Breslau hat Cohn für jede der 133 untersuchten Classen eine Helligkeits¬
tabelle entworfen, nach der Anzahl der Fenster, der Lage derselben
nach rechts, links, vorn oder hinten, nach Osten, Westen, Norden, Süden;
nach der Höhe und Entfernung der gegenüberliegenden Häuser, der Höhe
und Breite der Fenster, der Farbe der Wände u. s. w. Alle hiernach auf¬
gestellten Grundsätze sind aber nicht so maassgebend als das mensch¬
liche Auge. Dies ist das beste Photometer. Hof mann (Wiesbaden)
schlug vor, den Unterricht zu schliessen, sobald man in einer Classe Snellen
Nr. 6 nicht mehr auf sechs Schritte lesen könnte; die Strassburger Aerzte
schlugen dem Statthalter in ihrem Gutachten vor, jeden Schulplatz so zu
beleuchten, dass man Jäger’s Diamantschrift noch auf 30cm lesen könne.
In Preussen ist als Minimum von der technischen Deputation angenommen:
Verhältniss der Glasfläche zur Bodenfläche, wie 1 zu 5. 1879 wurden in
Holland von einer königlichen Commission grosse breite zur Linken des
Schülers befindliche Fenster anempfohlen, in Frankreich verlangte eine
1882 für Schulbauten eingesetzte Commission, dass jeder Schüler so viel
Himmel sehen müsse, als mindestens 30 cm vom oberen Ende der Glas¬
scheibe des oberen Fensters entspreche (= 1 Winkel von 3°). Javal
fordert, dass die gegenüberliegenden Häuser nur halb so hoch sein dürfen
als der Abstand derselben von der Schule. Förster verlangt, dass der
Einfallwinkel (gebildet von der Ebene des Schultisches und der oberen
Fensterkante) mindestens 25°, der Oeffnungswinkel (gebildet von der Dach¬
kante des gegenüberliegenden Hauses, der oberen Fensterkante und dem
Schülerplatze) mindestens 5° beträgt. Bei diesen Anforderungen ist aber die
Breite des Winkels, unter dem das Licht einfällt, immer vergessen und diese
ist sehr wichtig. — Für die Menge des überhaupt einfallenden Tageslichtes
hatten wir bisher immer kein bestimmtes Maass, keine Möglichkeit, dasselbe
exact zu bestimmen. Elektrische chemische Photometer waren gänzlich un¬
brauchbar hierfür. Vor einem Jahre hat Professor Dr. Leonhard Weber
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. R. Blasius). 201
in Breslau ein derartiges Instrument erfunden, das unseren Anforderungen
entspricht (siehe Wied. Ann. 20, S. 326 und Central. - Zeitschr. f. Opt. u.
Mech. 1883, Nr. 16 und 17!). Dieses Photometer beruht darauf, dass
sämmtlicbes in die Oeffnung eines Cylinders einfallende Tageslicht durch
eine Linse gesammelt und damit die eine Hälfte einer Glasplatte beleuchtet
wird. Die andere Hälfte der Glasplatte wird durch ein Benzinlicht von
bestimmter Lichtstärke erhellt. Man stellt das Instrument nun so ein, dass
die beiden Hälften der Glasplatte genau gleich hell erleuchtet sind, und
liest an einer Scala die augenblicklich herrschende Tageslichtstärke ab.
Mit diesem Apparate (von Schmidt und Hänsch in Berlin für 300 Mark
zu beziehen) untersuchte Cohn nun in den letzten sechs Monaten 70 Clas-
sen in vier Schulen Breslaus, zwei sehr alten im Inneren der Stadt mit
dunkeln Classen, dem Elisabeth-Gymnasium (E.) und Magdalenen - Gymna¬
sium (M.), und zwei neueren Schulen mit guter Beleuchtung, dem Johannes-
Gymnasium (J.) und der katholischen höheren Bürgerschule (B.). Die Mes¬
sungen wurden Vormittags von 9 bis 11 Uhr an den hellsten (1 bis 1*25 m
vom Fenster) und an den dunkelsten (5 bis 6 m vom Fenster) Plätzen vor¬
genommen, mehrere Male wiederholt, mit Abwechselung von möglichst hellen
und möglichst gleichraässig trüben Tagen. Hiernach erhielt Cohn folgende
Resultate:
Hellster Platz
Dunkelster Platz
Schulen
helle Tage
dunkle Tage
helle Tage
dunkle Tage
E.
61 bis
450
4*7 bis 235
1*7
bis
32
< 1 bis 22
M.
c
<N
00
482
, 2*6 „ 182
1*8
»
68
< 1 „ 10
J.
189 „
1142
121 „ 1050
7*9
n
133
3-4 „ 69
B.
320 „
1410
79 „ 555
21*6
ff
160
4-6 „ 38
so dass also in den verschiedenen Classen die Helligkeiten an dem hellsten
Platze an hellen Tagen schwankten zwischen 61 und 1410 Kerzen, an den
dunkelsten Plätzen an dunkeln Tagen zwischen < 1 und 69.
Cohn untersuchte nun die einzelnen Plätze in den Classen auf ihre
Helligkeit und fand das erschreckende Resultat, dass in den beiden alten
Gymnasien in 13 Classen eine Anzahl Schüler Vormittags 11 Uhr bei weniger
als 1 Kerze Helligkeit schreiben mussten. Dies geht aus folgender Tabelle
hervor:
Trübe Tage
dunkelster Platz
hellster Platz
IJaI 1 i rrlr oi ^
Helligkeit
Helligkeit
Helligkeit
Helligkeit
Helligkeit
Schulen
ncmgKPii
1 bis 10
11 bis 25
2 bis 100
101 bis 235
249 bis 1050
< 1 Kerze
Kerzen
Kerzen
Kerzen
Kerzen
Kerzen
E.
6 CI.
10 Cl.
1 Cl.
13 Cl.
5 Cl.
0 Cl.
M.
7 n
12 „
0 „
12 „
6 »
0 „
J.
0 „
5 „
10 „
0 „
3 „
H „
B.
0 „
3 „
9 ff
2 „
8 „
3 „
Auch die Himmelshelligkeit bestimmte Cohn und fand dabei ein
Schwanken zwischen 305 und 11 430 Kerzen; um grosse Schwankungen in
den Resultaten zu vermeiden, ist es richtiger, nur an ganz gleichmässig
bedeckten oder ganz gleichmässig wolkenlosen Tagen zu messen.
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202 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Bekanntlich blenden den Scbulfenstern gegenüberliegende Häuser wände
häufig sehr stark. Um deren Helligkeit mit der des Himmels zu ver¬
gleichen, stellte Cohn auch eine Reihe von Messungen an und fand folgende
Resultate:
Himmel
Haus gegenüber
1018 Kerzen
968 Kerzen
1441
n
1866 „
1272
n
1668 „
906
»
968 .
1090
1818 „
2005
»
1212 „
meistens war also das gegenüberliegende Haus heller als der Himmel.
Um vorläufig die Helligkeit einer Classe zu bestimmen, giebt es ein
sehr einfaches Mittel, dass man von sämmtlichen Schülern notirt, ob sie den
Himmel von ihrem Platze aus sehen können oder nicht. Von 2461 Schülern,
die so gefragt wurden, konnten 459 kein Stückchen Himmel sehen, und
zwar im Elisabeth-Gymnasium in 10 Classen 28 Proc., im Magdalenen-Gym¬
nasium in öClassen 24 Proc., im Johannes-Gymnasium in 8 Classen 15 Proc.,
in der katholischen höheren Bürgerschule in 1 Classe 0*9 Proc.
Will man genauer das Stück Himmel messen, das der Schüler noch
sehen kann, so müsste man Bich des Spiegelsextanten bedienen. Da dies
Verfahren aber sehr zeitraubend ist, benutzte Cohn ein von Professor
L. Weber erfundenes Instrument, den sogenannten „RaumWinkelmesser“
(beschrieben in der Zeitschrift für Instrumentenkunde, October 1884). Unter
Raumwinkel versteht Weber den Inhalt der körperlichen Ecke, welche alle
die Grenzstrahlen bilden, die die Fensterkanten oder den Rand der gegen¬
überliegenden Dächer streifen, und an den einen betreffenden beleuchteten
Punkt gelangen, dessen Helligkeit wir bestimmen wollen. Nach den mit diesem
Instrumente vorgenommenen Messungen dürfte der beste Platz nicht unter
500°, der schlechteste nicht unter 50° Raumwinkel haben. Meistens ist der
Raumwinkel in den Parterre-Etagen bedeutend kleiner als in den höheren
Etagen, man lege daher die Classen in die oberen Stockwerke und Lehrer¬
wohnungen, Bibliothek, Aula etc. in die Parterre-Etagen.
Möglichst zu beschränken sind die Fensterkreuze, sie nahmen 35 bis
50 Proc. Raumwinkel in vielen Fällen fort, dünne eiserne Pfeiler können
die dicken Holzkreuze ersetzen; die Zwischenpfeiler zwischen den Fenstern
sind auch möglichst schmal zu wählen und architektonische Verzierungen
an den Fenstern gänzlich wegzulassen. Die Fenster sind rein zu halten,
Doppelfenster zu vermeiden und vor allen Dingen darf der Schule gegen¬
über kein Haus stehen.
Sehr interessant sind die auffallenden Lichtverluste, die uns die
Rouleaux bringen, die üblichen grauen Staubrouleaux nahmen 87 bis
89 Proc. Licht, die weissen, seitwärts zu ziehenden, Chiffonvorhänge
nur 75 bis 82 Proc., die verstellbaren Vorhänge von Weckmann in
Hamburg, die unseren Holzjalousien ähnlich sind, nur statt der Holzleisten
kleine mit grauem Zeuge überspannte Rahmen haben, bei verticaler Stellung
91 Proc., bei schräger 70 Proc., bei horizontaler nur 57 Proc.
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. R. Blasius). 203
Auch die Farbe der Wände ist von grosser Bedeutung, je heller die¬
selbe ist, desto mehr Licht wird auf die Plätze reflectirt; desshalb ist es
auch falsch, die untere Partie der Wände dunkel anzustreichen.
Die Himmelsrichtung ist auch für die Helligkeit von Bedeutung, in
Nordzimmem wurde durchschnittlich ceteris paribus nur zwei Drittel so
viel Licht gefunden als in Südzimraern.
Von den künstlichen Versuchen, dunkele Schulzimmer besser zu be¬
leuchten, wie z. B. den von Förster vorgeschlagenen grossen Prismen vor
den Fenstern, oder den in England gebräuchlichen verstellbaren Spiegeln
zum Einwerfen des Lichtes an die dunkeln Plätze der Classen, sollte man ab-
sehen und dafür lieber die finsteren alten Schulgebäude in Magazine verwan¬
deln und unseren Kindern neue Schulen mit reichlichster Beleuchtung geben.
Allseitiger reicher Beifall und der Dank des Vorsitzenden belohnten
den Redner.
Vierte Sitzung.
Montag, den 25. August.
Vorsitzender: Professor Corfield (London).
Nachdem der Minister des Inneren des Königreichs der Niederlande,
Herr J. Heemskerk, einige anerkennende und die Bedeutung der Hygiene
auch für den Staat klar legende Worte gesprochen hatte, hielt Professor
Dr. Finkelnburg (Bonn) seinen angekündigten Vortrag über
Die praktische Anwendung der neuesten Fortschritte
der wissenschaftlichen Infeotionslehre auf die öffent¬
liche Gesundheitspflege.
Nach einem kurzen Hinweise auf unsere neuesten wissenschaftlichen
Entdeckungen auf dem Gebiete der Infectionslehre, die demonstrirt wurden
durch Professor Flügge in zwei Koch’sehen Reinzüchtungspräparaten
des Cholerabacillus, betrachtete der Redner die prophylaktischen Maass¬
regeln, die wir nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft gegen die In-
fectionskrankheiten zu nehmen hätten, von drei Gesichtspunkten aus:
1. Was können wir direct thun zur Bekämpfung der Infectionsträger ?
2. Was können wir thun zur Bekämpfung der örtlichen Disposition?
3. Was kann der einzelne Mensch thun zu seinem Schutze, zur Kräfti¬
gung seiner Individualität.
In Bezug auf den ersten Punkt haben unsere Ansichten die grössten
Wandlungen erfahren. Die Fäulnisserreger sind die erbittertsten Feinde
der Infectionserreger und begünstigen diese, wie man früher glaubte, in
keiner Weise. Bei den Infectionserregern haben wir es mit ganz specifischen,
theilweise exotischen Organismen zu thun, die nicht aus einer Umwandlung
harmloser Keime, sondern ausnahmslos nur ans ihresgleichen hervorgehen.
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204 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Diese müssen wir direct aufsuchen und bekämpfen, namentlich seitdem wir
nicht mehr annehmen können, dass diese von bestimmten Veränderungen
im Boden abhängen, sondern vom Cbolerakeim z. B. wissen, dass er sich,
nachdem er den Körper verlassen hat, unendlich ausgiebig und rasch ver¬
breiten kann, ohne eine Dauerform anzunehmen, und unmittelbar im Stande
ist, den Gesunden anzugreifen.
Hiernach ist eine Revision der Gesetze gegen die Verschleppung der
Contagien vorzunehmen. Theoretisch ist es richtig, dass man die Ver¬
schleppung des Krankheitserregers zu verhindern suchen muss. Diese geht
von Mensch zu Mensch vor sich. Im Princip ist es daher zu billigen, diese
exotischen Krankheitserreger durch Absperrungsmaassregeln fern zu halten.
Das englische sogenannte Inspectionssystem ist völlig illusorisch, da der
Cholerabacillus auch im Inneren scheinbar gesunder Menschen verschleppt
werden kann. Durchführbar sind die Quarantänen nur bei Personen, die
hinreichend lange beobachtet werden können, also meist nur bei Überseei¬
schem Verkehre. Bekannt ist es, dass in früheren Choleraepidemieen sich
Sicilien. Sardinien, Griechenland z. B. erfolgreich gegen die Cholera geschützt
haben. Auch auf dem Festlande sind erfolgreiche Quarantänen beobachtet,
z. B. bei dem von Zoeros Bey für die Türkei mitgetheilten Falle und
Zarskoje Selo bei St. Petersburg, das 1%34 durch einen dreifachen Militär-
cordon gegen die Cholera geschützt wurde.
Meistens ist aber eine derartige Quarantäne bei unseren jetzigen Ver¬
kehrsverhältnissen nicht möglich, daher muss eine sofortige Einsperrung
jedes Infectionsheerdes, die Isolirung der Erkrankten und die
Verhinderung der Verbreitung von den Ansteckungsheerden aus
gefordert werden. Alle diese Maassregeln müssen sofort nach Ausbruch der
Krankheit geschehen, eine rasche Diagnose ist daher unbedingt nöthig, und
daher die Koch’sehe Entdeckung so ungeheuer wichtig. Man muss auf
das Höchste erstaunen, dass Frankreich am 13. Juni 1884 die Koch’sche
Entdeckung nicht kannte, dass man 14 Tage gebrauchte, ehe die Sachver¬
ständigen die Cholera in Toulon wirklich erkannten. Nach 10 Tagen liess
man noch durch einen Schüler aus dem Lyceum die Seuche nach Marseille
verschleppen. Ein rechtzeitiges Erkennen der Cholera, das sehr gut möglich
gewesen wäre, wenn die Franzosen die Koch’sehen Entdeckungen gekannt
hätten, konnte vielleicht die ganze furchtbare Ausbreitung der Seuche in
Europa verhindern.
Eine gesetzliche Anzeigepflicht ist daher bei den Infectionskrankheiten
auf das Allerstrengste durchzuführen.
Was die in den Sectionssitzungen mehrfach berührte Frage anbetrifft,
ob auch gegen die Infectionskeime der Tuberculose Maassregeln zu ergreifen
seien, so hat man schon im vorigen Jahrhundert obligatorische Isolirung
der Tuberculösen in Spanien und Italien gehabt. Diese Maassregeln sind
aber unberechtigt, da der Tuberkelbacillus nicht ausgerottet werden kann
und zu allgemein unter der ganzen Bevölkerung verbreitet ist. Man muss
sich darauf beschränken, 1) den Fleisch- und Milchverkauf streng zu contro-
liren, damit keine perlsüchtigen Thiere Infectionsquellen für Menschen
werden; 2) bei der Vaccination von Kind zu Kind die grösste Vorsicht zu
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. R. Blasius). 205
beobachten, da jedenfalls die Ueberimpfung von Tubercnlose möglich ist,
und womöglich die ausschliessliche Anwendung rein gezüchteter Vaccine
anzastreben und, bis diese existirt, animale Lymphe der menschlischen vor*
zuziehen; 3) in Bezug auf denVerkehr zwischen Gesunden undPhthisischen
das Publicum zu belehren; 4) den phthisischen Auswurf in Schulen, Hospi¬
tälern u. 8. w. einer besonderen Desinfection zu unterziehen; 5) die Sana¬
torien für Brustkranke scharf zu überwachen.
In Bezog auf die chemischen Desinfectionsmittel weist Redner
auf die zahlreichen Enttäuschungen hin, die uns die neueren Untersuchungen,
namentlich aus dem deutschen Reichsgesundheitsamte, in Bezug auf viele
Mittel gebracht haben. Die Carbolsäure beim Li sterischen Verbände
tödtet die Bacterien nicht, sondern hindert nur ihre Vermehrung und weiteren
Zutritt. Chlorzink, das noch kürzlich vom Conseil (Thygiene publique in
Paris anempfohlen wurde, ist gänzlich werthlos. Das einzig sichere Mittel
ist feuchte Hitze von 110° und trockene Hitze von 130°. Um diese an¬
zuwenden, sind überall öffentliche Einrichtungen Seitens der Gesundheits¬
behörden zu treffen.
Was die örtliche Disposition anbetriflft, so ist die Pettenkofer’sche
Deutung der Bodenthätigkeit in Bezug auf die Infectionskrankheiten nicht
mehr ganz festzuhalten. In Marseille kann z. B. unmöglich der Boden allein
der Ueberträger des Infectionsstoflfes gewesen sein. In zwei Richtungen ist
der Boden zu beachten, a) in Bezug auf den Gehalt an Nährstoffen (keine
organischen Verunreinigungen desselben zu dulden!) und b) in Bezug auf
den Wassergehalt (möglichst trocken halten!!!). Die Auswurfsstofife sind
daher von den menschlichen Wohnungen ab möglichst rasch zu entfernen,
das System, das dies am raschesten, am promptesten besorgt, ist überall
vorzuziehen, keine Ansammlung in irgend welcher Weise ist zu dulden.
Nägeli hat nachgewiesen, dass Pilze sich nicht von feuchten Flächen ab-
lösen, er räth daher, Alles feucht zu halten. Koch erklärt, dass der Cholera¬
keim keinen grösseren Feind habe, als die Trockenheit, die Feuchtigkeit
begünstige seine Vermehrung. Zur Reinhaltung der Wohnungen bediene
man sich daher in metallenen oder steinernen Stoffen, die das Wasser nicht
in sich aufnehmen, möglichst des Wassers im reichlichsten Maasse, aber bei
dem Holz werke, das bei der Reinigung mit Wasser durchfeuchtet werden
würde, vermeide man das Wasser und wende andere Reinigungsmethoden an.
Das Trinkwasser hält Redner für den Hauptinfectionsverraittler nach
den neueren Forschungen, nachdem Gaffky in der Panke den Bacterius der
Septicäinie, Koch in Indien in den Wässern den Cholerabacillus nach¬
gewiesen hat, indem er durch den Mund in den Darmkanal gelangt. Hier
erzeugen die betreffenden Bacterien ein Gift, das in das Blut eindringt und
die Krankheitssymptome hervorbringt. Chemische Wasseruntersuchungen
nützen hiernach gar nichts, es müssen mikroskopisch-bacteriologische vor¬
genommen werden, und dann alle nicht ganz zuverlässigen Trinkwässer
filtrirt oder gekocht werden.
Die Luft ist als ein wesentlicher Krankheitserreger mit anzusehen,
namentlich nach den neueren Untersuchungen von Miquel in Paris, der
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206 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
fand, dass die Anzahl der in der Luft vorhandenen Mikroben örtlich und
zeitlich im n&mlichen Verhältnisse zu den vorgekommenen Erkrankungen
steht. Je feuchter die Luft war, desto mehr Mikroben fanden sich. Regen
klärte die Luft, man fand nachher weniger Mikroben, es ist daher sehr
richtig, tüchtig mit den Wasserleitungen zu Bprengen und die Strassen zu
macadamisiren, dass das Wasser rasch in den Boden eindringt und nicht in
Pfützen herumsteht und wieder in die Luft verdunstet.
Was die persönliche Disposition anbetrifft, so wird davon nur in-
direct die öffentliche Gesundheitspflege berührt. Für die Cholera ist der
Mund, für die Tuberculose die Lunge die Eingangspforte. Gesunde Schleim¬
häute schützen, kranke Schleimhäute lassen die Bacterien eintreten. Flimmer¬
epithel in den Luftwegen entfernt die Bacillen, besteht Katarrh, so functionirt
dasselbe nicht und die Bacterien können in die Lunge eintreten. Ein gesun¬
der Darmcanal kann den Cholerabacillus vertragen, ein kranker bietet ihm
Brutstätten. Daher sorge Jeder, dass seine Athmungs- und Darmorgane mög¬
lichst gesund bleiben. Eine strenge Marktpolizei kann das Verkaufen gesund¬
heitsschädlicher Nahrungsmittel verhindern. Der Hauptwerth der Pasteur’-
schen Schutzimpfungsversuche liegt bisher wesentlich darin, dass wir eine
neue wissenschaftliche Stütze für die Berechtigung und den Werth der
Schutzpockenimpfung bekommen haben, einen sicheren persönlichen Schutz
haben dieselben in Bezug auf andere Krankheiten noch nicht mit Sicherheit
erwiesen.
Zum Schlüsse macht Redner darauf aufmerksam, dass die Consequenzen
aus den Fortschritten der lnfectionslehren darin beständen, dass die öffent¬
lichen Einrichtungen zur Vornahme hygienischer Untersuchungen verbessert
werden müssten — nicht nur an den Universitäten, sondern auch bei allen
Gesundheitsbehörden.
Der Vortrag wurde mit lautem, anhaltendem Beifall aufgenommen, der
Präsident sprach dem Redner den Dank der Versammlung aus. Sehr zu
bedauern war es, dass der Vortrag nicht schon einige Tage früher gehalten
wurde, da er manche gänzlich unnütze Debatten in den Sectionen unnöthig
machte und sich durch eine gleichmässige Kenntniss säramtlicher For¬
schungen in den verschiedenen Ländern auszeichnete und in keiner Weise
einen specifischen nationalen Charakter annahm, sondern, wie es der Wissen¬
schaft zukommt, international gehalten war.
Hierauf sprach Professor E. J. Marey (Physiolog am College de France
zu Paris) über:
Die nutzbaren Kräfte der Bewegung.
Nachdem der Redner einen kurzen Rückblick gegeben hatte auf die mecha¬
nische Wärmetheorie, angewandt auf die Bewegung, stellte er den Satz auf,
dass es die grösste Kunst des Lebens sei, die grösste Arbeit mit der
geringsten Kraftaufwendung zu verrichten. Zurückgreifend auf die bahn-
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. R. Blasius). 207
brechenden Arbeiten der Gebrüder Weber in Leipzig, zeigte er die neuesten
Momentanphotographieen, wodurch es möglich ist, die Bewegung des mensch¬
lichen Körpers in seine einzelnen Theile zu zerlegen, indem photographische
Aufnahmen von nur Vso Secunde Zeitintervall aufgenomroen wurden. Es ist
dem Redner geglückt, wie es an den Photographieen demonstrirt wurde, die
Bewegungen der verschiedenen Theile des menschlichen Körpers, wie sie
beim Marsche in Betracht kommen, genau zu fixiren.
Mit einem Dynamographen, der demonstrirt wurde, ist es dem Redner
gelungen, genau die Zahlen zu bestimmen, die uns zeigen, wie man den
längsten Weg mit dem geringsten Kraftaufwande zurücklegen kann.
In einer sehr eleganten Weise demonstrirte der Redner die Umsetzung
der Wärme in Kraft. Ein Gummischlauch, den man in die Länge zieht,
kommt nur durch die in Folge der passiven Bewegung entwickelte Wärme
wieder in seine frühere Form zurück. Wenn man dem Gummischlauch
durch Eintauchen in kaltes Wasser, wie es Redner thut, die Wärme entzieht,
so nimmt er seine frühere Form nicht wieder an, giebt man ihm die Wärme
zurück, so geht er in seine ursprüngliche Form zurück. Aehnlich ist es
mit den Sprüngen eines Menschen, der zweite Sprung ist immer kleiner als
der erste, da bei dem ersten entwickelte Wärme in Arbeit umgesetzt und
diese Wärme bis zu dem zweiten Sprunge noch nicht wieder vollständig
ersetzt wurde. Mit mathematischer Genauigkeit wurde dies durch Moment-
photographieen demonstrirt.
Redner ging dann näher auf die Bewegung des Fusses beim Marsche
ein, zeigte, dass die Länge desselben bis zu einem gewissen Grade den Marsch
beschleunigt, die Höhe des Hackens ihn aber verlangsamt. Die flachen, so¬
genannten englischen Hacken sind für den Fussgäuger sehr vortheilhaft.
Vom praktischen Standpunkte aus ist der Rhythmus des Marsches sehr
wichtig. Je nachdem er beschleunigt wird, werden die Schritte grösser und
die zurückgelegte Strecke vergrössert sich beträchtlich; wenn der Schritt
aber zu sehr beschleunigt wird, wenn er 76 in der Minute überschreitet, so
werden die Schritte kleiner und die zurückgelegte Strecke verringert sich.
Wenn die Schritte 120 in der Minute betragen, so verliert der Marschirende
Zeit, da er zu kleine Schritte macht.
Diese Marschmessungen, die durch eine Reihe vorzüglicher Moment¬
photograph ieen demonstrirt wurden, haben einen grossen praktischen Werth
für die Militärhygiene, z. B. für die Leistungsfähigkeit von Truppenkörpern
auf grösseren Märschen.
Der Vortrag wurde mit lebhaftem Beifall aufgenommen und verdiente
dies im vollsten Maasse, da er ohne Schönrederei einen klaren Ueberblick
über die ausserordentlich exacten wissenschaftlichen Forschungen des be¬
rühmten Physiologen gab und, wenn auch wesentlich physiologischer Natur,
doch wichtige Rückschlüsse machen liess namentlich im Gebiete der Militär¬
hygiene.
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208 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Fünfte Sitzung.
Dienstag, den 26. August.
Vorsitzender: Professor Corradi (Pavia).
Professor W. H. Corfleld (London) sprach über das Thema:
Die Wissenschaft ist der Feind der Krankheit
Der Redner suchte diesen Satz durch eine Geschichte der Hygiene zu
beweisen, er sprach von den hygienischen Maassregeln, die schon die alten
Egypter ergriffen hatten, von den Vorschriften, die Moses für die Juden gab
(z. 6. kein Schweinefleisch zu essen, das Verbot der Heirathen unter Nah¬
verwandten), von den griechischen Hygienikern, namentlich Hippokrates,
der ein hochbedeutsames Buch schrieb über die Luft, das W&Bser und den
Boden, von seinen Hauptschülern, namentlich dem Galen, von den hygieni¬
schen Einrichtungen der Römer, die noch jetzt unsere Bewunderung erregen,
von den Canälen, von den Wasserleitungen des alten Roms, die damals
schon zehnmal mehr reines Wasser in die Stadt brachten, als jetzt nach London
gelangt. In der schwärzesten Weise wurden die Zustände im Mittelalter
geschildert, wo die Wissenschaft nur in den Händen der Priester sich befand,
wo Unwissenheit und krasser Aberglaube das Regiment führten. Die medi-
cinische Wissenschaft wurde allein in den arabischen Schulen zu Bagdad,
Cordova cultivirt, übrigens hatte die Bevölkerung allen Sinn für Gesund¬
heitspflege verloren, obgleich die furchtbarsten Seuchen, wie die Pest, der
schwarze Tod u. s. w. wütheten.
Erst seit dem 17. Jahrhundert hat man in England die Aufmerksam¬
keit auf die Ursachen der Krankheiten gelenkt und schöne Resultate gehabt:
der Scorbut ist verschwunden, der Typhus im Abnehmen, die Pocken nach
der Jen ne r’sehen Entdeckung der Kuhpockenimpfung nur noch eine Aus¬
nahme. Die Schutzimpfung ist von Pasteur entdeckt für den Milzbrand,
den Rothlauf der Schweine, die Hundswuth und hoffentlich wird sie für
andere Krankkeiten bald nachfolgen.
Eine der mörderischsten Kinderkrankheiten ist die Rachitis, die nur
auf einer ungenügenden Ernährung beruht. Eine bessere Methode, die
Neugeborenen zu ernähren, wird auch diese Krankheit verschwinden lassen.
Die Malariakrankheiten treten zurück durch die Drainage und Reinhaltung
des Bodens.
In England hat sich die Ansicht immer mehr Bahn gebrochen, dass es
nothwendig sei, die Gesundheitspflege dem Volke zu lehren. Redner selbst
unterrichtet die Lehrer; 2200 Personen haben in der Hygiene in diesem
Jahre schon ihr Examen gemacht. Die grösstraögliche Verbreitung der
Lehren der öffentlichen Gesundheitspflege im Volke ist das beste Mittel,
die Epidemieen verschwinden zu lassen, die Zahl der Krankheiten zu ver¬
mindern und die mittlere Lebensdauer zu verlängern. In England scheint
bereits die Tuberculose nachzulassen und in London ist in den letzten vier
Jahren die mittlere Lebensdauer von 34 auf 37 V* Jahre gestiegen.
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. ß. Blasius). 209
Diese Thatsachen beweisen, dass die Wissenschaft der Feind der Krank¬
heit ist, dass unter ihren Flügeln der allgemeine Gesundheitszustand sich
bessert und die Lebensdauer sich yergrössert. (Allgemeiner Beifall!)
Emile Trölat, Professor der Arcbitectur zu Paris sprach über den
Richtigen Wärmegrad der Wohnung und die Athmungs-
luft in derselben.
Nachdem Redner die Wichtigkeit der menschlichen Wohnung für die Ge¬
sundheit hervorgehoben, ging er auf die früher in Frankreich übliche
Heizung über, wobei die Wärme- und Rauchproducte in den Wohnungen
nicht getrennt wurden. Seit 1844 hat man in Frankreich und später in
ganz Europa die Calorifere eingeführt, die den Zweck haben, schon vorher
erwärmte Luft in die Zimmer einzuführen. Redner verwirft diese vou
seinen Lehrern, Peclet und Morin, vorgeschlagene Heizung vollständig,
da die Einathmung erwärmter Luft unangenehm ist, ein Gefühl von Aengst-
lichkeit hervorruft und leicht zu Asthma Veranlassung giebt. Abgesehen
davon ist die Heizung mit Caloriferen auch unökonomisch, wie Redner
experimentell nachgewiesen haben will, gewöhnliche Ofenheizung ist billiger.
Man muss zu erreichen suchen, kalte Luft einzuathmen, ohne zu frieren,
wie bei einem Spaziergange im Frühjahre oder Herbste draussen im Freien.
Tyndall hat bewiesen, dass die Wärme eines Ofens sich viel weniger der
Zimmerluft als den Gegenständen, die im Zimmer sich befinden, mittheilt.
Man muss zu erreichen suchen, dass die Mauern und Möbeln eine Tempe¬
ratur erhalten, die sich möglichst unserer Körpertemperatur nähert, und
dass diese dann ihre Wärme an die Kammer eelbst abgeben. Am besten
erreicht man dies nach Ansicht des Redners durch ein gut ziehendes Kamin,
das die Zimmerluft in continuirliche Communication mit der Aussenluft
bringt, und die möglichst dicken Mauern an verschiedenen Stellen, nament¬
lich an den Fenstern und den Zwischenräumen zwischen diesen, erwärmt
(Beifall!).
Den letzten Vortrag in der Sitzung hielt Frau Bovell-Sturge, Dr. med.
und praktische Aerztin in London und Nizza, über:
Verlassene und vom Staate abhängige Kinder.
Illegitime, verwaiste oder Findelkinder bedürfen einer besonderen Pflege,
sowohl wegen ihrer meistens schwächlichen Constitution als auch wegen
ihrer häufigen Anlage zum Laster. Es ist nun nicht richtig, nicht human,
solche Kinder in ein einziges grosses Haus zusamroenzubringen, da dies der
körperlichen und geistigen Entwickelung der Kinder nur schädlich sein muss,
sondern man muss versuchen, den Kindern ein Familienleben zu ersetzen,
dadurch, dass man sie in Familien unterbringt. Die Resultate aus den
Cottage houses in der Nähe von London, über die in Arbeiterfamilien unter-
Vierteijahrsschrift für Gesundheitspflege, 1886. 24
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210 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
gebrachten Kinder sind sowohl, was die geistigen, sittlichen, sanitären Ver¬
hältnisse an betrifft, als in ökonomisch-administrativer Hinsicht sehr günstig,
da die Kinder dem Staate so viel weniger Geld kosten, als in den grossen
casernenartigen Waisenhäusern. Nicht bloss in der Kindheit muss eine
derartige Ueberwachung der Erziehung stattfinden, sondern auch in den
ersten Jahren, wo die Jünglinge und Mädchen in die Welt hinaustreten und
sich ihr Brod verdienen, da bei vielen Neigung zu Laster und Müssiggang
besteht. Der Staat kann selbstverständlich diese Aufsicht nicht führen,
dazu müssen sich barmherzige Menschen hergeben, die Lust haben, sich
mit Kindern zu beschäftigen und ihnen mit Rath und That zur Seite zu
stehen. Durch solche Thätigkeit wird man der Menschheit eine Wohlthat
erweisen und zur Erhöhung der Moralität und des Wohlstandes der Nation
beitragen. Einrichtungen nach dem Modelle der englischen „Cottage Homes*
sollen möglichst in allen Ländern getroffen werden.
Der Vortrag wurde sehr beifällig aufgenommen. Vielfach sind diese
Gedanken ja bereits bei uns in Deutschland durchgeführt, so werden z. B.
nach den Principien der Elberfelder Krankenpflege Kinder zu wohlbeleu¬
mundeten Familien bei uns in Braunschweig in Pflege gegeben, so haben
manche Städte, wie Bremen z. B. das Princip, Kinder in den Ferien auf
kürzere Zeit in geeignete Häuser auf dem Lande zu bringen, so haben
wir endlich z. B. in Braunschweig ein ganz ähnliches Institut in dem von
der letzthin verstorbenen Frau Amalie Löbbecke gestifteten Friedrichs¬
stifte, wo ein kleiner Kreis von Mädchen wie in einer Familie lebt und auch
noch nach dem Verlassen der Anstalt mit den Leiterinnen der Anstalt in
einer freundschaftlichen Verbindung bleibt.
Sechste Sitzung.
Mittwoch, den 27. August.
Vorsitzender: Dr. de Beaufort (Haag).
Professor A. Corradi (Pavia) hielt einen Vortrag über
Sanitäre Gesetzgebung,
indem er zunächst erwähnte, dass die ersten hygienischen Vorschriften zu
gleicher Zeit religiöse Bestimmungen waren und dass erst später die öffent¬
liche Barmherzigkeit es sich zur Aufgabe gemacht habe, grosse stolze Ge¬
bäude zu errichten, die aber wenig geeignet gewesen wären, Kranke auf¬
zunehmen und die Verbreitung der Krankheiten zu verhindern. Indem
der Redner in kurzen Umrissen die hygienischen Maassregeln schilderte,
die die verschiedenen italienischen Staaten im Laufe der Jahrhunderte er¬
griffen, machte er darauf aufmerksam, dass die langwierigen Kämpfe zwischen
Welfen und Gibellinen die mächtige Verbreitung der Epidemieen in gewisser
Weise begünstigt hätten. Nur Venedig hat sich durch vorzügliche hygienische
Maassregeln ausgezeichnet. Die Sanitätspolizei im 16. und Anfang des
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Allgemeine Sitzungen (Berichterstatter Dr. R. Blasius). 211
17. Jahrhunderts war dort vorzüglich, namentlich die Quarantäneraaass-
regeln breiteten sich von dort über ganz Italien aus. Unserer Zeit war es
vorbehaltep, den wahren Grund der Contagiosität in den Bacterien zu ent¬
decken, es genügt aber nicht allein, diese Organismen zu tödten, sondern
wir müssen auch bestrebt sein, unseren Körper zu kräftigen, ihn wider¬
standsfähiger gegen äussere schädliche Einflüsse zu machen. Abgesehen
von diesen gewissermaassen persönlichen Schutzmaassregeln, ist es aber
nothwendig, dass nicht bloss der einzelne Staat für sich hygienische Maass¬
regeln ergreift, sondern, dass alle Länder bestrebt sind, bei Verordnungen,
die die Gesundheitspflege betreffen, nach gleichen Grundsätzen vorzugehen.
Dann sprach Professor J. Crocq (Brüssel) über
Das Trinkwasser.
Wir können als Grundlage für die Wasserfrage immer noch die vom Alt¬
vater derMedicin, dem grossen Hippokrates, in seinem Buche über „Luft,
Wasser und Boden“ niedergelegten Grundsätze ansehen. Das Wasser ist
unentbehrlich für den Menschen, schlechtes Wasser kann unsere Gesundheit
schädigen, eine gute Wasserversorgung bewirkt ein Sinken der Sterblichkeits¬
ziffer. In der richtigen Erkenntniss der Wichtigkeit des Wassers liess die
niederländische Regierung schon 1866 sämmtliche Trinkwässer des Landes
untersuchen. Die Wasserfrage ist von verschiedenen Seiten aus zu beleuchten:
1) die chemische Zusammensetzung, 2) die physikalischen, 3) die physiolo¬
gischen Eigenthümlichkeiten, 4) der Ursprung des Wassers, 5) die Einflüsse,
denen es in seinem Laufe ausgesetzt ist, 6) die Menge Wasser, die jeder
Einwohner nöthig hat. Gletscher- und Schneewasser kann man benutzen,
Cisternenwasser nur gekocht, da es in der Atmosphäre suspendirte Partikel¬
chen enthält; Regenwasser, mit Sauerstoff gemischt, ist brauchbar, wenn es
keine organische Substanzen enthält; Sumpfwasser ist sehr bedenklich, da
es Mikroben enthält und contagiöse Krankheiten durch den Genuss erzeugen
kann; ammoniakhaltiges Wasser an sich ist nicht schädlich, nur, wenn es
in seinem Laufe Kupfer- und Arsensalze noch aufnimmt, kann es gefährlich
werden. Die meisten Städte, deren Brunnenwasser verdächtig ist, hat man
mit Wasserleitungen versehen, die aus artesischen Brunnen, Quellen, Seeen
oder Flüssen ihr Wasser nehmen. Die beiden ersten Quellen liefern in der
Regel ausgezeichnetes Wasser, Seeen meist auch, Flusswasser ist häufig
durch Fabrikabflüsse verunreinigt. Wünschenswerth ist es, dass ein möglichst
reines Wasser kostenlos oder wenigstens zu sehr geringem Preise an die
Einwohner abgegeben wird. So vorzüglich das Trinkwasser ist, das der
Haag durch seine Wasserleitung aus den Dünen bei Scheveningen bekommt,
so traurig steht es mit der Trinkwasserversorgung von Brüssel. Längst
schon hätte man eine Gebirgswasserleitung aus den Ardennen machen sollen,
und wäre sie auch noch so theuer geworden, das Geld wäre besser dafür
angewendet, als für Verschönerungen der Stadt, die ja sehr angenehm seien,
aber hinter Anlagen, die der öffentlichen Gesundheitspflege dienten, immer
zurückstehen müssten.
14*
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212 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Hierauf berichtete Dr. Haltenhoff (Genf) über die sieben Arbeiten
(vier in deutscher, zwei in englischer und eine in französischer Sprache), die
eingegangen waren „über die Ursachen der Blindheit und deren Verhütung“.
Der von der Gesellschaft T for the prevention of blindness u in London aus¬
gesetzte erste Preis von 2000 Francs wurde beinahe einstimmig der unter
dem Motto „ viribus unitis “ eingereichten Arbeit zuerkannt. Die Oeffnung
des Couverts ergab als Autor Professor Fuchs, gegenwärtig in Lüttich,
vom 1. October 1884 in Prag, einen geborenen Oesterreicher. Den zweiten
Preis, ausgesetzt von der französischen Gesellschaft „de Voeuvre internationale
pour Vamelioration du sort des aveugles w , 1000 Francs, erhielt ebenfalls eine
deutsch geschriebene Arbeit mit dem Motto: „Wie viel bleibt unsere That
unserer Hoffnung schuldig.“ Den dritten Preis, eine Medaille und das
Diplom der Mitgliedschaft oben genannter Gesellschaft de Voeuvre inter -
nationale etc. erhielt die englische Arbeit wegen ihres grossen klinischen
Werthes. Die Verfasser beider Arbeiten wurden nicht bekannt gegeben,
da bestimmungsgemäss die Couverte erst in Paris geöffnet werden sollten.
Dr. Snellen, dem Präsidenten der Jury, wurde der Dank für die Leitung
der Verhandlungen ausgesprochen.
Es kamen nun nach einer kurzen Geschäftsordnungsdebatte die ver*
schiedenen in den Sectionen beschlossenen Thesen zur Abstimmung:
1. Es wird der Wunsch ausgedrückt, einen neuen internationalen Ge¬
sundheitsrath zusammeuzurufen und ihn zu beauftragen, eine inter¬
nationale Commission zu ernennen, die ein internationales Straf¬
gesetzbuch in Betreff der Befolgung internationaler hygienischer
Maassregeln auszuarbeiten hat.
2. Es wird der Wunsch den Regierungen gegenüber ausgesprochen, das
Verbot der Leichenverbrennung aufzuheben.
3. Es sind nationale und internationale Maasregeln zu ergreifen in
Betreff des Transportes der Lumpen.
4. Es ist eine Commission zu ernennen, die sich mit der Frage der
Entwaldung zu befassen hat.
Sämmtliche Thesen wurden angenommen, und beschlossen, die nieder¬
ländische Regierung zu bitten, dieselben auf diplomatischem Wege den
übrigen Regierungen mitzutheilen.
Auf Vorschlag des Grafen Suzor (Petersburg) votirte die Versammlung
ihren Dank den Niederlanden, dem König der Niederlande und Allen, die
zu dem Zustandekommen und glücklichen Ausgange des Congrosses bei¬
getragen haben. Wien wurde durch Acclamation zum Sitz des VI. inter¬
nationalen Congresses für Hygiene und Demographie gewählt für das Jahr
1886 und dann der diesjährige Congress mit den üblichen Dankesreden
Seitens des Präsidenten und Gegenreden einzelner Mitglieder geschlossen.
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L Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
213
I. Section.
Allgemeine,
internationale und öffentliche Gesundheitspflege.
Berichterstatter: Br. R. Blasius.
Erste Sitzung.
Freitag, den 22. August.
Vorsitzender: Dr. Eggeling (Haag).
Der erste Gegenstand der Tagesordnung ist: Bericht der Commission,
beauftragt mit der Prüfung der Anträge des Herrn Professor Dr. Van den
Corput (Brüssel), einen internationalen Verein begründet zu sehen zur
gegenseitigen Anzeige der epidemischen Entwickelung von Infectionskrank-
heiten und zur Anwendung der besten prophylaktischen und bekämpfenden
Maassregeln.
Die Commission bestand aus: Professor Yan den Corput (Brüssel),
Dr. Le Roy de Mericourt (Paris), Professor De Chaumont und Pro¬
fessor Lewis (Netley-Southampton) und Professor Da Silva Amado
(Lissabon).
Obgleich Professor Van den Corput verhindert war, den Bericht auf
dem Congresse selbst zu erstatten, wird nach kurzer Debatte beschlossen,
in die DiscnBsion des Gegenstandes einzutreten.
Professor Crocq (Brüssel) verspricht sich mehr Nutzen, als man von
einem derartigen Verein zu erwarten habe, von einem gemeinschaftlichen
Vorgehen der Gesundheitsbehörden in den verschiedenen Ländern, die sich
entweder direct oder durch Vermittelung ihrer Regierungen mit einander
in Verbindung setzen könnten. Einstimmig von diesen anerapfohlene hygie¬
nische Maassregeln würden die meisten Chancen haben, von den Regierun¬
gen wirklich ausgeführt zu werden.
Professor Proust (Paris), Generalinspector des Sanitätswesens in
Frankreich, erwähnt, dass man schon 1875 auf der Wiener Conferenz und
kürzlich ip Washington versucht habe, eine derartige permanente Commission
für Epidemieen zu gründen, glaubt, dass man derselben aber keine Executive
geben dürfe, sondern dass dieselbe einen rein wissenschaftlichen Charakter
haben müsse und die Aetiologie und Phrophylaxe der Infectionskrankheiten
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214 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
studiren müsse. Um dies zu ermöglichen, sei ein gleichinässiges Programm
aufzustellen, wonach die Untersuchungen gemacht werden müssten, und es
seien, ähnlich wie vor einigen Jahren nach Vetljanka in Russland wegen
der Pest, nach Havannah wegen des gelben Fiebers, nach Egypten und
Indien wegen der Cholera wissenschaftlich raedicinisch gebildete Hygieniker
nach den Hauptheerden der Infectionskrankheiten zu senden, um wissen¬
schaftliche Untersuchungen über die Krankheiten anzustellen und bei Weiter¬
verbreitung derselben schleunigst an die zunächst betheiligten oder gefähr¬
deten Länder zu berichten.
Professor Al gl ave (Versailles), Lehrer der Nationalökonomie in der
juristischen Facultät der Universität Paris, glaubt, dass nur Einstimmigkeit
sämmtlicher Mächte etwas nützen könne und z. B. das Vorgehen Englands
gegen die Seequarantänen die Maassregeln aller übrigen Mächte nutzlos
mache. Die Delegirten würden immer mehr oder weniger gebunden sein
durch die Instructionen ihrer Regierungen. Besser sei es, im Sinne einer
Akademie ein internationales hygienisches Institut zu gründen, das einen
internationalen hygienischen Codex vorzuschlagen habe, der dann einer inter¬
nationalen Conferenz von Diplomaten und Juristen zur Festsetzung der
Strafen bei Vergehen gegen den internationalen Codex vorgelegt würde.
Professor Felix (Bucharest) glaubt, dass in einzelnen Ländern schon
genügend für Gesundheitsberichte geschähe, so in Paris mit dem Bureau de
statistique mtdicale , in Belgien mit den Bulletins von Jansen, in Berlin
mit den Veröffentlichungen und Berichten des Reichsgesundheits¬
amtes, aber es fehle noch das Zusammenwirken zwischen allen, er beantragt
daher, die niederländische Regierung zu bitten, bei den übrigen Regierungen
Schritte zu thun, dass eine internationale sanitäre Commission gebildet würde,
die einen wesentlich consultativen Charakter habe und bei der die einzelnen
Regierungen bei drohenden Epidemieen sich Rath holen könnten, nur müsse
die Commission besser ihre Schuldigkeit thun, als die in Egypten und Con-
stantinopel.
Professor Zoeros-Bey (Lehrer in der medicinischen Facultät in Con-
stantinopel) vertheidigt die internationalen Sanitätscommissionen in Con-
stantinopel und Egypten und hält es für das grösste Hinderniss eines inter¬
nationalen Sanitätscodexes, dass gewisse Länder ihre Handelsinteressen höher
stellen als die des menschlichen Lebens.
Professor Rochard traut einer einfachen permanenten wissenschaft¬
lichen Commission nicht die genügende Autorität deu Regierungen gegen¬
über zu; mehr Resultate würde man haben, wenn die zeitweise Delegirten
der einzelnen Länder einen internationalen Sanitätscodex zusammenstellten,
der dann Gesetzeskraft erhielte.
Professor Crocq hält einen derartigen Codex, der Gesetzeskraft habe,
für den Stillstand der Wissenschaft, verwahrt sich energisch dagegen und
findet seine früher ausgesprochenen Ansichten ziemlich identisch mit denen
von Proust.
Professor Brouardel (Paris) schliesst sich der Ansicht von Al-
glave an.
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I. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
Graf Suzor (Professor der Hygiene am Polytechnicum in Petersburg)
ist nicht der Ansicht, dass, wie von Zoeros-Bey angedeutet, England aus
eigennützigen Interessen geg$n Seequarantänen sei, sondern nur desshalb,
weil es durch hygienische Maassregeln im eigenen Lande den Boden weniger
empfänglich für Infectionskrankheiten gemacht habe.
Zum Schlüsse wurden folgende von Proust vorgeBchlagene Thesen
angenommen:
1. eine neue internationale Conferenz zu bilden;
2. eine wissenschaftliche permanente Commission zu ernennen, die sich
stets mit den Gesundheitsämtern sämmtlicher Länder in Verbin¬
dung hält;
3. ein internationales Gesundheitsgesetzbuch heranszugeben und
(von Felix als Zusatzantrag gestellt)
4. die Vermittelung der niederländischen Regierung bei den übrigen
Mächten in Anspruch zu nehmen.
Zweite Sitzung.
Sonnabend, den 2 3. August.
Vorsitzender: Professor Dr. Finkelnburg (Bonn).
Dr. Dutrieux-Bey (Alexandrien) hielt einen Vortrag über den
Prophylaktischen Werth der Quarantänen nach den
über den Ursprung der asiatischen Cholera in
Damiette, Toulon und Marseille erhaltenen Nach¬
richten.
Die Cholera existirte schon lange vor dem ersten Damietter Erkrankungs¬
falle in Egypten, auch in Toulon war sie lange vor dem 14. Juni, der erste
Fall ereignete sich am 18. Januar. Manche behaupten, dies seien Fälle von
Cholera nostras gewesen, zwischen dieser und der asiatischen existirt kein
Unterschied. Die Cholera verbreitet sich selten durch Ansteckung, sie
hängt wesentlich von einer epidemischen Constitution der Gegend ab, ähn¬
lich wie der Typhus. Während man Quarantänen am Rothen Meere macht,
versäumt man die Assanirungsmaassregeln im eigenen Lande. Wenn man
überhaupt Quarantänen haben will, muss man sie länger ausdehnen, min¬
destens auf 45 Tage nach den Erfahrungen mit der Sarthe in Toulon.
Cholera existirt immer in Europa; kommen nur vereinzelte Fälle, so nennen
wir sie Cholera nostras, treten sie epidemieenartig auf, so sprechen wir von
Cholera asiatica. Die Quarantänen haben gar keinen prophylaktischen
Werth, ausser auf isolirten Inseln, für denContinent sollte man sieaufheben
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216 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
und nach den Beschlüssen der Wiener Conferenz durch eine strenge Sani-
tätsinspection und Desinfection ersetzen.
Proust bestreitet zunächst, dass^ie Wiener Conferenz sich gegen die
Quarantänen ausgesprochen habe, dies sei nur von Herrn Semmola dort
geschehen, sie habe im Gegentheil eine strenge Quarantäne für den See¬
weg im Rothen Meere, für den Landweg am Kaspischen Meere beschlossen
und sich einstimmig dafür erklärt, dass die Cholera immer in Europa ein¬
geschleppt und nie dort autochthon entstanden sei. Redner wendet sich
dann gegen die Behauptungen von Dutrieux-Bey, dass schon seit Januar
dieses Jahres in Toulon Cholerafalle vorgekommen seien, die Untersuchung,
die Dutrieux-Bey zu diesem Schlüsse geführt habe, sei nicht exact ge¬
macht, denn in einer Stunde könne man nicht 1500 Krankengeschichten
genau durchsehen; sämmtliche Aerzte Toulons hätten der Pariser Commis¬
sion, ihm, Brouardel und Rochard erklärt, dass vor dem 18. Juni kein
Cholerafall vorgekommen sei, diesen müsse man glauben. Was Egypten
anbetrifft, so habe der von der französischen Regierung hingeschickte Mähe
erklärt, dass vor dem Falle von Damiette kein Cholerafall in Egypten vor¬
gekommen sei.
Dutrieux-Bey behauptet, seine Untersuchungen in Toulon genau
gemacht zu haben und erklärt, dass Mähe nur Damiette und Port-Said,
aber nicht das Nildelta besucht habe. Ferner läugnet er, dass irgend ein
Fall von sicher eingeschleppter Cholera bekannt sei, dass die Quarantänen
irgend welchen Nutzen hätten und stellt den Satz auf, dass noch Niemand
den Unterschied zwischen asiatischer und europäischer Cholera angegeben
habe (!!!).
Brouardel giebt als Unterschied beider Choleraarten an, dass die
asiatische Cholera sich verbreite und eine Menge Neuerkrankungen wie um
eineu Heerd erzeuge, während die europäische an dem einen Orte bleibe, an dem
sie einmal herrsche — übrigens existire weder pathologisch, anatomisch noch
symptomatisch ein Unterschied. Die Hauptsache sei immer, ob die Cholera
sich verbreite oder ob sie von localer Art sei. Alle, die mit ihm der An¬
sicht seien, dass die Cholera vom Auslande herkomrae, müssten für Quaran¬
tänen und Verbesserung derselben sein.
Zoeros-Bey ist feBt der Ansicht, dasB die Cholera immer eingeschleppt
werde. 1854 wurde sie nach der Krimm ein geschleppt, 1865 wusste man
genau, durch welches Schiff sie hergebracht war. Als Ausläufer der Epi¬
demie von 1865 wurde sie nach einer Insel des Archipels gebracht, man
legte dieser eine Behr strenge Quarantäne auf und die Cholera erlosch.
1867 kamen plötzlich in einem Saale eines Hospitales in Constantinopel
Cholerafälle vor, eine genaue Untersuchung ergab, dass hierin 1865 Cholera¬
kranke gelegen hatten und man den Saal ein Jahr leer liess, ohne ihn zu
erneuern. Die Cholerakeime waren offenbar in dem Saale geblieben und
hatten jetzt die Neuerkrankungen hervorgebracht. Natürlich wurde jetzt
der Saal vollständig erneuert. In Constantinopel und der ganzen Türkei
sei man fest überzeugt, dass die Cholera nur dort eingeschleppt werde.
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217
I. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
Proust stellt nochmals das einstimmige Urtheil der Aerzte in Toulon
dem von Dutrieux-Bey gegenüber, der drei Tage dort war und davon
eine Stunde im Hospital St. Mondrier.
Dutrieux-Bey läugnet die Einschleppung der Cholera 1854 und
wiederholt, dass man keinen einzigen Fall von Einschleppung anführen
könne, ausser wenn überhaupt ein epidemischer Einfluss bestanden habe.
Crocq hält an der Uebertragbarkeit der Cholera fest und hält daher
die Quarantänen für nothwendig, namentlich zur See, während sie zu
Lande mehr Nachtheil als Vortheil bieten, aber auch, wie z. B. inVetljanka,
Nutzen gebracht haben: Er und
Rochard stellten zum Schlüsse folgende Resolution auf: „Die See-
qnarantänen sind gesetzlich aufrecht zu erhalten und zu verbessern“,
Dutrieux-Bey dagegen: „Die Quarantänen sind abzuschaffen und durch
strenge Sanitätsinspection und Desinfection zu ersetzen.“
Die Resolution Rochard wurde mit allen Stimmen gegen Dutrieux
und Smith (London) angenommen, der nachher erklärt, die Uebertragbar¬
keit der Cholera anzuerkennen, aber nicht den Nutzen der Seequarantänen.
Diese Discussion hatte volle zwei Stunden gedauert. Die Resultate
kann sich der Leser aus der gegebenen kurzen Skizze selbst entnehmen.
Wunderbar war es, dass man, nachdem die Koch’sehen Untersuchungen
über den Cholerabacillus alß diagnostisches Kriterium bereits seit dem Win¬
ter bekannt waren, seit Koch deu Herren Collegen, die zum Theil hier die
Debatte führten, in Toulon selbst den Bacillus deraonstrirt hatte, von seinen
ganzen Forschungsresultaten nichts erwähnte, dass ebenso die bahnbrechen¬
den Untersuchungen Pettenkofer’B über die Einwanderungen der Cho¬
lera aus Indien nach Europa nicht einmal genannt wurden. Da die ganze
Debatte einen durchaus französischen Charakter trug (es wurde nur fran¬
zösisch gesprochen!) war es schwer, für einen Deutschen, in die Discussion
einzugreifen und die fruchtlosen Debatten vielleicht durch einige kurze
thatsächliche Bemerkungen zu verkürzen. Ein Deutscher, der deutsch sprach,
wäre voraussichtlich gar nicht verstanden und in einer lebhaften Discussion,
wie sie hier zum Theil mit nicht angenehmen persönlichen Angriffen geführt
wurde, in französischer Sprache einzugreifen, ist schwierig. Ich stimme ganz
mit Professor Val 1 in in seinem Berichte über den Haag ( Revue (Shygibie
publique et de pölice sanitaire, Tom. VI, Nr. 9, p. 797) überein, dass jeder
mindestens die drei Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch versteht,
und dass Jeder das Recht hat, in Beiner eigenen Sprache den Anderen die
Wahrheit zu sagen. Erst dann ist vorauszusetzen, dass Jeder die wissen¬
schaftlichen Arbeiten anderer Länder kennt und versteht und es am 23..
August 1884 sich nicht ereignen kann, dass man stundenlang über Cholera
discutirt, behauptet, Cholera nostras und asiatica wären nicht zu unter¬
scheiden, und weder der Name Pettenkofer noch Koch erwähnt.
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218 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Dritte Sitzung.
Montag, den 2 5. August.
Vorsitzender: Dr. Rocliard (Paris).
Professor Corradi (Pavia) sprach über die
Resultate der Untersuchung in Betreff der Ueber-
tragbarkeit der Lungensohwindsuoht.
Der Redner giebt zunächst die Resultate der Untersuchung über die Ur¬
sachen und die Verhütung der Lungenschwindsucht, die ähnlich wie früher
von der „medicinischen Gesellschaft in Berlin“ von der Societa iialiana
d’hygiene jetzt ausgeführt ist. Diese Untersuchung ist noch nicht vollendet,
man kann aber dennoch schon einige vorläufige Resultate daraus mittheilen.
Bis jetzt sind 680 Antworten auf die Fragebogen von den italienischen
Aerzten eingesandt, 59 (6’8 Proc.) bestätigen die Ansteckung, 497 (73Proc.)
halten dieselbe weder für wahrscheinlich noch für nachgewiesen, 124 (18 Proc.)
leugnen sie gänzlich, ln diesen letzten 124 Fällen handelte es sich 64 Mal
um Ehegatten, 60 Mal um Verwandte, die zusammen lebten, kein einziges
Mal wurde die Krankheit übertragen. In Rom wurden Experimente in den
Instituten gemacht, die zeigten, dass die Uebertragung der Tuberculose sich
bei schwächlichen Thieren viel leichter ausführen liess, als bei sehr kräf¬
tigen. Sormani hat gezeigt, dass die in der Luft sich findenden Tuberkel¬
bacillen nur von vertrockneten Sputis herrühren, und dass solche trockene
Bacillen nur fünf bis sechs Monate lebensfähig bleiben. Aus diesen Unter¬
suchungen kann man folgende Schlüsse ziehen:
1. Die Ansteckung der Lungenschwindsucht ist möglich.
2. Um diese hervorzurufen, sind gewisse Bedingungen nothwendig
namentlich ein längeres Zusammenwohnen.
3. Schwäche und alle Momente, die die Widerstandsfähigkeit des Orga¬
nismus verringern, erleichtern die Ansteckung.
4. Die Ansteckung durch Kleidungsstücke etc. ist noch nicht hinreichend
erwiesen.
5. Es ist zweifelhaft, ob Milch und Fleisch von tuberculösen Thieren,
namentlich, nachdem sie gekocht sind, die Krankheit übertragen
können.
6. Prophylaktische Maassregeln können sich nach dem jetzigen Stande
der Wissenschaft nur auf das Zusammenwohnen mit Tuberculösen
beziehen.
7. Die Untersuchung dieser Frage muss fortgesetzt werden in den ver¬
schiedenen Ländern auf Grundlage gleichmässiger Fragebogen.
Professor Vallin (Paris) ist im Allgemeinen der Ansicht deB Vorredners,
warnt aber davor, die Gefahr der tuberculösen Ansteckung zu sehr zu über¬
treiben. Die Frage der Uebertragbarkeit der Schwindsucht hat einen grossen
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219
I. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius),
Schritt vorwärts gethan durch die Entdeckung des Tuberkelbacillus von Koch,
und durch die Untersuchung der Tuberculose durch die British medical
association 1883. Es wurden 260 Fälle genau beobachtet, die die An¬
steckung bewiesen bei Leuten, die zusammen gewohnt, zusammen in einem
Bette geschlafen, oder die Kleider von an Schwindsucht Verstorbenen ohne
Vorsicht getragen hatten. Diese Untersuchung hat ergeben, dass die An¬
steckung der Schwindsucht ebenso leicht und ebenso häufig ist, alB bei
Pocken, Scharlach, Diphterie u. s. w. Zahlreiche Untersuchungen, wie
z. B. von Landouzy, Debove etc., haben ergeben, dass Personen, die
an Erkrankungen der Respirationsorgane leiden, bei denen das Epithelium
der Bronchien nicht mehr intact ist, wie Bronohitis, Pneumonie etc., viel
leichter der Ansteckung der Tuberculose ausgesetzt sind, als Leute mit
gesundem Lungenepithel, man muss daher Kranke oder Reconvalescenten
von Bronchitis, Laryngitis, Pneumonie etc., sowohl im Privathause als auch
im Hospitale von Tuberculösen fern halten, ganz besonders bei Kindern.
Grosse Vorsicht muss auch beobachtet werden gegen Kranke mit tubercu¬
lösen Mund- und .Zungengeschwüren, namentlich in Bezug auf Ess- und
Trinkgeschirre, die nicht von Gesunden nachher benutzt werden dürfen.
Am gefährlichsten sind die Sputa, die desinficirt werden müssen und nicht
durch Austrocknung in die Luft fein vertheilt werden dürfen. Nach
Koch ist das sicherste Mittel dagegen Kochen im Wasser, um aber die
Sputa nicht verstäuben zu lassen, lasse man sie in Spucknäpfe speien, die
mit Sand oder absorbirendem Pulver angefüllt sind, das leicht mit Glycerin
befeuchtet wird, dem man eine Lösung von Chlorzink, Kupfervitriol oder
Sublimat zusetzt. Das Spucken in die Taschentücher ist streng zu ver¬
meiden.
Namentlich in klimatischen Curanstalten sind die Sputa auf das
Strengste zu beachten, zu desinficiren, die Gardinen, Wäsche, Tapeten zu
reinigen und die Fussböden auf das Gründlichste mit kochendem Wasser zu
waschen. In allen solchen Curanstalten müssen Desinfectionsanstalten mit
heissen Wasserdämpfen sein. Aehnlicbe Vorsichtsmaassregeln sind auch in,
Privathäu8ern zu ergreifen, möglichst das Zusammenschlafen mit Phthisischen
ist zu verbieten, die Zimmer permanent zu lüften und mit Carbolspray zu
reinigen.
Chauveau hat gezeigt, dass, obgleich die Möglichkeit, die Tuber¬
culose durch Impfung zu übertragen, nicht geleugnet werden kann, doch die
Tuberkelimpfungen unter die Epidermis meistens ohne Erfolg sind, nichts
desto weniger ist es richtiger, zur Vaccination kleine Kinder zu nehmen, bei
denen die Tuberculose sehr selten ist, oder noch besser Kälber, die man
nach der Impfung schlachtet und die Lymphe nur benutzt, wenn sie gesund
befunden wurden.
Zum Schlüsse schliesst sich Val 1 in ganz den Wünschen Corradi’s in
Betreff einer gleichmässigen Enquete in allen Ländern an und stellt folgende
Thesen auf:
1. Es ist zu vermeiden, Zimmer und Bett eines Phthisischen im vor¬
geschrittenen Stadium zu theilen. Zimmer Phthisischer sind fort¬
während zu lüften.
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220 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
2. Die tuberculösen Sputa dürfen nicht auf den Boden oder die Wäsche
gespieen werden.
3. Zimmer, Wäsche, Kleider eines Phthisischen müssen vor dem Wieder¬
gebrauch desinficirt werden (am besten Wasserdämpfe von 100° und
Waschen mit kochendem Wasser!).
4. Reconyalescenten von Lungenkrankheiten und schwächliche Menschen
müssen das längere Zusammensein mit Tuberculösen vermeiden.
Dr. Jorissenne (Lüttich) glaubt an die Uebertragung der Tuber-
culose durch die Milch und führt eine Reihe von Beispielen der Ansteckung
aus Hospitälern an.
Dr. Ruiz de Cerro (Madrid) hat Kali hypermanganicum mit gutem
Erfolge zum Desinficiren der Sputa angewendet
Dr. Teissier (Lyon) glaubt, dass man die Gefahr der Ansteckung
nicht übertreiben dürfe. Die neueren Untersuchungen von Landouzy
und Martin haben gezeigt, dass viele Kinder von tuberculösen Eltern
geboren, vom Uterinleben her Tuberkelbacillen in sich haben, die in ihrer
Entwickelung unendlich lange verzögert werden können durch eine gesunde
Ernährung. Bei allen durch Erblichkeit für Tuberculose disponirten Indi¬
viduen kommt Alles'auf eine ganz gesunde Ernährung an.
Corradi theilt die Ansichten von V all in und erwähnt noch, dass
unzweifelhaft die Pflegeschwestern und Krankenwärter der Ansteckung sehr
wenig unterliegen, wesshalb, ist unbekannt
Rochard wünscht eine allgemeine Enquete, die Mittheilungen von
130 000 Aerzten müssten Klarheit in die Frage bringen.
Felix und Dr. Verstraeten (Gent) wünschen, dass man phthisische
Kinder aus den öffentlichen Schulclassen entferne.
Vallin warnt davor, das nichtängstliche Publicum durch solche
MaaBsregeln zu alarmiren und glaubt, dass überhaupt sehr selten tubferculöse
Kinder die Schule besuchten.
Nach einigen kurzen Bemerkungen von Lubelski, Zoeros-Bey,
Smith und L uni er, werden die Vorschläge V all in’s fast einstimmig
angenommen. Zur Aufstellung des Fragebogens wird eine Commission er¬
nannt, bestehend aus Corradi, Emmerich, Jorissenne, Teissier
und Vallin.
Hierauf las Privatdocent Dr. Emmerich (München) im Aufträge des
durch Krankheit am Erscheinen verhinderten Professors F o d o r (Pest),
dessen Vortrag vor über:
Die Nützlichkeit und Noth wendigkeit hygienischer
Lehrstühle und Laboratorien an allen Universi¬
täten,
dessen Resumö in folgenden Sätzen gipfelte:
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I. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius). 221
1. Es ist Aufgabe der Hygiene, die wichtigen Naturkräfte, welche auf
die Gesundheit des Einzelnen ebenso wie auf die der Bevölkerung
ein wirken, zu erforschen.
2. Der erfolgreiche Schutz und die wirksame Entwickelung des privaten
und öffentlichen Gesundheitswesens hängt von dem Fortschritt der
Hygiene ab.
3. Es ist folglich von höchster Wichtigkeit, sowohl in wissenschaftlicher,
als auch in socialer Hinsicht, dass die Hygiene eine intensivere
Pflege erfahre.
4. Die Hygiene bedarf zu ihrer wissenschaftlichen Entwickelung aller
Hülfsmittel der naturwissenschaftlichen Forschung: besonderer Lehr¬
stühle und entsprechend eingerichteter und dotirter Laboratorien an
den Sammelpunkten wissenschaftlicher Thätigkeit, den Universitäten
und medicinischen Schulen.
5. Die Aufgabe der hygienischen Lehrstühle und Laboratorien * besteht
ausser der wissenschaftlichen Forschung in der Unterweisung der
Studirenden in den Lehren der Hygiene, wie es der hohen wissen¬
schaftlichen Ausbildung der Aerzte zukommt und wie es ihren
praktischen Bedürfnissen entspricht. Ferner ist es ihre Aufgabe, der
öffentlichen Gesundheitspflege die wissenschaftlichen Hülfsmittel und
ausgebildete Fachkräfte zu liefern.
6. Der Congress richtet an die Regierungen, sowie an die Vorstände
der Universitäten und medicinischen Fachschulen eine Denkschrift,
in welcher derselbe die Errichtung hygienischer Lehrstühle und
Laboratorien, die Beförderung des Studiums der Hygiene dringend
empfiehlt.
7. Der Congress entsendet ein permanentes Comite, welches das Unter¬
richtswesen der Hygiene in allen Ländern aufmerksam verfolgt, und
über die Fortschritte auf diesem Gebiete den Congressen Bericht
erstattet.
Graf Suzor unterstützt die Forderungen von Professor Fodor und
stellt (zuerst französich, dann deutsch) das Amendement, dass ausser auf
Universitäten und medicinischen Schulen auch anf allen höheren Schulen
Lehrstühle für Hygiene eingerichtet würden. In Russland und Deutsch¬
land bestehen dieselben schon auf vielen technischen Hochschulen, es ist
sehr wünschenswerth, dass diese Einrichtungen möglichst in allen Länderu
eingeführt werden und dass, um dies zu fördern, ein internationales Comitö
ernannt wird, das dem nächsten Congress darüber berichtet, wie die Er¬
richtung von hygienischen Lehrkanzeln Fortschritte gemacht hat.
Dr. Blasius (Braunschweig) unterstützt (erst deutsch, dann französisch)
dieses Amendement mit Hinweis darauf, wie wichtig es sei, wenn gerade
an technischen Hochschulen Hygieniker mit Architekten, Ingenieuren und
Maschinisten etc. zusammen wirkten, da viele hygienischen Fragen erst
durch die Einführung in die Praxis duröh die Techniker zum Nutzen der
öffentlichen Gesundheitspflege erledigt werden könnten, und derartige
praktische Arbeiten ja durch gemeinschaftliches Arbeiten der genannten
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222 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Docenten an ein und derselben Lehranstalt offenbar sehr gefordert werden
könnten.
Nach einigen Worten von Professor Alglave wird das Amendoment
S u z o r angenommen.
Vierte Sitzung.
Dienstag, den 2 6. August.
Vorsitzender : Professor C o r r a d i (Pavia).
Dr. van Tienhofen (Haag) sprach über
Die medicinisohen Maassregeln, die bei dem ersten
Falle einer epidemischen ansteckenden Krankheit
in einer grösseren Stadt zu ergreifen sind.
So gut man bei einem Brande das Feuer auf seinen Herd zu beschranken
sucht, muss man auch bei den ansteckenden Krankheiten den ersten Fall
energisch angreifen, sofort der Behörde, sei es durch die Aerzte oder durch
die Hausvorstände, anzeigen, und ihn isoliren. Zu diesem Zwecke hat der
Redner einen Apparat erfunden, der an jedem Hospitale leicht angebracht
werden kann. In diesem Apparate wird die Desinfection der Kleidungs¬
stücke, Wäschegegenstände etc. vorgenommen mit Hülfe von heissen VTasser-
dämpfen. Der Kranke befindet sich in einem in dem Apparate vorhandenen
Bette, die von ihm ausgeathmete Luft geht durch ein Rohr in den Ofen, der
die heissen Wasserdämpfe hervorbringt. In den Ofen selbst werden alle
zu zerstörenden Gegenstände, Abfälle etc., zur Verbrennung geworfen. Essen,
Arznei etc. werden durch eine kleine fensterartige Oeffnung in den Apparat
hineingebracht. Der den Kranken behandelnde Arzt hat ein zweites Bett
in dem Apparate zu benutzen und so lange mit dem Kranken darin zu
bleiben, bis die Incubationszeit der Ansteckung für ihn selbst vorüber ist.
Redner wird selbst gern in einem solchen Falle mit dem Kranken ans¬
halten (Allgemeiner Beifall!) und bedauert, dass die gesetzlichen Be¬
stimmungen gerade für den ersten Fall einer ansteckenden Krankheit nicht
Btrenger sind.
Vallin wünscht die Krankheiten genau bezeichnet zu sehen, die so
rigorös behandelt werden sollen, seiner Ansicht nach würden nur die Cholera
dazu zu rechnen sein.
Rochard ist der Ansicht, dass eine derartige Isolirung in den grösseren
Städten nicht durchzuführen ist, da die Aerzte sich doch auch ihren übrigen
Kranken widmen müssten, und die Ausserdienststellung eines Arztes z. B.
bei Variola 40 Tage dauern würde.
Dr. Lunier (Paris) bezweifelt, dass man das Recht habe, einen mit
ansteckender Krankheit Behafteten sofort mit Gewalt aus seiner Privat¬
wohnung, aus seiner Familie herauszureissen.
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I. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius), 223
yan Tienhoven hat zunächst die Cholera im Auge gehabt, aber auch
andere Krankheiten dürften so streng behandelt werden, allein im Haag
würde sich ausser ihm wohl kein anderer Arzt finden, der sich mit dem
Kranken isoliren Hesse.
Dutrieux-Bey macht auf die Schwierigkeiten aufmerksam, den ersten
Erkrankungsfall bei einer Epidemie rechtzeitig zu erkennen.
Lunier glaubt, dass die Vorschläge Tienhoven’s nur bei obligato¬
rischer Anzeigepflicht der Aerzte durchzuführen sei, während z. B. in
Frankreich die Aerzte gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet seien.
yan Tienhoven erwidert, dass in Holland und den meisten nörd¬
lichen Staaten die Anzeigepflicht bei contagiösen Krankheiten gesetzlich
vorgeschrieben sei.
Al gl ave glaubt, dass z. B. bei Cholera die Aerzte in Frankreich von
der Verschwiegenheit durch ein Gesetz entbunden werden könnten.
Rochard erinnert daran, dass man 1884, sowie früher 1832 in Süd¬
frankreich bei den Choleraepidemieen, die Aerzte beschuldigt, die Kranken
zu vergiften, und sie thätlich angegriffen habe; diese Zustände würden bei
officieller Anzeigepflicht noch viel schlimmer werden bei dem krassen Aber¬
glauben der unteren VolksclaBsen, mit dem man rechnen müsste.
Hierauf spricht Professor Dr. Stokvis (Amsterdam) über die
Rolle, die die Mikroben bei den ansteckenden Krank¬
heiten spielen.
Redner bekämpft die Hypothese, dass die Bacterien in den Körper ein-
dringen, und darin das Bestreben hätten, den lebenden Körper zu zerstören.
Panum und Selmi haben gezeigt, dass bei Infectionskranken sich eigen¬
tümliche chemische krystallisirbare Stoffe im Blute finden, Ptomaine, die
den Alkaloiden ähnlich sind, und ausserordentlich giftig wirken, wie das
Nicotin. Diese Stoffe werden von den Bacterien gebildet, ausserdem aber
wirken diese noch dadurch schädlich auf den menschlichen Körper ein, dass
sie seine chemischen Moleküle zersetzen, dadurch chemische Stoffe frei
werden lassen, die auf die Eisen-, Kalk- und andere Salze des Körpers
wirken. Die Zersetzungsproducte derselben üben dann einen schädlichen
und lebensgefährlichen Einfluss aus auf das Blut, das Herz, das Gehirn u. s. w.
Nicht die Bacterien als solche bringen dem Körper Gefahr, sondern die
chemischen Processe, die sie veranlassen.
Dr. M. E. Raymondaud (Limoges) schlägt die Bildung einer all¬
gemeinen Gesellschaft vor zur Verteidigung gegen die grossen
Epidemieen, wie Pest, Cholera, Gelbes Fieber etc. Die Gebildeten
aller Völker sollen sich zusammenthun, die Epidemieen an ihren Ursprungs¬
orten aufzusuchen und dort zu bekämpfen.
Eine Discussion knöpfte sich an die beiden letzten Mittheilungen nicht.
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224 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Fünfte Sitzung.
Mittwoch, den 27. AngnBt.
Vorsitzender: Dr. Eggeling (Haag).
Zunächst kam es wieder za einer sehr heftigen, unerquicklichen Dis-
cussion über die von Herrn Dutrieux-Bey am Schlüsse der zweiten Sitzung
aufgestellte These in Betreff des Ersatzes der Quarantäne durch gründliche
Sanitätsinspection, die seiner Zeit nicht zur Abstimmung gebracht wurde.
Zoeros-Bey sprach wieder sehr energisch für Quarantänen, Corfield da¬
gegen, ebenso Smith, Rochard vertheidigte seinen damaligen Standpunkt,
da er eine Gegenprobe (weiter sei die Dutrieux’sche These nichts gegen¬
über der seinigen, die mit allen gegen zwei Stimmen angenommen wurde)
nicht für nöthig gehalten hätte; endlich kam es zur Abstimmung. Die
Dntrieux’sche These wurde mit 25 Stimmen gegen 12 abgelehnt, 12 ent¬
hielten sich der Abstimmung.
Darauf wurde der gestrige Vorschlag von Raymondand angenommen
und dem nächsten internationalen hygienischen Congresse aufgetragen, eine
Commission zu ernennen zur Einleitung der nöthigen Schritte.
Professor Corfield (London) übernimmt das Präsidium und ertheilt
das Wort, Herrn
Dr. Emmerich (München) zu seinem Vortrage über die
Ursache der Diphterie ,des Menschen und der Tauben.
Bis jetzt war es nur gelungen, die Mikroorganismen des Milzbrandes, der
Schwindsucht, des Rückfalltyphus als wirkliche Urheber dieser Krankheiten
bei Menschen und Thieren festzuBtellen. Wenn auch die Diphterie eine
der ältesten und mörderischsten Krankheiten ist, so war eB bisher nicht
möglich gewesen, ihre Bacterien rein zu cultiviren. Diphterie ist so alt
wie das Menschengeschlecht, bei Homer und Hippokrates finden wir sie
erwähnt, im 9., 11., 14. und 16. Jahrhundert hat sie in Europa und Nord¬
amerika furchtbar gewüthet, z. B. 1517 in Basel in acht Monaten 2000, im
Anfänge des 17. Jahrhunderts in Unteritalien 60 000 Menschen hingerafft.
Mitte des 18. Jahrhunderts wanderte sie wieder durch Spanien, Portugal,
Frankreich, Deutschland, England, die Niederlande und Schweden, wurde
dann fast 50 Jahre lang nicht beobachtet und erschien 1820 von Neuem
und verbreitete sich über den grössten Theil der Erde in der mörderischsten
Weise. In Bayern starben daran jährlich über 10 000 Menscfien, in Paris
nimmt sie in den Sterblichkeitstabellen nach Lungenschwindsucht und
Lungenentzündung den dritten Platz ein. Die durchschnittliche Sterblich¬
keit ist 15 bis 20, zuweilen steigt sie auf 70 Proc., also höher als bei der
Cholera. Manche Gelehrte halten es für richtiger, die Diphterie zu unter¬
suchen, als wissenschaftliche Expeditionen nach Egypten und Indien zu
senden für die Cholera. Eine mörderische Hausepideraie in München ver-
anlasste die vorliegende Diphterieuntersuchung. Zunächst wurden die
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225
L Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
Reinculturen vod Diphteriepilzen aus Diphteriemembranen ausgefuhrt bei
Menschen und Tauben und dabei im Gegensatz zu Löffler constatirt,
dass bei beiden derselbe Pilz yorkommt. Kleine Verschiedenheiten bei den
pathologisch-anatomischen Vorgängen erklären sich aus der verschiedenen
Beschaffenheit der Schleimhaut bei Menschen und Tauben. Dafür, dass die
Dipbterie zu gleicher Zeit Thiere und Menschen befällt, liegen zahlreiche
Beispiele vor. Solche Beispiele sind schon aus dem Anfänge des 16. Jahr¬
hunderts bekannt, wo die Dipbterie in den Kuhheerden wütbete und zu
gleicher Zeit die Hirten davon befallen wurden; letzthin hat Professor
Gerhardt in Würzburg Epidemieen beschrieben, die gleichzeitig unter
Kälbern, Hunden und dem Geflügel wütheten.
Die Irapfversucbe wurden angestellt an 10 Tauben, 12 Kaninchen und
15 weissen Mäusen, sämmtliche Thiere erkrankten in typischer Weise. Die
Sectionsberichte und Krankengeschichten wurden ausführlich mitgetbeilt,
die mikroskopischen Präparate in Abbildungen und die Reinculturen in
natura vorgezeigt. Bei sämmtlichen Versuchstieren ausser bei zwei Tauben
konnten nach dem Tode nicht bloss in den Diphteriemembranen und den
darunter befindlichen Schleimhäuten, sondern auch im Blute und den inneren
Organen, namentlich in den Nieren die Diphteriebacterien nachgewiesen
werden.
Nachdem nun der Diphteriepilz sicher constatirt ist, gilt es ihn zu
bekämpfen, das Terrain, auf dem er sich entwickelt, und seine Existenz¬
bedingungen zu erforschen. Die oft ventilirte Frage, ob die Diphterie sich
durch die Milch weiter verbreitet, ist nun einfach experimentell dadurch zu
lösen, dass wir versuchen, ob die Diphteriebacterien sich in der Milch
weiter entwickeln können.
Das Hauptaugenmerk müssen wir darauf richten, die Diphteriebacte¬
rien in ihrem ectogenen Nährboden aufzusuchen; wahrscheinlich ist ihr
Keimboden der Erdboden, der Boden unter den Wohnungen und die
Zwischendecken. Diese sind überhaupt oft der Sitz von Bacterien. So
gelang es dem Redner in Amberg im Gefängnisse, wo seit 25 Jahren epide¬
mische Lungenentzündung vorkam, in der Zwischendeckenfüllung Pneumonie-
coccen in grossen Mengen aufzufinden. Nach Entfernung der Zwischen¬
deckenfüllung kam kein Erkrankungsfall an Lungenentzündung mehr vor.
In dem neuesten Sanitätsbericht für Bayern wird ein exquisiter Fall von
Diphterie durch Ansteckung aus der Fussbodenfüllung mitgetheilt. In
einem kleinen Zimmer unter dem Dache des Kirchthurms erkrankten drei
Kinder an Diphterie und starben, die Eltern zogen aus, das Zimmer wurde
auf das Gründlichste desinficirt, gereinigt etc., eine andere Familie zog ein
und die sämmtlichen Mitglieder derselben erkrankten wieder an Diphterie.
Da im Orte gar keine Diphterie sonst vorkam, da durch die gründliche
Desinfection alle anderen Ansteckungsquellen ausgeschlossen waren, so bleibt
nur als solche der unter den Fussbodenbrettern befindliche Schmutz und
Boden übrig. Curven der Dipbteriemortalität in Städten über 15 000
Einwohnern, gesammelt von Herrn Medicinalrath Fr. Hofmann in Regens¬
burg, wurden gezeigt, sie demonstriren deutlich in einem Zeiträume von
acht Jahren, dass die Diphterie in den Monaten die grösste Sterblichkeit
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1885. 25
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226 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
zeigt, wo die Menschen Tag und Nacht in geheizten Räumen znbringen.
Auch dies spricht dafür, dass die Diphterie eine echte Qauskrankheit ist.
Endlich müssen wir nun daran gehen, experimentell an Versuchsthieren
eine geeignete medicamentöse Behandlung der Diphterie durch systema¬
tische Versuche nach wissenschaftlicher Methode zu finden. Anfangs tritt
die Diphterie immer local auf, in diesem ersten Stadium müssen wir sie
erfolgreich zu bekämpfen lernen. Vielleicht gelingt es, auch Mittel zu
finden gegen das von den Diphteriebacterien erzeugte Gift, das die All-
gemeininfection des Körpers hervorbringt. Um die einschlägigen Versuche
zu machen, müssen Seitens des Staates grössere Mittel flüssig gemacht
werden, ähnlich wie sie Frankreich an Pasteur, Deutschland an Koch
bewilligte, nm den Kampf gegen diese furchtbare Seuche aufzunehmen.
Auf die Aufstellung von Thesen verzichtet der Redner, da sich seiner
Ansicht nach wissenschaftliche Fragen nicht durch Abstimmung erledigen
lassen.
Dr. F. Caro (Madrid) hielt einen Vortrag über:
Das gelbe Fieber vor der internationalen Hygiene.
Bei der vorgerückten Zeit beschränkte sich der Redner auf eine ganz kurze
Begründung seiner Thesen. Das gelbe Fieber kommt endemisch nur am
Golf von Mexico vor, von dort her wird es in die verschiedenen Länder
der neuen und alten Welt eingeschleppt und kann gewiss in Europa, wenn
es die nöthigen günstigen Bedingungen findet, ähnliche Verheerungen wie
die Cholera hervorrufen. Als Maassregeln gegen das gelbe Fieber sind
anzuratben: 1) die Seuche an ihrem Ursprungsorte zu bekämpfen, 2) die
Einschleppung in andere Länder zu verhindern. Um dies auszuführen,
müssen Sanitätscommissionen nach dem Hauptpunkte gesandt werden, wo
die Seuche endemisch vorkommt, und nach den Handelshäfen Amerikas, die
die meisten Handelsbeziehungen mit Europa haben, und es müssen die
Schiffe in sehr strengen Quarantänen gehalten und Lazaretheinrichtungen
nach dem neuesten Stande der Wissenschaft an den Quarantäneorten getroffen
werden. Wie furchtbar die Epidemieen zuweilen wüthen, ersieht man daraus,
dass in Cuba 85 Proc. aller Todesfälle auf gelbes Fieber kamen, dass in
Cadix in einer Epidemie der letzten Jahre 10 000 Todesfälle beobachtet
wurden, dass noch 1866 in Madrid, 600 Meter hoch und 60 Meilen von
der Küste gelegen, zahlreiche Erkrankungen am gelben Fieber tödtlicb
endigten.
Nachdem Professor Lay et (Bordeaux) erwähnt hatte, dass man in Bor¬
deaux für die Schiffe, die aus Ländern kommen, in denen das gelbe Fieber
herrschte, 14 Tage Quarantäne vorgeschrieben habe und daran erinnert
hatte, dass er selbst bereits auf den Congressen in Turin und Genf die grosse
Gefahr geschildert habe, mit der uns das gelbe Fieber bedrohe, wurden die
von Dr. Caro aufgestellten Grundsätze von der Versammlung gebilligt.
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227
I. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
Dr. Zoeros-Bey sprach über
Die Türkei und die Hygiene
und schildert hierbei die für die Muselmänner gültigen Vorschriften des
Koran. Ausser der jüdischen Religion giebt es keine, die so viele vortreff¬
liche Vorschriften hygienischer Natur hat als der Islam. Reinlichkeit ist
in der strengsten Weise im Koran vorgeschrieben. Fünfmal täglich ver¬
richtet der Muselmann sein Gebet und jedes Mal muss er vorher den ganzen
Körper abwaschen. Ebenso erfolgt dies vor dem Essen, nach jeder Defä-
cation (daher giebt es so wenig Hämorrhoidarier in der Türkei!) etc. Vers
8 und 9 des fünften Buches des Koran geben hierüber die genauesten Vor¬
schriften. Das Rasiren der Haare trägt sehr zur Reinlichkeit bei, das
Reinigen der Zähne nach den Mahlzeiten ist vorgeschrieben (geschieht mit
einem Holze; das Holz, das der Prophet benutzte, wird noch in Constan-
tinopel verwahrt). Die Unreinlichkeit, die ja vielfach in der Türkei vor¬
kommt, beruht auf der Indolenz des Volkes, nicht auf der Eigenthümlichkeit
der Religion. Der Arzt nimmt eine hochgeehrte Stellung in der Türkei
ein, unter der jetzigen Regierung des Sultans macht auch die Hygiene in
der Gesetzgebung und Verwaltung Fortschritte. Der jetzige Sultan ist ein
glühender Hygienist.
J. Philippe, Departementsthierarzt aus Rouen, spricht über
Die Kuhpooken.
Er glaubt, dass die Kuhpocken nichts Anderes sind, als Pferdepocken auf
die Kühe übertragen, und dass die Pferdepocken die ursprüngliche Krank¬
heit sind. Niemals hat man bei den Kühen Immunität gegen die Pferde¬
pocken gefunden. Die directe Einimpfung der Pferdepocken auf den
Menschen bringt eine sehr heftige Erkrankung hervor, wie es Redner an
sich selbst durch Zufall durchmachte. Die Jenner’sche Vaccine ist nichts
als Pferdepockenlymphe, abgeschwächt durch Ueberimpfung auf die Kühe.
Lay et glaubt, dass es zwei Arten von Kuhpocken gebe, die eine ent¬
standen durch Pferdepocken, die auf Kühe übertragen wurden, die andere
durch direct von Kuh zu Kuh übertragene Kuhpocken. Leider degenerirt
die Kuhpockenlymphe mit der Zeit, dies liegt daran, dass häufig die Pocken
zu oft von Kalb zu Kalb übertragen werden; dann ist es sehr anzurathen,
auf die Pferdepocken zurückzugreifen und damit Kühe oder Kälber zu impfen.
Sehr günstig sind auch Pockenepidemieen unter den Kühen, sie liefern für
längere Zeit auch durch Ueberimpfungen auf Kälber vorzügliche Lymphe.
Bordeaux hat mit dem Impfen dem übrigen Frankreich ein sehr gutes Bei¬
spiel gegeben, zuerst hat es seit 1881 kostenfreie Impfungen eingerichtet.
Hiermit wurden die Verhandlungen der ersten Section geschlossen, der
Vortrag von Durand-Claye über den Typhus 18 82 in Paris fiel aus,
und der Vortrag von Ruijsch über die „Lumpen“ war schon vorher der
zweiten Section überwiesen.
lb*
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228 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
IL S e c t i o n.
Oeffentliche Gesundheitspflege der Städte
und des Landes.
Berichterstatter: Dr. R. Blasius.
Erste Sitzung.
Freitag, den 2 2. August.
Vorsitzender: Dr. Carsten (Haag).
Prof. A. Schwappach (Giessen) hielt einen Vortrag über:
Die Folgen und Gefahren der Entwaldung im ge¬
mässigten Klima Europas und der Nutzen der
Bepflanzung der Dünen.
Der Gedankengang war in kurzen Umrissen folgender: Die Bedeutung
des Waldes im Haushalte der Natur und in jenem des Menschen in klima¬
tischer und wirtschaftlicher Natur ist schon seit langer Zeit Gegenstand
der Untersuchungen; bereits Alexander von Humboldt hat sich mit
dieser Frage beschäftigt.
Die einzig richtige Methode der Untersuchung ist die nach strengen
naturwissenschaftlichen Grundsätzen. Seit 20 Jahren ist in dieser Hinsicht
so viel positives Material zusammengekommen, dass in fachwissenschaftlichen
Kreisen über die Fnndamentalfragen Klarheit besteht.
Um die Folgen der Entwaldung bemessen zu können, müssen wir die
Einwirkung des Waldes auf das von ihm eingenommene Terrain, sowie
dessen nähere und weitere Umgebung studiren. Dieser Einfluss zeigt sich
in Bezug auf
I. das Klima der bewaldeten Fläche selbst und seiner
Umgebung,
II. die ober- und unterirdische Abfuhr des Wassers,
III. die Bindung des Bodens,
IV. den Gesundheitszustand der menschlichen Gesellschaft.
I. Klima.
Die Vegetationsdecke mit Einschluss des Waldes ist einer der vielen
Factoren des Klimas, aber einer der weniger bedeutenden, am bedeutend¬
sten ist derselbe noch in der gemässigten Zone, er äussert sich dabei in
1. Erscheinungen der Wärme,
2. Feuchtigkeitsgehalt der Luft und Art und Menge der Hydromoteore,
3. Bewegungszuständen der Luft.
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IL Section (Berichterstatter Dr. R, Blasius).
ad 1. Die mittlere Temperatur der Waldluft ist geringer als jene auf
nicht bewaldeten Flächen derselben Höhenlage, und zwar beträgt diese
Verminderung etwa 10 Proc. der Freilandstemperatur. Noch beträchtlicher
ist die Abstumpfung der Temperaturextreme, im Sommer ist im Freilande
das Maximum 4,5° höher, im Winter das Minimum 2,5° höher als im Walde.
Die Temperatur des Waldbodens ist im Sommer etwa 21 Proc. niedriger
als die des freien Bodens. Am grössten ist der Gegensatz zwischen weiten
Wäldermassen und baumlosen Steppen.
ad 2. Der Einfluss des Waldes auf die Menge der feuchten Nieder¬
schläge ist nahezu verschwindend. Auch auf die zeitliche Vertheilung der
Regenmenge ist der Wald ohne Einfluss. Eine oft behauptete Verminde¬
rung der feuchten Niederschläge durch Entwaldung hat nicht nachgewiesen
werden können. Für England liegt eine Beobachtungsreihe vor seit 1726
in 17 Stationen, in Paris wurden nach Angaben von Marie Davy bereits
seit 16S8 Beobachtungen angestellt. Die Waldluft, die Luft zwischen den
Bäumen, ist allerdings feuchter, aber 20 Proc. allen Regens kommt gar
nicht auf den Boden, sondern bleibt am Stamme und Blättern hängen und
verdunstet von hier ab. Trotzdem ist der Wald von sehr grossem Einflüsse
auf den Feuchtigkeitsgehalt der Luft, sowohl in seinem Innern, als auch in
Bezug auf seine nähere Umgebung. Es wird nämlich durch die Blätterdecke
die Verdunstung des Wassers sehr gehindert, bei einer freien Wasserfläche
im Walde würde sie um 64 Proc. geringer sein als im Freien (im Sommer
ist die Hinderung sieben Mal grösser als im Winter), die Einwirkung der
Streudecke auf dem Waldboden vermindert um weitere 22 Proc., so dass
die Verdunstung im Walde im Ganzen 86 Proc. geringer ist, als draussen
im Freien. Die meist geringere Temperatur im Walde bewirkt eine Ver¬
mehrung der relativen Feuchtigkeit um durchschnittlich 6 Proc. Die Baum¬
kronen transpiriren sehr viel Wasser. Tissandier fand 1873 bei einer
Luftballon fahrt beim Passiren eines grossen Waldes, dass das Hygrometer
eine entschiedene Zunahme der Feuchtigkeit zeigte.
Diese Feuchtigkeits- und Temperaturverhältnisse haben einen ent¬
schiedenen Einfluss auf das Klima. Trockene warme Luft, die hindurch-
streicht, wird Feuchtigkeit aufnehmen; war sie schon vorher feucht, so
wird sie der Condensation näher geführt. Daher beobachten wir eine
grössere Niederschlagsmenge im Walde, als draussen im Freien, nach
Matthieu 6 Proc., nach Fautrat 8 Proc. mehr. Die Umgegend eines
Waldes wird daher nicht so ausgetrocknet. In Ungarn hat man beobach¬
tet, dass einfache Baumreihen, von Norden nach Süden streichend, die aus¬
trocknenden Folgen des Ostwindes gemildert haben.
Die Wälder dienen zur Verminderung der Hagelbeschädigung. Die
Bäume verhindern das Ansammeln starker elektrischer Gegensätze zwischen
Erdboden und Wolken, daher zeigt sich weniger Hagelbildung. Becquerel
hat hierüber sehr schöne Beobachtungen gemacht.
ad 3. Wird durch grössere Waldmassen die Geschwindigkeit und
mechanische Kraft des Windes bedeutend vermindert. Sehr wichtig ist
dies bei Meeresufern, Hochrücken und Wasserscheiden der Gebirge. Auch
geringere Höhen, wie Hecken von zwei Meter Höhe, schützen auf 22 m hin,
wie man am Mistral im Rhonethale beobachtet hat.
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230 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Wenn der Wald durch andere Vegetation ersetzt wird, wie z. B. Wie¬
sen, so haben wir ähnliche klimatische Einwirkungen, z. B. in der Lom¬
bardei mit der Bewässerung der Maisfelder etc.
Entwaldung wird in Gegenden mit oceanischem Klima mit West- und
Nordwestwinden nicht so wirkungsvoll sein, wie in Gegenden mit continen-
talem Klima mit Ost- und Südostwinden.
II. Ober- und unterirdische Abfuhr des Wassers.
Das weitere Schicksal des Wassers im Boden ist wesentlich abhängig
von der Structur des Bodens; bei senkrechter Spaltung und durchlässigem
Boden kann das Wasser rasch eindringen, bei horizontaler Schichtung und
undurchlässigem Boden sehr schwer. Hier bilden die Baumwnrzeln vor¬
treffliche Canäle. Bei Entwaldung solcher Partieen tritt dann Versumpfung
ein. So sind z. B. in der Brenne zwischen der Indre und Creuse 80 000 ha
versumpft, in der Sologne 450 000ha nach Becquerel. Einen gross¬
artigen Erfolg der Wiederbewaldung finden wir in der Gascogne; vor
30 Jahren waren dort 800 000ha noch Wüste, mit kümmerlicher Hirten¬
bevölkerung, jetzt ist herrliches Land da mit Eichenwald, blühender In¬
dustrie und reicher Bevölkerung. In der Trockenlegung versumpf¬
ter Gegenden liegt der Schwerpunkt des Waldes in sanitärer Bezie¬
hung. Es ist nicht bloss constatirt, dass Gegenden durch Entwaldung
ungesunder, sondern anch, dass versumpfte Gegenden durch Bewaldung ge¬
sunder wurden. Für die Landes hat Herr Chambrelent dies nachgewie¬
sen. Die mittlere Lebensdauer ist dort von 34 auf 39 Jahre gestiegen;
während von 1856 bis 1859 die Zahl der Geburten die der Todesfälle nur
um 10 Proc. übertraf, übertraf sie dieselben in der Zeit von 1873 bis 1875
um 49 Proc. — Ebenso sind die Eucalyptusculturen in der Campagne bei
Rom dafür beweisend, die Fieber sind seitdem verschwunden. Die Bahn¬
gesellschaften haben zur Conservirung ihres Aufsichtspersonals die Eisen¬
bahnen damit bepflanzt und 1 500 000 Frcs. dafür ausgegeben.
Für Quellenbildung ist die architektonische Structur des Bodens wich-,
tiger als der Wald. Der Wald wirkt aber erhaltend auf schon vorhandenen
Quellenzufluss. Wird er weggenommen, so versiegen die Quellen.
Eine Senkung des Wasserstandes durch Entwaldung wird von Man¬
chen behauptet, von Anderen geleugnet. Bei Ueberschwemmungen ist die
Menge des vorbeigeflossenen Wassers viel wichtiger. Zur Erhaltung des
Wasserstandes wirkt der Wald in dreifacher Beziehung wesentlich mit:
1. Die Streu- und Moosdecke verlangsamt den Wasserabfluss. Ist die
Decke aber voll Wasser, ist der Boden gesättigt, so fliesst das
Wasser rasch ab; so kam die Hochfluth des Rheins 1882 wesentlich
durch Schneeschmelze in Wäldern.
2. Die rasche Verdampfung des Wassers in durch ihn hinfliessen den
kleinen Wasserfäden und Bächen wird vermindert, da eine freie
Wasserfläche im Walde 64 Proc. weniger verdunstet als im Freien.
3. Die Schneeschmelze wird in den meisten Fällen durch die im Früh¬
jahre im Walde geringen Luft- und Bodentemperaturen sich in den
Wäldern verlangsamen und daher das Wasser nur allmälig in den
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IL Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
Boden und in die Flüsse gelangen. So hat man sehr schlimme
Folgen durch Entwaldung an der Sierra nevada beobachtet; früher
war sie bewaldet, man hatte langsame Schneescbmelze und im gan¬
zen Sommer Wasser, jetzt ist sie kahl, man beobachtet grosse
Fluthen Wassers im Frühjahr, nachher Trockenheit im Sommer.
III. Bindung des Bodens.
Von grösster Bedeutung ist der Wald für die Bindung des Bodens,
namentlich hervorvortretend im Gebirge und auf den Dünen.
In hohen Freilagen, auf den Kuppen und Rücken der Gebirge und
an steilen Bergabhängen ist die Waldbedeckung das einzige Mittel, die
Humusdecke vor Herabschwemmen zu bewahren dadurch, dass er 1) die
mechanische Gewalt der Niederschläge mindert, 2) das oberflächliche Ab-
fliessen des Wassers verlangsamt, 3) das Mitnehmen des Gesteinschuttes ver¬
hindert.
Das Mittelgebirge zeigt die Gefahren der Entwaldung auch, am meisten
aber das Hochgebirge, wo häufig innerhalb 20 Minuten 5 bis 6 cm Regen
fallen, dann entstehen oben tiefe Runsen, die dann unten einen breiten
herabgeschwemmten Schuttkegel vor sich haben. Oesterreich, Schweiz,
Frankreich zeigen diese grossartigen Verwüstungen. Demontzey theilt
den Fall mit, dasB am 13. August 1876 im Thale der Ubaye der Wildbach
von Faucon im Canton Barcelonette bei einem Gewitter 169 000 cbm feste
Masse und 65 000 cbm Wasser herabbrachte. Diese Gefahren der Entwal¬
dung sind schon lange anerkannt, praktisch ist man dagegen seit 1860
namentlich in Frankreich vorgegangen. Mit einem Aufwande von 15 Mill.
Francs hat man schon 74 000 ha Boden dort in den Gebirgen befestigt und
hat noch eine weitere 758000 ha umfassende Fläche zur Aufforstung be¬
stimmt.
Ebenso schlimm ist das stetige unaufhaltsame Fortschreiten des Sandes,
wenn demselben die schützende Bodendecke fehlt. Besonders gefährlich ist
die Bildung von Ortstein in derartigen Ländern, da dieser das Eindringen
von Baum wurzeln und die Wasserbewegung im Boden bindert. In Nord¬
westdeutschland folgte der Entwaldung oft die Flugsandbildung, in man¬
chen Theilen der Lüneburger Haide sinkt die Bevölkerung auf 250 per
Quadratmeile. Im Banat und den Landes Anden sieb ähnliche Stellen, die
Aufforstung hat viel genutzt; früher kostete der Ilectar 9 Frcs., jetzt ist er
358 Frcs. werth.
Am schlimmsten ist es an den Dünen, am Ufer des Meeres. Der Sand
schreitet rasch vom Meere nach dem Lande zu fort, in der Bretagne nach
Elie de Beaumont jährlich circa 10 m. Diese Gefahren müssen beseitigt
werden; die ersten Arbeiten dazu wurden schon 1738 durch einen deut¬
schen Inspector Roebl auf Seeland ausgeführt. Die Bewaldung ist ein
sehr gutes Mittel, sie reicht aber allein nicht aus, sondern es ist:
1. der Abbruch der Küste zu verhindern — durch Anlage von Vor¬
dünen;
2. die ununterbrochen auf den Strand aufgetriebenen Sandmassen auf¬
zufangen — durch Anlage von Vordünen, indem man zwei Parallel-
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232 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
zäune in Entfernung von 2 m von einander and 1 m hoch anlegt
und dahinter Arundo areraria and Elymus arenarias anpflanzt;
3. am Strande Dünen mit Hnmusüberzug za schaffen — durch An¬
pflanzung von Wald, der keinen Ertrag liefern, sondern nur schützen
soll.
Nach allem diesem ist wohl mit Sicherheit nachgewiesen, dass durch
Förderung und Hebung der Waldcultur und Waldpflege ein sehr wesent¬
licher Einfluss auf die Vermehrung des Volkswohlstandes und der sanitären
Verhältnisse erzielt werden kann.
Zum Schlüsse stellte Prof. Schwappach folgendes Resume seines
Vortrages zusammen:
1) Folgen der Entwaldung für das Klima.
a) Für das Klima der bisher bewaldeten Fläche selbst.
1. Die Extreme der Temperatur, sowohl jener der Luft als auch des
Bodens, werden gemildert.
2. Der Grad der relativen Luftfeuchtigkeit wird vermindert.
3. Ob der Feuchtigkeitsgehalt des Bodens nach der Entwaldung
grösser oder kleiner sein wird als vorher, hängt von der Beschaffen¬
heit desselben ab.
4. Die Niederschlagsmenge wird in Folge der Entwaldung nicht oder
nur ganz unwesentlich gemindert, die Quantität des auf die Boden¬
oberfläche gelangenden Antheiles an derselben dagegen bedeutend
vermehrt.
b) Für das Klima der Umgebung.
1. Die in der Nähe des Waldes gelegenen Grundstücke verlieren ihren
bisherigen Schutz gegen trockene Winde.
2. Die Gewalt des Windes wird durch den Wald nicht mehr gebro¬
chen. Dieses Verhältniss wird um so fühlbarer, je weniger die
Configuration des Terrains einen ähnlichen Einfluss auszuüben
vermag, in ausgedehnten Ebenen also mehr wie im Hügellande und
Gebirge, an den Küsten mehr als im Binnenlande.
3. Die ungünstigen Folgen der Entwaldung werden um so stärker
bemerkbar, je mehr das Klima der betreffenden Oertlichkeit den
Charakter des Continentalklimas und um so weniger, je mehr es
jenen des Küstenklimas trägt.
2) Folgen der Entwaldung für die Wasser ab fuhr.
1. Nach der Entwaldung werden dem Boden wesentlich geringere
WaBserquantitäten entzogen, als dieses vorher. theils durch die
Vegetationsthätigkeit der Bäume, theils mechanisch durch den Ein¬
fluss der Baum wurzeln der Fall war.
2. Wo ein Ueberfluss an Bodenfeuchtigkeit nur durch die eben er¬
wähnten Einflüsse des Waldes entfernt werden konnte, wird nach
der Entwaldung leicht Versumpfung eintreten und hierdurch öfters
eine ungünstige Rückwirkung auf die sanitären Verhältnisse der
Umgebung fühlbar werden.
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IL Section (Berichterstatter Dr. ß. Blasius).
3. In Folge der Entwaldung wird die Verdampfung der auf die Boden¬
oberfläche gelangten und in die obersten Bodenschichten eingedrun¬
genen Hydrometeore vermehrt und beschleunigt, woraus sich ungün¬
stige Folgen für die Stärke und den Bestand der Quellen ergeben.
4. Mit dem Verschwinden des Waldes hört auch der verlangsamende
Einfluss der Bodendecke desselben sowie der Stämme auf den
oberflächlichen Abfluss des Wassers auf.
5. Dieser Umstand in Verbindung mit der vermehrten Verdunstung
des bereits in kleinen Wasserfäden und Bächen vereinigten Tag¬
wassers veranlasst die schlimmen Wirkungen der Entwaldung für
die Gleichmässigkeit des Wasserstandes in den Bächen und Flüssen.
3) Folgen der Entwaldung für die Bindung des Bodens.
1. Im Gebirge ist die Entwaldung die Veranlassung zur Bildung der
auch für die weitere Umgebung so verheerenden Wildbäche, Run-
sen, Erdabstürze.
2. Auf leichtem Sandboden bildet die Entwaldung eine der wesent¬
lichen Ursachen für die Entstehung des Flugsandes. Diese Gefahr
wächst mit der Stärke der herrschenden Winde, ist an den Küsten
am bedeutendsten.
4) Nutzen der Bepflanzung der Dünen.
1. Ein rationeller, wesentlich auf Anpflanzung geeigneter Gewächse
basirender Dünenbau verhindert den fortwährenden Abbruch des
Festlandes, sowie das für die angrenzenden Gebiete so gefahrbrin¬
gende „Wandern“ der Dünen.
2. Die Bewaldung der hohen Düne bietet ausser dem Schutz gegen
die Windstürme auch noch die Möglichkeit, dem sonst ganz ertrag¬
losen Terrain eine Rente abzugewinnen.
In der Discussion bemerkte zunächst Herr Durand-Claye, städti¬
scher Ingenieur aus Paris, dass nach der Entwaldung bei Montpellier dort
mehr Regen gefallen sei als vorher, und erst nachdem man längs des Meeres
bei Marseille wieder Anpflanzungen gemacht habe, eine Verminderung der
Regenmenge gefolgt sei.
Dr. R. Blasius stimmt den von Prof. Schwappach aufgestellten
Sätzen vollkommen bei, schildert die häufigen furchtbaren Folgen der Ent¬
waldung auf den Nationalwohlstand und Gesundheit und macht auf die ge¬
setzlichen Bestimmungen aufmerksam, die in einigen Ländern, wie z. B.
dem Herzogthum Braunschweig bestehen, wo kein Waldterrain ohne Ge¬
nehmigung der gesetzgebenden Factoren abgeholzt und in Ackerland um¬
gewandelt werden dürfe, selbst nicht, wo es im Privatbesitz sich befindet.
In ganz Deutschland sei man übrigens jetzt bestrebt, den Waldbestand zu
heben, auch in Preussen, wo die gesetzlichen Bestimmungen aber leider
bei den Privatwaldungen noch ein rücksichtsloses Abholzen gestatten. Red¬
ner glaubt aber, dass es nichts nützen könnte, wenn nur einzelne Länder
so waldconservirend vorgingen, es müsse darin über ganz Europa eine ge¬
wisse Gleichmässigkeit herrschen, und beantragt, die niederländische Re¬
gierung zu bitten, die übrigen Staaten zum Erlasse möglichst gleichmässiger
den Wald conservirender Gesetze zu veranlassen.
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234 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
W. Conrad, Inspector der Wasserstaaten (Haag), bemerkt, dass das
Abbröckeln von Land an den Seeküsten nicht allein durch Bepflanzen der
Dünen verhindert werden könne, da man hier auch mit den Meeresströmun¬
gen zu rechnen habe, wogegen die Bepflanzung nichts nütze, hiergegen
müsse man technische Schutzbauten machen.
Prof. Dr. Soyka (Prag) glaubt, dass die Eucalyptusculturen in der
Campagna bei Rom nicht allein die Malaria hätten verschwinden lassen,
sondern dass die Trockenlegung des Bodens hierbei die Hauptrolle spiele.
Die Bacterien lebten in dem Boden, wenn seine Feuchtigkeit von 80 Proc.
bis zu 10 Proc. schwanke. Erst wenn der Boden nur 5 Proc. Wasser ent¬
hält, kann die Bacterie nicht weiter vegetiren, die Drainage des Bodens,
die diese Trockenheit hervorgebracht hat, wird also das hygienische Resul¬
tat bewirkt haben, nicht der Eucalyptus allein.
Dr. Emmerich erwähnt, dass Tomasi Crudeli ihm selbst erklärt
habe, man übertreibe den Einfluss des Eucalyptus. In Australien, wo er
viel wächst, herrschten furchtbare Malariaepidemieen, bei Rom sei die
Campagna hauptsächlich durch die Canalisation assanirt.
Graf de Suzor glaubt, dass man die Frage der Entwaldung nicht zu
einer internationalen machen dürfe und der Staat dabei nicht gesetzlich
eingreifen könne.
Prof. Schwappach giebt Herrn Conrad Recht in Betreff der Dünen,
glaubt nicht, dass man alle Wälder conserviren müsse, und ist der Ansicht,
dass namentlich der sanitäre Einfluss deB Waldes, auf den er selbst ja als
Forstmann weniger habe ein gehen wollen, noch eines gründlichen Studiums
bedürfe.
Man stimmt im Allgemeinen den Ansichten des Prof. Schwappach
bei und beschliesst, denselben zu ersuchen, der Section in der morgenden
Sitzung eine These vorzuschlagen, in der die heute in der Discussion ge-
äusserten Wünsche zum Ausdruck kämen.
Zweite Sitzung.
Sonnabend, den 2 3. August.
Vorsitzender: Prof. Dr. C r o c q (Brüssel).
Prof. Schwappach schlägt in Folge der gestrigen Sectionsbeschlüsse
folgenden Antrag vor, mit denen sich Dr. Blasius und die übrigen an
der Discussion betheiligten Herren einverstanden erklärt hatten:
Indem sich die zweite Section des fünften internationalen
Hygienecongresses mit den Schlusssätzen des Dr. Schwappach
einverstanden erklärt, beschliesst sie folgende Resolution: Mit
Rücksicht auf den Umstand, dass die hygienischen Einflüsse des
Waldes noch nicht genügend festgestellt sind, ernennt der fünfte
internationale Hygienecongress eine Commission von Sachverstän¬
digen, welche diese Frage studiren und dem nächsten hygienischen
Congresse die Resultate ihrer Arbeiten mittheilen soll. Zugleioh
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II. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
richtet der Congress an die Regierung der Niederlande die Bitte,
anf diplomatischem Wege bei den Regierungen der übrigen Staaten
dahin zu wirken, dass die Arbeiten dieser Commission in ofücieller
Weise möglichst gefördert werden.
Der erste Satz wurde angenommen, der zweite hingegen abgelehnt.
Dann hielt Herr Bergsma, städtischer Ingenieur aus Amsterdam,
einen Vortrag über das
Liemur- System,
unter Vorzeigung von zahlreichen Plänen und Karten. Obgleich nicht
Deutscher, sondern Holländer, sprach Berg sma deutsch, so dass man sich
anfangs, wie in der gestrigen Sitzung, vollkommen in eine deutsche Hygie¬
nikerversammlung versetzt glaubte. Zunächst wurde die Entstehung des
Systems erklärt. Die menschlichen Dejectionen müssen aus den Städten
entfernt und zum Dünger auf die Felder gebracht werden. Dieser Trans¬
port muss möglichst rasch und sicher bewerkstelligt werden. Das Wasser
dient hierzu in vorzüglicher Weise, man weiss nur, namentlich in bestimm¬
ten Jahreszeiten, nicht, wo man damit bleiben soll. Die Berieselungsmethode
hat sich nicht überall bewährt, Li er nur hat sie deshalb verworfen und
sein Differenzirsystem aufgestellt, bei dem die menschlichen Dejectionen
ganz getrennt von den Haus- und Regenwässern entfernt werden. Redner
schildert nun die Principien des Systems Liernur. Die Canäle, in denen
die Excremente transportirt werden, sollen von den Häusern aus in einen
luftdicht geschlossenen Raum zusammenlaufen, durch Dampf kraft wird in.
diesem eine Luftleere erzeugt, dann werden die Ventile geöffnet, und nach
einfachen physikalischen Gesetzen dann die Excremente nach dem Vacuum
zu von den Closets aus befördert. Diese Reservoire communiciren wieder
durch Röhren mit dem Centralreservoir und werden auf dieselbe Weise
durch Herbeiführung eines luftleeren Raumes entleert. Hier in dem Cen¬
tralreservoir werden die Excremente als Dungmittel entweder direct ab¬
gegeben oder zu Poudrette verarbeitet, indem sie auf 100° erhitzt und, um
den Ammoniak zu conserviren, mit Schwefelsäure versetzt werden. Augen¬
blicklich sind 3100 Häuser mit 50000 Einwohnern in Amsterdam mit diesem
System versehen. Dordrecht hat ebenfalls das System Liernur angenommen.
Redner führt dann noch die verschiedenen Gutachten an, die zu Gun¬
sten des Liernur’schen Systems abgegeben sind, wie sie letzthin vom
Capitän Liernur veröffentlicht sind, so namentlich das von der preussi-
schen Medicinaldeputation abgegebene.
Das wissenschaftliche Resultat des Liernur’schen Systems würde die
Reinhaltung der Flüsse von menschlichen Excrementen sein. Hygienische
Resultate liegen zur Zeit noch nicht vor, nur kann man sagen, dass in
Amsterdam in den mit dem System versorgten Häusern keine Klagen laut
geworden sind.
Redner bittet die Congressmitglieder, unter seiner Führung sich das
System selbst in Amsterdam in Function anzusehen.
Mit grossem Interesse waren alle Zuhörer den interessanten Ausfüh¬
rungen des Herrn Bergsma gefolgt.
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236 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
An den Vortrag schloss sich eine ausserordentlich lebhafte und hoch¬
interessante Discussion, die nur in französischer Sprache und hauptsächlich
von Pariser Ingenieuren, Hygienikern und Gemeinderäthen geführt wurde,
so dass man sich zuweilen in eine Sitzung des Pariser Gesundheitsrathes
versetzt glaubte.
Zuerst ergriff das Wort Prof. A. Durand-Claye, Chef-Ingenieur der
Brücken- und Strassenbauten in Paris. Er vertheidigt auf das lebhafteste
das Schwemmcanal- und Rieselsystem für Paris. Die Assanirung einer
Stadt beruht seiner Ansicht nach auf drei Grundsätzen : 1) der Assanirung
der Wohnung, 2) der Reinhaltung der öffentlichen Strassen und 3) dem
Aeusseren der Stadt. Jedes System der Assanirung muss einfach und be¬
quem sein. — Die Wasserversorgungaverhältnisse in Paris sind zur Zeit
sehr mangelhafte, bei Wohnungen von 50 bis 60 Frcs. erhält man 10 Liter
Wasser pro Tag, bei Wohnungen von 500 bis 600 Frcs. 200 Liter pro Tag.
Dies muss geändert werden, Wasser muss überall im Ueberflusse sein, zur
Reinigung, zur Wegspülung der Excremente u. s. w. Siphons müssen die
Leitung jeder einzelnen Wohnung, jedes einzelnen Hauses gegen das all¬
gemeine Canalnetz absperren. Das Siel wasser soll ausserhalb der Stadt
nicht zu Poudrette verarbeitet, da das die Luft verpestet, es soll nicht
direct in die Flüsse geleitet, da das den Fluss und die Anlieger inficirt,
es soll auf Rieselfelder gebracht und dort zur Cultur von Getreide und Ge¬
müsen verwandt werden, wie es mit dem besten Erfolge bei Gennevilliers
geschieht.
Dr. C. Duverdy, Advocat aus Paris, bekämpft das Schwemm-
canalsystem auf das heftigste. Die Rieselfelder von Gennevilliers reichen
nicht aus, grosse Städte können das System nicht gebrauchen, augenblick¬
lich erhält Paris täglich 300 000 cbm Wasser pro Tag, binnen kurzer Zeit
wird es 500 000 erhalten, demgemäss wächst auch das Canalwasser und kann
auf den Rieselfeldern nicht mehr verarbeitet werden und muss direct in
die Seine geleitet werden. Nach dem Verhältnisse von Berlin, wo ein
Drittel jetzt mit 2237ha Rieselfeldern auskommt, müsse Paris 20 000 bis
30 000 ha haben. Um im Winter das überflüssige Wasser aufzubewahren,
hat Berlin grosse Staubassins eingerichtet, die sich aber technisch und
hygienisch nicht bewährt haben. London hat die Berieselung nicht ein¬
geführt, ebenso hat Brüssel darauf verzichtet. Das für Paris vorgeschla¬
gene System (Und ä l’ögout ), alles durch Canäle zu entfernen, muss noth-
wendiger Weise zu einer Infection der Flussufer führen.
Der Redner kommt zu dem Schlüsse, dass die meisten grossen Städte
auf das Schwemmsystem verzichtet hätten, da es zu grosser Rieselfelder
bedürfe. Wenn das Rieseln facultativ, so laufen die FluBsufer Gefahr, infi¬
cirt zu werden, ist es obligatorisch, so kostet das System zu viel, da dann
eine Cultur auf den Feldern unmöglich ist. Die Staubassins bilden eine
wirkliche Gefahr für den öffentlichen Gesundheitszustand. Daher hat sich
die vom Ackerbauminister zusammengerufene Commission gegen das
Schwemmsystem ausgesprochen, im Gegensätze zu der von der Stadt Paris
ernannten Commission.
Die Discussion wird abgebrochen und bis zur nächsten Sitzung vertagt.
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II. Section (Berichterstatter Dr. 1t. Blasius).
237
Dritte Sitzung.
Montag, den 2 5. Angast.
Vorsitzender: Dr. Karsten.
Fortsetzung der Discussion über das Liernur-Systera.
Prof. Tr61at (Paris) hält das Liernur-System für gut, aber nur in
der Theorie, praktisch, glaubt er, sei dasselbe nicht durchzuführen.
Dr. Kobinet, Mitglied des Pariser Gemeinderathes, schliesst sich
den Bedenken Tr61at’s an.
Duverdy macht dem vom Pariser Gemeinderathe vorgeschlagenen
Systeme „tout ä Vegout u , wie am Sonnabend, wieder den Vorwurf, dass es
wohl die Stadt von ihrem Unrathe rasch befreie, aber die der Stadt nahe
wohnende Bevölkerung der Gefahr der Infection aussetze.
Durand-Claye glaubt im Gegentheil, dass die Stadt Paris die An¬
wohner der Seine unterhalb der Stadt zu grossem Danke »verpflichte, da sie
den Versuch mache, durch die Berieselung die Infection der Seine zu ver¬
hindern und wendet sich gegen die Poudrettefabrikation, die zu theuer sei
und die Luft verpeste.
Smith (London) bekämpft sowohl das Pariser System nach den letzt¬
hin in England gemachten Erfahrungen, als auch Liernur. Dies System
sei ausserhalb der Wohnungen sehr gut, aber in den Häusern selbst habe es
Nachtheile und Gefahren, namentlich könnten leicht Gase in die Wohn-
räume aus den Canälen dabei ausströmen.
Bergsma bestreitet dieses Ausströmen der Gase auf das entschiedenste
und ladet die Congressmitglieder nochmals ein, sich das System in der
Ausführung in Amsterdam selbst anzusehen.
Besichtigung des Liernur-Systems in Amsterdam.
Der Aufforderung des Herrn Bergsma kam ich am 30. August nach.
Da Herr Bergsma durch Krankheit ans Bett gefesselt war und mich leider
nicht begleiten konnte, verwies er mich an seinen Collegen, Herrn Ingenieur
C. M. von Bruyn-Kops, der nun, nachdem er mir auf seinen Plänen im
Bureau das Theoretische des Liernur-Systems demonstrirt, in der zuvor¬
kommendsten Weise meine weitere Führung übernahm. Wir wandten uns
nach dem im Westen am Rande der Stadt gelegenen Arbeiterviertel an der
Marnix Kade und hatten bald zwei städtische Handarbeiter erreicht, die im
Begriff waren, die Excremente eines Häuserviertels zu sammeln. Von aussen
war nichts weiter auf dem Pflaster zu sehen, als mehrere eiserne Deckel,
vielleicht etwas grösser als diejenigen, welche wir zum Schutze der Hy¬
dranten bei uns auf den Strassen gewohnt sind zu sehen. Dieselben wur¬
den aufgeklappt und dann mit Schlüsseln die Ventile gestellt. Zunächst
wurde das Ventil a, das von dem Reservoir nach den zu den Häusern füh¬
renden Canälen lag, zugestellt, dann das zu der Luftpumpe in der Central¬
station führende Ventil b geöffnet. Binnen einigen Secunden hatte sich in
dem Reservoir ein luftleerer Raum gebildet, Ventil b wurde geschlossen,
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238 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
dann Ventil a geöffnet und momentan sah man an dem in dem Reservoire
befindlichen Manometer das Ansteigen der Flüssigkeit, indem die Fäcal-
massen von circa 50 Häusern, die zu dem Reservoire gehörten, angesogen
wurden. Nach Füllung des Reservoirs wurde Ventil a wieder geschlossen. Nun
folgte die Entleerung des Reservoirs nach der Centralstation, indem Ventil c,
das den Abschluss bildet zum nach der Centralstation führenden Fäcalrohr,
geöffnet wurde und binnen wenigen Minuten leerte sich das Reservoir
nach der Centralstation zu, wie man am Manumeterfall beobachten konnte.
Der ganze Vorgang spielte sich in sieben bis acht Minuten ab und hatte die
Entleerung der Excremente von circa 50 Häusern und 1000 Einwohnern
zur Folge und die Beförderung derselben zu der mehrere Kilometer entfernt
vor der Stadt gelegenen Centralstation. Ehe wir diese aufsuchten, traten
wir in eines der nahe gelegenen Arbeiterhäuser. Das Closet lag in der
Küche, es herrschte darin die grösste Reinlichkeit und kein Geruch, wie
man wohl schon daraus folgern kann, dass man es an der Küche anlegte.
Nun besuchten wir die in der Nähe vor der Stadt liegende, erst vor
wenigen Wochen eröffnete Centralstation. In einem grossen hallenartigen
Gebäude befinden sich mehrere Dampfkessel so eingerichtet, dass die ganze
von den Luftpumpen kommende Luft und die von den übrigen Apparaten
eventuell entweichenden übelriechenden Gase mit verbrannt wurden. Dann
finden sich dort zwei Luftpumpen, die im Dienste sich abwechseln. Die Luft
wird aus einem Luftreservoir gepumpt, das einestheils mit dem Luftrohre in
Verbindung steht, anderenteils mit den Reservoiren, die die Fäcalflüssigkeiten
aufnehmen sollen. Von diesen Reservoiren sind zwei da, das eine functio-
nirt, sobald das andere gefüllt ist. Ueber diesen Reservoiren liegen, eine
Etage höher, zwei andere, in die die Fäcalmassen durch Luftdruck hinauf¬
befördert werden. In diesen werden die Massen durch rotirende Apparate
durcheinander gemengt und dann in zwei grosse Reservoire gebracht, in
denen sie mit 1- bis l^proc. Schwefelsäure vermischt werden. Von hier
aus gelangen die Stoffe in Dampfapparate, in denen sie auf ca. 100 Grade
erhitzt und zur Syrupsconsistenz gebracht werden. Ursprünglich sollten
sie dann noch auf durch Wasserdämpfe erhitzten Kupfercylindern ausge¬
breitet und zu einem trockenen Pulver abgedampft werden, doch wurde dies
durch einen Geroeinderathsbeschluss vom 31. December 1879 verboten und
möglichst der Verkauf der nur zu Syrup eingedickten Flüssigkeit an die
Landleute zu erstreben gesucht. Unmittelbar an dem Maschinenhanse führt
ein Canal vorbei, hier legen die mit einem grossen eisernen Bassin gefüllten
Kähne an, in die die Fäcalfiüssigkeit durch Röhren geleitet wird. Unter
meinen Augen wurde dieses ausgeführt, binnen sehr kurzer Zeit würde sich
ein derartiger Kahn füllen lassen und der Inhalt dann als Düngerjauche auf
die Felder transportirt werden können. Es wird beabsichtigt, möglichst viel
von dieser Jauche an die Landbewohner zu verkaufen, damit man nicht noch
die Kosten der Eindickuug zu bezahlen hat. Der Ingenieur bedauerte auf das
Lebhafteste, dass durch den oben erwähnten Gemeinderathsbeschluss das Ein¬
dicken zu pulverförmiger Poudrette vorläufig untersagt sei, da man dieselbe
conserviren könne und damit den Preis für menschlichen Dünger mehr in
Händen habe, während man jetzt, da man die flüssige Jauche nicht conser¬
viren könne, für sehr geringe Preise an die Ackerbauer abgeben müsse.
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239
IL Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
Vom hygienischen Standpunkte aus interessirte mich nun vor allen
Bingen das endliche Schicksal der Excremente, da ja bei weitem nicht Alles
so im directen Handverkauf weggeht. Herr von Bruyn-Kops hatte die
grosse Liebenswürdigkeit, mich weiter zu führen. Zuvor will ich bemerken,
dass in dem Gebäude der Centralstelle die grösste Reinlichkeit herrschte
und nicht der mindeste Geruch nach Fäcalien wahrzunehmen war.
Nach einer kleinen Canalfahrt gelangten wir nach einer Sammelstelle
für Müll und Excreraente, auch westlich vor der Stadt gelegen. Bei Be¬
sichtigung derselben erfuhr ich, dass die Stadt Amsterdam folgende Arten
der Entfernung ihrer Abfalle hat. 1) Die festen Hausabfälle (Müll etc.)
werden per Pferd oder per Kahn aus den Häusern abgeholt und auf einigen
Plätzen in der Umgebung der Stadt abgelagert und von Unternehmern
weiter verwerthet; 2) die Hauswässer gehen a) direct oder b) durch Röhren in
das Meer oder in die Canäle; 3) die menschlichen Excremente gehen a) durch
Wasserclosets direct in die Canäle oder das Meer, b) werden in Geiassen in
den Häusern aufbewahrt und täglich entweder durch Wagen oder durch
Kähne abgeholt und sowohl direct an Landbewohner verkauft oder in ge¬
mauerten Behältern vor der Stadt abgeladen, c) sie werden durch das
Liernur’8che System nach der Centralstation befördert. Bei der zunächst
von uns besuchten Sammelstelle befand sich ausser dem Müllhaufen auch
eine derartige ausgemauerte Grube, in der die Excremente aufbewahrt und
aus der sie an Landbewohner zum Zwecke des Düngens verkauft wurden.
Selbstverständlich war der Anblick dieses offenen Reservoirs ein ausser¬
ordentlich widerlicher und gewiss auch die Verpestung der Luft diych die¬
selben für die Nachbarschaft eine gesundheitsnachtheilige.
Am Nachmittage besuchten wir eine andere Ablagerungsstelle im Nord¬
osten der Stadt, nicht weit von dem neuen Schlachtehause entfernt. Täg¬
lich wird hierher per Kahn (es sollen täglich 14 bis 15 gefüllte Kähne hier¬
her geschafft werden!) die in der Centralstation Liernur nicht käuflich
abgegebene flüssige Excrementenjauche geführt. Durch eine Dampfpumpe
werden die Kähne in einen sehr grossen ausgemauerten Behälter entleert
und von diesem aus entweder wieder an Ackerbauer im Handverkauf ab¬
gegeben oder auf sehr grosse wohl 20 bis 25 Schritte im Quadrat und 1 bis
lY*m hohe Müllhaufen geleitet, um diese in Compost umzuwandeln. Meh¬
rere Wochen lang wird auf diese Haufen Jauche gepumpt, können sie keine
Jauche mehr fassen (ein grosser Theil lief unter unseren Augen nutzlos ab!),
so werden sie je nach Bedarf an Ackerbauer als Dünger verkauft. Ich
brauche wohl nicht besonders zu erwähnen, dass diese ganze Anlage eine
im höchsten Grade unsaubere, unappetitliche und widerliche ist und dass
sie jedenfalls für die Anlieger und Anwohner auch sehr gesundheitsgefähr-
lich sein muss. Namentlich im Hochsommer müssen die Ausdünstungen dort
wahrhaft pestilenzialische sein.
Ueber die Kosten der Städtereinigung durch Liernur’sches System
finden wir genaue Angaben in einem unter den 3. März 1883 veröffent¬
lichten Vortrage, den Herr Ingenieur C. M. von Bruyn-Kops im Stadthause
zu Amsterdam am 28. Februar 1883 der Commission des Gemeinderathes
von Paris gehalten hat. Es heisst darin, dass die städtischen Behörden von
Amsterdam constatirt haben, dass in dem Quartier zwischen Wetering und
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240 Fünfter internationaler Gongress für Gesundheitspflege im Haag.
Utreohtsehe Porten die Kosten der Bedienung des Systems, inclusive der
Zinsen von der Constructionanlage pro Person 70 Centimes betragen. Es
wohnen dort 500 Menschen auf einem Hectare, rechnet man aber über die
ganze Stadt vertheilt nur 300 Menschen auf einen Hectar, so muss man die
Kosten im Verhältnis von 3:5 höher anschlagen, also 1*17 Frcs. annehmen.
Hinzu kommen noch folgende Kosten, um die Excreraente zu verdampfen,
für einen Menschen pro Jahr:
Um 1750 Liter Wasser zu verdampfen 110 kg Steinkohlen
6 1 /* kg Schwefelsäure (10 Frcs. = 100 kg).
Handarbeit.
Zinsen vom Constructionscapital der Verdampfungsapparate
Unterhaltung und Erneuerung dieser Apparate . . . .
Verschiedenes.
Dazu die Anfangs erwähnten.
2*20 Frcs.
0*65 n
0*50 „
0*40 „
0*80 „
0*25 n
1*17 „
im Ganzen . . 5*97 Frcs.
oder abgerundet 6 Frcs. für die Person und das Jahr.
Nach den Dordrechter Erfahrungen enthält nun die dort producirte
Poudrette 7 l /j bis 8 Proc. Stickstoff und 2 1 /» bis 3 Proc. Phosphorsäure, hat
also mindestens einen Werth von 16 Frcs. auf 100 kg. Wenn man annimmt,
dass eine Person jährlich 50 kg trockene Poudrette fabricirt, so würden sich
die Einnahmen auf 8, die Ausgaben auf 6, die Reineinnahmen aus der
Städtereinigung daher auf 2 Frcs. stellen.
Verstopfungen kommen nach von Bruyn-Kops im Liernur’schen
Systeme ebenso vor, wie in allen übrigen Systemen; es kamen dadurch,
dass Sachen in die Closettrichter hinein geworfen wurden, die nicht hinein¬
gehörten, im Jahre 1882 für eine Bevölkerung von 46 362 Personen
in den Trichtern .... 825,
in den Canälen .... 28 Verstopfungen vor.
Die Beseitigung derselben kostete 534 Frcs. 29 Cent., so dass die Kosten
sich pro Person und Jahr auf 2 1 /* Centimes stellen würden.
Treten Verstopfungen oder Störungen ein, so können diese, ohne irgend
wie das ganze System zu stören, beseitigt werden, wenn sie nämlich in den
Trichtern liegen, da jedes Haus durch ein Ventil abzuschliessen ist, ehe die
Canäle die in der Strasse laufenden Hauptrohre erreichen. Liegt die Störung
in den Canälen, so ist deren Beseitigung natürlich schwieriger und muss
z. B. bei einem Hauptrohre sehr unangenehme Störungen für die ganzen
Stadttheile im Gefolge haben, namentlich, wenn die Reparatur längere Tage
in Anspruch nimmt.
Wenn ich mir nach diesen Betrachtungen ein Gesammturtheil über das
Liernur’sche System erlauben darf, so ist dasselbe theoretisch ausgedacht
in hygienischer Beziehung sehr annehmbar, obgleich 1) nicht zu verkennen
ist, dass ein Closet mit Kothverschluss immer weniger angenehm ist, als ein
solches mit WasserverSchluss, wie beim Schwemmcanalsystem, 2) die Excre¬
mente sich beim Liernur’schen System immer noch länger in der Woh¬
nung auf halten (täglich nur eine Entleerung der Canäle!) als beim Schwemm¬
system, wo sie sofort nach jeder Defäcation möglichst rasch aus der Wohnung
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241
II. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
fortgeführt werden, and wir ja vom jetzigen hygienischen Standpunkte aus
gerade auf die möglichst sofortige Entfernung der Excremente den grössten
Werth legen müssen. Was die praktische Durchführung anbetrifft, so er¬
scheint mir diese in Amsterdam, seit die Centralstelle eingerichtet ist, vorzüg¬
lich zu sein, bis zu dem Momente der Poudrettefabrikation. Diese findet
nicht statt, und daher zeigen sich noch jetzt schreiende Uebelstände,
wie ich sie oben geschildert habe. Die Bedenken, die gegen das Liernur’sche
System in Betreff der Verstopfungen erhoben sind (siehe Mitgau: Bericht
über die Systeme der Städtereinigung etc., Braunschweig 1880, S. 22), schei¬
nen mir nicht so erheblich zu sein, wenigstens kommen sie bei allen cen-
tralisirenden Systemen mit Canälen vor. Häufig ist dem System auch der
hohe Kostenpunkt vorgeworfen. Wie mir Herr von Bruyn-Kops sagte,
beruhten frühere Amsterdamer Berechnungen eben darauf, dass man alle
Abfuhrkosten auf das Liernur-System berechnet und danach eine viel höhere
Summe erhalten, als er sie aus seinen Berechnungen gefunden hätte. Wenn
ich nun auch glaube, dass 1750 Liter pro Person (4 Liter pro Tag) Wasser
zur Verdampfung, wenn man nach Liernur’s neueren Vorschlägen auch
Wasserclosets mit an bringt, zu wenig gerechnet sind und man gewiss das
Doppelte, also 8 Liter pro Tag und Person, annebmen muss, so würden sich
die Kosten doch nur auf ca. 3 Frcs. jährlich pro Person erhöhen, so dass
inan statt eines Gewinnes von 2 Frcs., eine Ausgabe von 1 Frc. pro Person
und Jahr erhalten würde; immer würde das für die Gemeinden im Vergleich
zu den im oben genannten Berichte (S. 58) mitgetheilten Städten mit Pou-
drettirung (Rochdale 2 Schilling 3 Pence, Manchester 2 Schilling 4 V 2 Pence
pro Kopf der Bevölkerung) ein günstiges Resultat sein.
Sehr zu bedauern ist es, dass die Poudrettefabrikation zur Zeit noch
nicht in Amsterdam Seitens der Stadt ausgeführt wird, man würde erst,
wenn diese auch stattfände und man mehrjährige Resultate vor sich hätte,
sich ein vollständiges Bild über die praktischen Leistungen desLiernur-
Systems uud seine Kosten machen können.
Vierte Sitzung.
Dienstag, den 2 6. August.
Vorsitzender: Dr. Carsten (Haag).
Herr Ingenieur Symons (Rotterdam), Vertreter der Firma Siemens,
sprach über
Verbrennung.
Zunächst wurde die Verbrennung heisser Luft durch Regeneratoren be¬
sprochen und deren Nutzen in Betreff des Kostenpunktes und der Gesundheits¬
pflege hervorgehoben. In grossen industriellen Etablissements wird die
Luft reiner sein und nicht mit Rauch gefüllt werden, so dass die Arbeiter
für ihre Gesundheit durch Einathmung reiner Luft Nutzen haben werden.
Bei der Beleuchtung wird durch das Siemens’sehe Regenerativsystem
der Vortheil erreicht, dass keine Kohlensäure in die Räume gelangt und
Vierteljahnschrift für Gesundheitspflege, 1886 . lß
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242 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Ventilation stattfindet. Auch die Heizung durch Gasöfen mittelst heisser
Luft ist die billigere und reinlichere und hygienisch besonders wichtig, da
sie eine gl eich massigere Wärme erzeugt. Schliesslich besprach der Redner
die Leicheny erbrenn ung, wünschte, dass man dafür einen populären, weniger
abschreckenden Namen fände, dass ferner beim Bau der Oefen jede nur irgend
mögliche ästhetische und architektonische Form gefunden würde und er¬
wähnte, dass man jetzt auch transportable Leichenverbrennungsöfen con-
struire. Da in Holland die Erlaubnis zur Leichenverbrennung nicht
besteht, bat Herr Symons um nochmalige Annahme des schon auf dem
letzten Genfer Congresse gefassten Beschlusses, dass die Regierungen
ersucht werden sollten, die Verbote aufzuheben, die der facultativen Leichen¬
verbrennung entgegenstehen, da namentlich bei grösseren Epidemieen die
Leichen Verbrennung ja vom grössten hygienischen Nutzen ist.
Nachdem Prof. Dr. C. A. Pekelharing (Utrecht), Delegirter des nieder¬
ländischen Vereins für Leichenverbrennung, den Vortragenden unterstützte,
wurde die vor zwei Jahren in Genf gefasste Resolution in Betreff der Leichen¬
verbrennung angenommen, alle Regierungen zu bitten, die Hindernisse, die
der facultativen Leichenverbrennung entgegenstehen, wegzunehmen und die¬
selben auf den grossen Nutzen aufmerksam zu machen, den die Leichen ver¬
brennung bei heftigen Epidemieen hat. (Siehe Comptes rendus et mtmoires
du quatribme congres international (Thygüne et dömographi ä GeniUe, Tom II,
p. 112.)
Fünfte Sitzung.
Mittwoch, den 2 7. August.
Vorsitzender: Professor Dr. Sn eilen (Utrecht).
Da für die zweite Section ' kein Material mehr vorlag, die erste aber
mit den angekündigten Vorträgen nicht fertig werden konnte in der gege¬
benen Zeit, wurde der hochinteressante Vortrag von Dr. W. P. Ruijsch
(Mastricht) über
Die Lumpen, als Seuohenträger eine nationale und
internationale Gefahr,
in dieser Section gehalten. Schon seit langer Zeit hat man die Lumpen als
Seuchenträger für höchst gefährlich erklärt. Aus der holländischen medi-
cinischen Literatur sind eine Menge Fälle erwähnt, wo durch Einführung
von Lumpen die Einschleppung von Cholera, Pocken, Typhus sicher consta-
tirt ist. Auch in anderen Ländern sind wohl 50 derartige Fälle bekannt.
Die Choleraepidemieen in den Niederlanden 1865 und 1866, die Pocken-
epidemieen 1870 und 1873 sind auf Einschleppung durch Lumpen zurück¬
zuführen. Die Sanitätsconferenzen zu Wien und Konstantinopel haben diese
Gefahr constatirt. Am wichtigsten sind die grossen Lumpenniederlagen, die
sich oft in der Mitte grosser Städte befinden, sie sind die Brutstätten der
Ansteckung, da die die Ansteckung bewirkenden Bacterien dort den besten
Nährboden in der Feuchtigkeit, Dunkelheit und erhöhten Temperatur finden,
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243
II. Section (Berichterstatter Dr. R. Blasius).
wie es die Untersuchungen von Tyndall, Pastenr und Roch ergeben
haben. Ausserdem sind so grosse Lnmpenansammlungen im höchsten Grade
feuergefährlich, wie es die letzthin in Amsterdam und Rotterdam entstande¬
nen Feuersbrünste bewiesen haben.
Was soll man dagegen thun? Eine Desinfection der grossen Lumpen¬
ballen an der Grenze des Landes, in das sie gebracht werden sollen, ist sehr
schwer ausführbar und sehr kostspielig und es ist kaum anzunehmen, dass
dasselbe Desinfectionsverfahren gegen alle Krankheiten dieselbe Sicherheit
gewährt. Richtiger ist es, die Lumpen einer strengen Aufsicht in dem
Lande zu unterziehen, wo die Epidemie herrscht, und sie hier in besonderen
Desinfectionsanstalten vor der Exportirung zu desinficiren. Dann können
die Lumpen weder auf dem Transporte noch später in dem Lande, wo sie
verkauft und verarbeitet werden, Infectionsherde bilden. Um die eventuell
mit Infectionsstoffen versehenen Lumpen auf ihrem ganzen Wege vom Bette
des Kranken bis in die Papiermühle za überwachen, schlägt Redner Fol¬
gendes vor:
1. Errichtung von Desinfectionsstationen.
2. Verbot von Lumpenniederlagen im Centrum der Städte und Verlegen
derselben nach der Peripherie.
3. Bestimmung, dass Lumpen nur in passend verschlossenen Geiassen,
sei es in Ballen oder in Kisten, transportirt werden dürfen.
4. Continuirliche Lüftung der Lumpenniederlagen.
5. Schutz der beim Sortiren der Lumpen beschäftigten Arbeiter (Vacci-
niren und Revacciniren derselben, Tragen besonderer Ueberkleider
in der Fabrik, Waschen der Hände und des Gesichts nach der Arbeit).
6. Desinfection der Arbeiter und ihrer Kleider nach der Arbeit.
7. Verbot des Verkaufes von Bettzeug und Wäsche von mit Infections-
krankheiten behafteten Personen.
8. Internationales Gesetz über den Transport von Lumpen.
Zum Schlüsse beantragt der Redner, die Versammlung möge beschlieBsen,
das! trotz der von der Industrie erhobenen Einrede in Betreff der Gefähr¬
lichkeit der Lumpen, die augenblicklich über den Transport derselben in
Kraft befindlichen gesetzlichen Bestimmungen nicht genügen und in den¬
selben eine nationale und internationale Gefahr bestehe.
In der Discussion zeigte es sich, dass Dr. Smith (London), Dr. Mouton
(Haag), Neujean (Lüttich) über die Hauptpunkte mit Dr. Ruijsch über¬
einstimmten, speciell erklärten die Engländer sich für eine zwangsweise sehr
strenge Desinfection der Lumpen, die in ihrem Lande bereits von Privaten
und von der Regierung ausgeübt werde.
Der Antrag Ruijsch wurde hierauf angenommen, ebenso der Antrag
des Redners, eine internationale Commission zu ernennen, die die Gefahren
zu studiren habe, die die Lumpen in hygienischer Beziehung bieten, mit
dem Amendement von Dr. Mouton, es der Commission zu überlassen,
noch einige Industrielle zu cooptiren. Zu Mitgliedern der Commission wur¬
den ernannt: Finkelnburg (Bonn), Corfield (London), Vallin (Paris),
Ruijsch (Mastricht) und Mouton (Haag).
16 *
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244 Fünfter internationaler Coügress für Gesundheitspflege im Haag.
III. Section.
Nahrungsmittelhygiene, Hygiene des Hindesalters,
Privathygiene.
Berichterstatter: Dr. G. Custer.
Erste Sitzung.
Freitag, den 2 2. August.
Vorsitzender: L. Verspyck, Medicinalinspector von Geldern und Utrecht.
Professor Brouardel (Paris) sprach
Ueber Nahrungsmittelverfälschung.
Dieses Thema war schon am letzten Congresse in Genf besprochen
worden und hatte die Generalversammlung folgendes Votum des Redners
angenommen: „Die Vertreter der verschiedenen Nationen sollen den Text
der bei denselben gültigen Gesetze oder Polizeiverordnungen über Nahrungs¬
mittelVerfälschung mitbringen , damit der Congress untersuchen könne,
welche internationalen Maassregeln dagegen zu ergreifen seien.* 1
Brouardel begründet seinen Wunsch erneuerter Behandlung des
Gegenstandes damit, dass die Nahrungsmittel immer mehr verfälscht würden,
häufig kommen auch schädliche Substanzen zu denselben hinzu durch die
verschiedenen Conservirungsmethoden. Die frühere Gesetzgebung kannte
und übte sehr scharfe Strafen gegen Lebensmittelfälschung. Heute existiren
Gesellschaften mit grossem Capital, welche besondere Chemiker besolden
und auf verschiedene Weise Nahrungs- und Genussmittel zum Schaden der
Consumenten verändern. Es entstehen auch immer neue Methoden der
Verfälschung, welche häufig dadurch gefährlich sind, dass zwar auf einmal
nur ganz kleine Dosen giftiger Stoffe in den menschlichen Organismus
hineingerathen, durch täglichen Consum derselben aber eine verderbliche
cumulative Wirkung hervorgebracht wird. Nothwendig ist zunächst die
Festsetzung, was für Verfälschungen in verschiedenen Ländern hauptsächlich
Vorkommen; es hat dies eine internationale Bedeutung, weil die in dem
einen Lande gefälschte Waare in ein anderes importirt wird und hier auch
Schaden anstiftet. Ferner soll alles gesetzliche Material über Nahrnngs-
mittelfälschung in den einzelnen Staaten gesammelt und verglichen werden.
Dr. Lnbelsky (Warschau) macht auf die Schwierigkeit internationalen
Vorgehens aufmerksam, welche darin liegt, dass in verschiedenen Ländern
auch verschiedene Ansichten herrschen über den Begriff „Fälschung“.
Dieser wechsle auch mit der Zeit, wie man dies bei den Zusätzen zum
Wein habe sehen können. Die Hauptfrage sei zunächst die, zu entscheiden,
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III. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
welche den Nahrungsmitteln beigefugten Substanzen als toxisch and desshalb
als verwerflich betrachtet werden m&ssen und welche nicht. Erst nach
erzielter Einigtmg hierüber könne international gegen das Uebel vorgegangen
werden.
Die Section giebt schliesslich folgenden Wünschen des Professor
Brouardel ihre Zustimmung:
1. Ist eine aus Vertretern aller Nationen bestehende Commission za
ernennen, welche eine Sammlung der in den verschiedenen Ländern
über Nahrangsmittelfälschung in Kraft befindlichen Gesetze und
Verordnungen veranstaltet. Termin bis zur Einlieferung des
Materials sechs Monate.
2. Eines der Commissionsmitglieder macht an der Hand der ihm zu¬
gestellten Documente einen Bericht mit Anträgen für den nächsten
Congress. Dieser sollte die Umrisse einer internationalen Convention
zwischen den verschiedenen Staaten bezüglich Nahrungsmittelfäl¬
schung enthalten.
Auf Wunsch des Vorsitzenden verfasste Brouardel für die zweite
Sitzung ein Fragenschema, um möglichste Einheit in die Art des zu
sammelnden Materiales zu bringen. In demselben wird die Aufmerksamkeit
auf folgende Punkte gerichtet:
1. Schädliche Folgen durch die Einfuhr der verschiedenen zur Fälschung
verwendeten Substanzen. Angaben von Aerzten, welche die Arbeiter
solcher Etablissemente behandeln, in denen jene Stoffe angefertigt
werden. Bitte an die Aerzte, fortlaufende Beobachtungen über den
Gesundheitszustand jener Arbeitergruppen anzustellen und mitzu-
theilen.
2. Publication der Methoden, welche von den mit Lebensmittelanalysen
beschäftigten Chemikern zur Entdeckung von Fälschungen ange¬
wendet werden.
3. Sammlung der Gesetze zur Bestrafung der Lebensmittelfälschung.
Mit der Aufgabe der Bearbeitung des Materiales der Enquete und des
darauf bezüglichen Rapportes wird Professor Brouardel betraut.
Dr. Huizinga (Harlingen) hielt einen Vortrag
Ueber die Gefahren der Unterrichtsmethoden fiir
das Nervensystem der Schüler und die Mittel zur
Abwehr.
Wir erzeugen durch Ueberbürdung der Schulprogramme eine gewisse
Irritabilität des Gehirns der Schüler in Folge congestiver Zustände des¬
selben, welche von schlimmem Einfluss auf deren Leistungsfähigkeit, auf
Charakter und Willenskraft ist. Es wird die physische und psychische
Widerstandsfähigkeit der Schüler beeinträchtigt. Ein Beweis der zu
grossen Anstrengung der nervösen Centralorgane des Schulkindes ist der
bei denselben nicht selten zu constatirende Kopfschmerz, welcher während
der Ferien wieder verschwindet. Auch lassen sich bei den Schülern
mancherlei Formen von Neurasthenie beobachten. Für genaue Umschreibung
der hierher gehörigen Zustände und ihres Zusammenhanges mit dem Schul-
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246 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
leben fehlt es noch an einer umfassenden und exacten Statistik. Redner
fasst seine Ansichten über die vorliegende schwierige Frage in folgende
Sätze zusammen:
Jede Unterrichtung8methode, welche mehr die Entwickelung des Wissens
als jene des Könnens beabsichtigt, stellt eine Gefahr für die Gesundheit des
Nervensystems der Schüler dar.
In vielen Fällen von habituellem Kopfschmerz der Schulkinder ist der
Unterricht als directe Ursache dafür oder als Hinderniss für Genesung auf¬
zufassen.
Die zu den Studien und Examen erforderlichen Geistesanstrengungen
führen bei geistig mittelmässigen Personen leicht zu einer Abschwächung
der Energie.
Durch die einseitige Geistesentwickelung und die Ueberreizung des
Nacheifers wird das jugendliche Gemüth zu krankhaft verkehrten An¬
schauungen gebracht, welche sich nur zu oft den Psychosen nähern.
Die Maassregeln zur Erhaltung der Gesundheit im Allgemeinen ausser
Beachtung lassend, schlägt der Vortragende zur Vermeidung oben genannter
Gefahren folgende Bestimmungen vor:
Die Unterrichtspläne sollten für alle Stufen des Unterrichtes in einen
obligatorischen und facultativen Theil zerfallen. Jener soll sich auf die
Bedürfnisse der geistig Mittelmässigen beschränken, dieser die Gelegenheit
zur Erwerbung ausgebreiteterer Kenntnisse nur denjenigen darbieten, deren
Interesse und Widerstandsfähigkeit erprobt sind.
Statt einer gleichmässigen, allgemeinen Entwickelung nachzujagen,
begnüge man sich damit, dasjenige zu lehren, was Jedermann für seine
spätere Thätigkeit brauchen wird und überlasse die Verbreitung der Wissen¬
schaft der persönlichen Initiative geistig höher Stehenden.
Die Examen sind als ein nothwendiges Uebel zu betrachten. Man
beschränke dieselben auf die Controle der zur Amtsfahigkeit nothwendigen
Kenntnisse, von einer Prüfung des erreichten allgemeinen Entwickelungs-
grades gänzlich absehend.
Die Zeugnisse der Lehrer sind als Uebergang von einem Lehrgänge
zum anderen den Examen vorzuziehen.
Insbesondere sollten die Examen zur Erlangung des jus docendi so ein¬
gerichtet werden, dass der Unterricht in verschiedenen Fächern einer einzigen
Person übertragen werden kann.
Dr. Drouineau (Rochelle) bespricht die Nachtheile einer zu lange hinter
einander ohne gehörige Pausen fortgesetzten Unterrichtszeit und die Noth-
wendigkeit grösserer Ausspannung und Erholung der Schüler von den geisti¬
gen Anstrengungen durch sorgfältigere Rücksicht auf Anlage und Benutzung
von Spielplätzen, auf gymnastische Uebungen. Die Forderungen der Schul¬
programme hinsichtlich der Zahl und Vertheilung der Unterrichtsstunden
müssen mit den Forderungen der Hygiene in Einklang gebracht werden.
Ein grosser hygienischer Uebelstand liegt darin, dass, wie dies z. B. in
Frankreich geschieht, die gleiche Zahl von Schulstunden für junge wie
für ältere Schüler in den Primarclassen verlangt wird und sollte eine an¬
gemessenere Vertheilung der Arbeit in den Schulen je\iach dem Alter der
Kinder stattfinden. Auch ist eine Reduction der Schüler zahl in manchen
Classen dringend nothwendig, indem aus der Ueberfüllung vieler Schul¬
locale mancherlei gesundheitliche Missstände entspringen. Das Maximum
einer Classe sollte 50 nicht übersteigen; dem Mangel an genügenden
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III. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
Localen und Lehrkräften muss abgeholfen werden. Jede Schule sollte eine
fortlaufende hygienische Ueberwachung besitzen und hätten die betreffenden
Functionäre ein besonderes Augenmerk auf die physische Erziehung der
Schulkinder zu richten. Es wäre sehr zu wünschen, dass über die Zustände
in den einzelnen Ländern hinsichtlich der Schulprogramme eine besondere
Enquete angestellt würde. Er proponirt zur Entlastung der Schüler Auf¬
hebung der Hausaufgaben für die Schule sowie Beseitigung der Prüfungen
in den Primarschulen, auf Grund deren Abgangszeugnisse ausgefertigt zu
werden pflegen. Dieselben wären durch einfache summarische Noten der
Lehrer zu ersetzen.
Dr. Zoeros-Bey (Konstantinopel) stellt folgende von der Section
angenommene Wünsche:
1. Die Programme der Primär- und Secundarschulen aller Länder sollten
vom hygienischen Standpunkte aus geprüft und, da sie überladen
sind, modiflcirt werden, damit die geistigen Anforderungen an die
Kinder zu deren physischen Kräften in bessere Harmonie treten.
2. Der Turnunterricht soll für beide Geschlechter obligatorisch gemacht
und derselbe als ein ebenso wichtiges Schulfach behandelt werden
wie die Grammatik. Die Körperübungen, besonders auch die Spiele,
sind in viel ausgedehnterem Maasse zu betreiben als bisher.
Zweite Sitzung.
Sonnabend, den 23. August.
Dr. Roth (London) spricht
Ueber die Nothwendigkeit, die Lehramtscandidaten
in den Seminarien und die Studenten der Medioin
in Privathygiene und physisoher Erziehung zu
unterrichten.
Es ist eine dringende Forderung der Zeit, dass die praktischen Elemente
der Gesundheitslehre von allen Leuten gekannt und angewendet werden.
Zur möglichsten Verbreitung dieser Kenntnisse ist vor Allem eine gehörige
Instruction der angehenden Lehrer und Aerzte nöthig, damit sie in Schule
und Praxis Propaganda machen können für hygienische Grundsätze hin¬
sichtlich Luft, Ernährung etc. Auf eine nach richtigen Principien geleitete
physische Erziehung, welche die harmonische Entwickelung aller Theile des
menschlichen Körpers anstrebt, ist ein Hauptaugenmerk zu richten; die¬
selbe ist um so wichtiger und dringender, als eine fortschreitende Degene¬
ration der Bevölkerung namentlich in den grossen Städten — so z. B. in
England — stattfindet. Eine rationelle physische Erziehung ist aber nur
möglich, wenn der Lehrer in Anatomie, Physiologie und Hygiene des
Menschen, in Theorie und Praxis der Gymnastik gehörig eingeweiht ist.
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248 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Die Uebungen in der letzteren, für welche in den Schulen nach des Redners
Standpunkte keinerlei Geräthe nothwendig sind, m&ssen auf anatomische
und physiologische Kenntnisse basirt werden. Das rationelle System von
Ling — Gymnastik ohne Apparate — ist das empfehlenswertheste.
Um für seine Ansichten durch Anschauungsunterricht Propaganda zu
machen, hatte Dr. Roth für die internationale Hygieneausstellung in London
eine interessante Sammlung solcher Gegenstände veranstaltet, welche auf
Popularisirung der elementarsten Begriffe über Hygiene und physische
Erziehung Bezug haben. Dieselben erstrecken sich auf naturgemässe Er¬
nährung, Kleidung und gesamrote übrige Pflege des Kindes — schon von
der Geburt an — auf hygienische Ausstattung der Schulen (Schulbänke
nach Roth 1 8 System mit concaver Lehne für den Rücken und convexer
für die Lenden, Einführung einfacher Ventilationsvorrichtungen in alten
Schullocalen), auf rationelle Muskel Übungen ohne Apparate, auf Erziehung
der Blinden. Der Hauptinhalt seiner nach dem Alter des Kindes stufen¬
förmig angeordneten Collection wird den Mitgliedern der Section durch
herumgereichte grosse Photogramme illustrirt und äussert man den Wunsch,
es möchten die sehr anschaulichen Bilder auf lithographischem Wege zu
allgemeiner Verbreitung besonders auch in den Schulen gelangen. Dr. Roth
wünscht, es sollten die Elemente der Hygiene in allen Schulen gelehrt
werden.
Dr. Guyo (Amsterdam), Chefredacteur des Recueü medical der Nieder¬
lande, spricht
Ueber die Gefahren der Gewohnheit, durch den
Mund zu athmen, sowohl für die Athmungswerk-
zeuge als für das Gehörorgan.
Er giebt zunächst eine Uebersicht über die seinen Gegenstand behan¬
delnde Literatur und führt das Beispiel des Philosophen Kant an, welcher
sich durch Ablegung der Gewohnheit, mittelst des Mundes zu athmen,
von einem hartnäckigen Husten befreite. Der Redner bezieht sich besonders
auf das merkwürdige Büchlein des englischen Reisenden Georg Catlin,
das den Titel führt „Geschlossener Mund erhält gesund“ (über¬
petzt von Dr. Flachs, Leipzig). In diesem originellen, mit Illustrationen
versehenen Schriftchen werden in drastischer und vielfach stark über¬
triebener Weise sogar eine Menge schwerer Erkrankungen und Todesfälle
beim Menschen auf die Gewohnheit zurückgeführt, mit offenem Munde zu
schlafen. Die bekannten Unterschiede, Vor- oder Nachtheile hinsichtlich
Reinigung, Erwärmung der Luft je nach der Athmung durch Nase oder Mund
werden aus einander gesetzt. Von der Respiration durch den Mund lassen sich
mancherlei Schädlichkeiten ableiten. Die zu trockene, im Winter zu kalte,
auch oft durch Staub verunreinigte Luft übt beim directen Einströmen in
die Mund- und Rachenhöhle einen nachtheiligen Einfluss auf Schleimhäute
und Zähne. Im Schlafe werden bei jener üblen Angewohnheit die Schleim¬
häute ausgetrocknet, in Folge davon können besonders bei Kindern auf
reflectorischem Wege mancherlei nervöse Störungen (z. B. Nachthuston)
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249
III. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
ein treten. Die schlimmen Folgen erstrecken sich bis auf die Schleimhaut
des Gehörorgans (Eustachische Röhre und Mittelohr) und des Kehlkopfes.
Die Mittel zur Verhütung der genannten schädlichen Gewohnheit—
vorausgesetzt, dieselbe finde ihre Erklärung und Entschuldigung nicht in
Erkrankungen und Missbildungen der Nase und deren Gängen — sind:
Erziehung in der Familie, Belehrung, Reinhaltung der Luft, da verdorbene
Athemluft zu supplementärem Athmen durch den geöffneten Mund führt,
als mechanisches Hülfsmittel wird eine einfache Bandage zum Verschlüsse
des Mundes empfohlen.
Dritte Sitzung.
Montag, den 2 5. August.
Dr. Roth (London) spricht
Ueber die Vorbeugung der Blindheit und die physische
Erziehung der Blinden.
Das vom hygienischen und socialen Standpunkte hochwichtige Thema
der Verhütungsmaassregeln der Blindheit war schon am letzten internatio¬
nalen Hygienecongress in Genf zum Gegenstände einer Preisaufgabe gemacht
worden. In England existirt seit dem Jahre 1880 eine Gesellschaft zur
Prophylaxis jenes leider noch so verbreiteten Uebels und zur Verbesserung
des physischen Wohles der Blinden (Society for the prevention of blindness
and the improvement of the physic of the blind). Dieselbe entfaltet durch
Massenverbreitung kleiner Broschüren und Flugblätter über die vermeid¬
baren Ursachen der Erblindung, durch Versammlungen etc. eine sehr rührige
Thätigkeit, wie dies bei so vielen Associationen in England in rühmlicher
Weise der Fall ist.
In Europa leben mehr als 300 000 Blinde, in England allein über
30 000. Das Verhältnis derselben zur Gesammtbevölkerung ist ungefähr
1:1000. Sie verursachen, pro Kopf und Tag zu einem Franken gerechnet,
eine jährliche Ausgabe von 116 Millionen. Der grösste Theil dieser Unglück¬
lichen— etwa 2 / s —haben ihr trauriges Gebrechen in Folge von Unwissen¬
heit und Vernachlässigung bekommen. Aus den statistischen Zusammen¬
stellungen von Magnus in Breslau ergiebt sich, dass unter 2528 Blinden
nur 3*8 Proc. mit angeborener Blindheit sich befanden; 10*9Proc. erlangten
das Uebel durch eiterige Augenlidentzündung der Neugeborenen, 9*5 Proc.
durch granulöse Processe der Augenlidbindehaut. Die Untersuchungen
junger Blinder in den Anstalten lehren überall, dass dieselben in überaus
vielen Fällen um das Augenlicht kommen in Folge theils verhütbarer, theils
nach dem Ausbruche bei rechtzeitiger und richtiger Behandlung heilbarer
Krankheiten. In besonderem Grade gilt dies von der Augenentzündung
kurze Zeit nach der Geburt, welche durch Geringschätzung von Seiten der
Mütter, Hebammen und Pflegefrauen so verderbliche Consequenzen für das
Sehorgan mit sich bringt. Eine andere Ursache der Erblindung liegt in
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250 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
der Unwissenheit vieler Personen, welche mit solchen Arbeiten beschäftigt
sind, die eine Prädisposition zu Augenerkrankungen erzeugen. Ungeimpfte
oder schlecht geimpfte Bevölkerungen weisen auch eine grössere Zahl von
Blinden durch Betheiligung der Augen an dem Pockenausschlag auf als gut
geimpfte.
Zur Verhütung der Blindheit sind folgende Mittel nothwendig: Gründ¬
liches Studium und Bekanntmachung der Ursachen; Entfernung oder mög¬
lichste Abschwächnng der letzteren durch Belehrung über Hygiene im
Allgemeinen und naturgemässe Pflege des Auges im Speciellen; Verbreitung
kurz gehaltener Schriftchen und Flugblätter über Augenhygiene mit der
dringenden Empfehlung rechtzeitiger Anrufung guter, ärztlicher Hülfe im
Falle von Erkrankung des Auges, speciell bei den kleinsten Kindern;
Belehrung der Hebammen und Kinderpflegefrauen — durch besondere
gedruckte Instructionen — über die grosse Gefährlichkeit der eiterigen
Augenentzündung Neugeborener; rationelle Schulhygiene (Vermeidung von
Factoren, welche Kurzsichtigkeit erzeugen).
Die physische Erziehung der Blinden wird in manchen Instituten ganz
vernachlässigt, es ist nothwendig, derselben durch Einführung von Körper¬
übungen, Freiturnen aufzuhelfen.
Dr. van Dooremaal (Haag) spricht
Ueber die Vorurtheile als Ursache der Blindheit.
Nach den statistischen Erhebungen von Majer in München fallen in
Europa auf je 10 000 Bewohner 8 bis 9 Blinde. Dieses Verhältnis wird
jedoch in Holland nicht erreicht; hier kommen auf 10000 Einwohner nur
4 bis 5 Blinde. Trotzdem ist auch diese Ziffer noch zu gross und kann
durch mannigfache Hülfsmittel reducirt werden. Es ist auch in den Nieder¬
landen ein verbreiteter Uebelstand, besonders unter den niederen VolkB-
classen, dass man den Augenleiden häufig eine viel zu geringe Aufmerk¬
samkeit schenkt, oft gar nicht oder viel zu spät richtige ärztliche Hülfe
dagegen anruft. Dadurch geht die Sehkraft manchen Auges verloren.
Besonders schlimm ist diese Gleichgültigkeit bei den oft so verhängnis¬
vollen Augenentzündungen jugendlicher Individuen, zumal der Neugeborenen.
Auch ist zu bedauern, dass die Aerzte selber nicht selten viel zu geringe
Kenntnisse besitzen über die Augenleiden und deren rationelle Behandlung,
bo dass durch Zuwarten in gefährlichen Fällen oder mangelhaftes Eingreifen
unheilbare Blindheit nach sich ziehende Zustände entstehen. Unpassend
wird besonders oft die eiterige Augenentzündung nach der Geburt von Seiten
der Aerzte behandelt.
Dr. Fieuzal (Paris) weist auf die günstigen Resultate hin, welche in
der nationalen Augenklinik am Hospice des Quinze - Vingts und in den
Gebäranstalten von Paris durch Auswaschungen der Augen bei den Neu¬
geborenen mittelst desinficirender Lösungen von Sublimat oder Carbolsäure
erzielt werden. In Deutschland hat bekanntlich Credö in Leipzig zum
gleichen Zwecke prophylactische Einträufelungen einer 2procentigen Lösung
von Argentum nitricum empfohlen, welche von den Hebammen nach jeder
Geburt auszuüben sind. Fieuzal zieht seine Methode derjenigen von
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III. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
Credö vor und fuhrt als Empfehlung dafür die glänzenden Resultate an,
welche in Paris hinsichtlich Verminderung der Anzahl der Augeneiterungen
bei Neugeborenen und deren Erblindungen erzielt worden seien.
Dr. Haltenhoff (Genf) macht auf die dringende NothWendigkeit auf¬
merksam, an den Universitäten und medicinischen Schulen für ein gründ¬
licheres Studium der Augenkrankheiten von Seiten der Medicincandidaten
zu sorgen, jeder der letzteren sollte bei seinem Doctorat auch in der Augen¬
heilkunde geprüft werden; die Betheiligung am Unterricht in dieser
Specialität ist an jeder medicinischen Facultät obligatorisch zu erklären.
Er hält es auch für wünschenswerth, die Zahl der humanitären Institute
für Blinde nach dem Muster desjenigen in Paris zu vermehren.
Vierte Sitzung.
Dienstag, den 2 6. August.
Dr. Vallin, Professor der Hygiene am Val-de- Oräce (Paris) hielt
einen Vortrag
Ueber die Gefahr der Einverleibung des Fleisches und
der Milch tuberoulöser Thiere.
Die Schlusssätze des Redners lauten:
1. Die Tuberculose (Perlsucht) der Thiere ist eine mit der Tuberculose des
Menschen identische specifische Krankheit.
2. Es ist experimentell erwiesen, dass durch die Einfuhr tuberculöser Massen
in rohem Zustande Tuberculose künstlich erzeugt werden kann.
3. Einspritzung von Blut oder Muskelsaft schwindsüchtiger Thiere unter die
Haut oder in das Bauchfell kann Tuberculose hervorbringen.
4. Der Genuss rohen, von perlsüchtigen Rindern stammenden Fleisches führt
in manchen Fällen zu Tuberculose, besonders der Unterleibsorgane.
6. Die Uebertragbarkeit des tuberculösen Virus wird erst bei einer Tem¬
peratur aufgehoben, die beträchtlich höher ist als diejenige, welche die
inneren Theile der Fleischstücke bei den modernen Methoden des Bratens
annehmen.
6. Die Milch perlsüchtiger Kühe ist verdächtig und kann zur Entstehung
von Tuberculose Veranlassung geben. Besonders gefährlich ist ihr Genuss
dann, wenn bei Kühen tuberculose Affectionen der Milchdrüsen existiren.
7. In gekochtem Zustande ist Milch tuberculöser Thiere unschädlich.
8. Zur Verhütung der Gefahr kann man sich vorläufig darauf beschränken,
das von Thieren mit ausgesprochener, allgemeiner Tuberculose und
beginnender Abmagerung herrührende Fleisch zu verbieten und zu con-
fisciren.
9. Man muss die Gewohnheit, noch blutendes, gebratenes Fleisch zu essen,
bekämpfen. Zu noch grösserer Sicherheit sollte auch die Milch jedesmal
vor dem Genüsse tüchtig abgekocht werden.
10. Die Frequenz der Tuberculose unter dem Vieh sollte man möglichst zu
reduciren streben durch sorgfältige Auswahl bei der Züchtung, durch
Reformen in der Stallhygiene, Isolirung der erkrankten Thiere, Des-
infection der Ställe, in welchen die Krankheit sich eingenistet hat.
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252 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
11. Die Tuberculose des Rindviehs sollte in die Classe der Epizootieen ein¬
gereiht und wie diese der Anzeigepflicht, Isolirung, Desinfection, Con-
flscirung und in gewissen Fällen der Abschlachtung mit Vernichtung des
Fleisches unterworfen werden.
12. Es ist nöthig, die Gründung von Versicherungsgesellschaften gegenüber
der Tuberculose des Rindviehs zu begünstigen, damit die Besitzer für
die entstehenden Verluste durch Beschlagnahme der kranken Stücke
entschädigt werden.
M. Jorissenne (Lüttich) glanbt, es sollte den Thesen noch eine hin-
zugefügt werden, welche die Errichtung von Freibanken in denjenigen
Ländern verlangt, in welchen dieselben noch nicht eingeführt sind. Das
Fleisch tuberculöser Tbiere dürfte nur an diesen speciellen Verkaufsstätten
feil geboten werden. Die Käufer wären über die Gefahr aufzuklären, welche
mit dem Genüsse des genannten Fleisches verbunden ist, wenn dasselbe
vorher nicht genügend gekocht worden ist. So würde dem Verluste einer
grossen Menge Fleisches vorgebeugt, das vollständig von der Ernährung
auszuschliessen doch kein genügender Grund vorhanden sei.
Vallin hält die Gefahr nicht für ausgeschlossen, dass bei bestehender
Freibank das gesundheitsgefährliche Fleisch dennoch zu blutigen Beefsteaks
verwendet werde. Die Frage über Zulässigkeit oder Abschaffung der Frei¬
bänke sei eine bei den Thierärzten noch sehr streitige und angesichts der
Prophylaxis der Tuberculose durch verdächtiges Fleisch sollte man keine
Bestimmungen dulden, welche gerade den Consum desselben begünstigen.
Mouton (Haag) ist der Ansicht, dass die von besonderen Gesellschaften
begründeten und regelmässig controlirten Milchwirthschaften eine grosse
Garantie verleihen gegenüber der Gefahr durch Milch tuberculöser Kühe
Vallin erwähnt, dass in der grossen Milchwirthschaft von Aylesbury
in London beinahe täglich durch besondere Beamte der Gesellschaft eine
sanitarische Inspection der Kühe stattflnde und jedes Thier, welches hustet,
sofort beseitigt werde. Leider sei aber die Erkennung der Perlsucht
schwierig und desshalb das Sieden der Milch stets anzurathen.
Smith (London) meint, die Gefahr liesse sich abschwächen oder ganz
beseitigen durch den Gebrauch der condensirten Milch, welche in der Regel
aus Gegenden stammt, wo die Kühe frei sind von Tuberculosis (?).
Die Thesen werden von der Section angenommen.
Professor Armaingaud von Bordeaux hätte
Ueber die Küstensanatorien für Schwache, Scrophulöse
und für chronisch Kranke im Allgemeinen
referiren sollen, da er dasselbe Tbema schon am letzten Congresse in Genf
behandelt und darüber folgende von der Versammlung angenommene Vor¬
schläge gemacht hatte: „Die verschiedenen Staaten werden eingeladen, die
Zahl der genannten sehr wohlthätigen Anstalten ztr vermehren; es soll das
statistische Material aller bis jetzt in Europa bestehenden Seesanatorien
gesammelt und dem folgenden Congress eine übersichtliche Arbeit darüber
vorgelegt werden.“ Als Berichterstatter war Armaingaud erwählt
worden. In seiner Abwesenheit gaben Ganitätsinspector Dr. Verspyk
und Dr. van Mandele (Scheveningen) interessante Aufschlüsse über die
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III. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
in den Niederlanden gegründeten Seehospize und deren Resultate. Es
existiren derartige Institute in Wyk-aan-Zee bei Amsterdam und in Scheve¬
ningen (Sophiastiftung). Dieselben sind hauptsächlich für scrophulöse und
rachitische Kinder unbemittelter Classen bestimmt. Für den Unterhalt des
Kinderhospizes in Scheveningen, in welchem im Jahre 1883 im Ganzen 92
Kranke — darunter 44 mit scrophulösen Leiden — Aufnahme fanden,
besteht ein besonderer Verein.
Es wurde beschlossen, die genannte Frage auf die Tagesordnung auch
noch des folgenden Congresses zu setzen.
Fünfte Sitzung.
Mittwoch, den 2 7. August.
Professor Poincare (Nancy) spricht
Ueber experimentelle Nachforschungen über den
Nährwerth des Fleisohpulvers.
Er hat Hunde mit pulverisirten Beefsteaks entweder für sich allein
oder in Verbindung mit Brodsuppen gefüttert. Die Thiere wurden genau
gewogen. Als Resultat ergab sich, dass dieses Pulver einen geringeren
Nährwerth besitzt als ein gleiches Gewicht frischen Fleisches. Es scheint
sogar nach Art der in Fäulniss übergegangenen Nahrungsmittel den Ver¬
dauungsapparat zu reizen und soll nur in Ausnahmefällen angewendet
werden, wenn das gewöhnliche Fleisch nicht verdaut wird.
Dr. Dutrieux-Bey (Alexandrien) spricht
Ueber die Einfuhr alkoholischer Getränke in Central¬
afrika.
Nach des Redners Ansicht ist die physische und moralische Degene¬
ration der einheimischen Volksstämme in Centralafrika zurückzuführen auf
den übermässigen GenusB geistiger Getränke. Der Alkoholismus ist eine
schwer wiegende Zukunftsfrage für die Existenz und das normale Befinden
eines grossen Theiles der Bevölkerung Afrikas. Er hält dafür, dass es eine
Pflicht des internationalen hygienischen Congresses wäre, gegen diese
Ursache der Entartung und Sitten Verwilderung zahlreicher Bevölkerungs¬
gruppen Protest einzulegen und äuBsert den Wunsch, die Consuln möchten
sich der Einfuhr von Spirituosen in die genannten Gegenden widersetzen.
Diesem Wunsche wurde von der kleinen Zahl anwesender Mitglieder auch
wirklich zugestimmt, dagegen in der letzten allgemeinen Sitzung die Ein¬
schränkung gemacht, noch zuerst eine Bestätigung der Behauptungen des
Wunschstellers durch den am Congresse anwesenden Delegirten von Cen¬
tralafrika abzuwarten.
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254 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
IV. Section.
Gewerbliche und sociale Hygiene. Kleinkinder¬
hygiene.
Berichterstatter: Dr. G. Custer.
Erste Sitzung.
Freitag, den 22. August
Vorsitzender: A. Fokker, Professor der Hygiene in Groningen.
Dr. BTapi&s (Paris) spricht
Ueber das Reoht und die Pflioht des Staates und der
Fabrikanten, Maassregeln für die Gesundheit der
Arbeiterbevölkerung zu ergreifen.
Er giebt zuerst eine historische Uebersicht über die gewerbehygienischen
Bestrebungen und Gesetzgebungen der verschiedenen civilisirten Länder
Europas, unterzieht dieselben einer näheren Kritik, wobei er besonders die
Sicherung der Arbeit, die Salubrität der Fabriken und die Regelung der
Kinderarbeit ins Auge fasst. Ausführlicher verbreitet er sich über sein
Vaterland Frankreich, in welchem gegenwärtig drei Regiemente über
Arbeiterhygiene existiren. Das Maximum der Arbeitszeit ist daselbst auf
12 Stunden angesetzt. Der Redner stellt folgende Thesen auf: /
1. Man hat in allen Ländern die Nothwendigkeit erkannt, die Rechte des
Staates für den Arbeiterschutz gesetzlich zu fixiren. Es ist aber zu
wünschen, dass in sammtlichen Staaten die Bedingungen der Arbeiter¬
hygiene noch exacter definirt werden.
2. Die Forderungen, welche an ein Gesetz über die Gesunderhaltung der
Arbeiter zu stellen sind, beziehen sich auf die innere Salubrität der
Arbeitslocale, die Sicherheit der Arbeit, Festsetzung einer untersten
Altersgrenze für Zulassung jüngerer Individuen, Schutz der Frauen, auf
die Mittel für den Schutz der Nachbarschaft industrieller Etablissemente,
Wohlfahrtseinrichtungen für den Fall der Arbeitslosigkeit besonders in
Folge von Krankheit und hohes Alter, auf Vorschriften hinsichtlich
Salubrität der Wohnungen, Einrichtung billiger Arbeiterhäuser.
8. Bezüglich des Gesundheitszustandes der Werkstätten oder Fabrikräume
müssen die allgemeinen Bedingungen der Hygiene für ein salubres Wohn«
local erfüllt werden; es sollen ganz besondere Maassregeln Platz greifen,
um die Arbeiter gegen die Gefahren durch Gase oder explosive Stoffe zu
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IV. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
schützen. Diese gesetzlichen Mittel würden mit grossem Nutzen ergänzt
durch Aufmunterungen, alle Vervollkommnungen oder neuen Fabrikations¬
methoden einzuführen, welche einen bestimmten Industriezweig gesunder
gestalten können.
4. Hinsichtlich der Sicherung der Arbeit soll der Fabrikant nur haftbar
sein, wenn er jene Gesetzesartikel nicht beobachtet, welche vorbeugende
Maassregeln zum Schutze von Gesundheit und Leben des Arbeiters
enthalten. Die Gesetzgebung muss hauptsächlich auf die nachtheiligen
Folgen Rücksicht nehmen, welche aus einer in zu frühem Alter begonnenen
oder zu lange Zeit hinter einander betriebenen Beschäftigung der Arbeiter
resultiren. Bezüglich der Frau muss sie die nothwendigen Vorkehrungen
ins Auge fassen, welche vom socialen Standpunkte zum Schutze ihrer
Stellung und Functionen als Mutter gefordert werden. Die Dauer der
Arbeit für die Erwachsenen könnte nur durch freies Uebereinkommen
geregelt werden (?).
5. Ohne besondere gesetzliche Vorschriften sollten die Regierungen alle jene
Mittel begünstigen, um den Arbeitern während Krankheiten die noth-
wendige Hülfe angedeihen zu lassen. Namentlich ist die Gründung von
Gesellschaften für gegenseitige Unterstützung und von Pensionscassen zu
fördern.
6. Der Staat muss auch durch das Gesetz einschreiten für die Assanirung
der ungesunden Wohnungen und die vorgeschriebenen Verbesserungen
zwangsweise ausführen lassen, da es nicht viel helfen würde, bloss die
Salubrität der Arbeitslocale zu sichern, dagegen den Arbeiter zu Hause
in den schlechten, unreinlichen und ungesunden Wohnräumen zu belassen,
in welchen er sich heutzutage noch überall aufhalten muss.
Die Thesen gaben zu einer lebhaften DiBcussion Veranlassung.
Dr. Smith (London) kann sich mit den Lobeserhebungen des Redners
über die Leistungen der englischen Gesetzgebung für Arbeiterhygiene nicht
ganz einverstanden erklären. Diese Legislation ist von beschränktem Ein¬
flüsse, die Zahl der Fabrikinspectoren ungenügend. Er führt das Beispiel
einer israelitischen Colonie in London an, in welcher 18 000 bis 20 000
Mädchen beschäftigt werden. Die Arbeiterinnen befinden sich unter
ungünstigsten hygienischen Bedingungen. Die Arbeit wird als eine Art
Hausindustrie betrieben, doch dient der erste Stock der Häuser als Atelier.
Wenn der Fabrikinspector kommt, werden die Arbeitslocale geleert und die
Mädchen gehen aus einander. Die Arbeitsdauer ist meist eine viel zu
lange — von 7 Uhr Morgens biB 2 Uhr in der Nacht (!) — bald ist Ebbe
in der Beschäftigung, bald eine wahre Hochfluth.
Bezüglich der Arbeiterwohnungen sind die Zustände in England noch
weit von einer befriedigenden Lösung entfernt. Die Arbeitercites und
die Arbeiterquartiere, welche von der Gemeinnützigkeit ins Leben gerufen
wurden — z. B. die PeabodyhäuBer in London — sind sehr theuer und
lassen nach mancher anderen Hinsicht zu wünschen übrig.
Grosse Uebelstände hinsichtlich Fluss Verunreinigung durch die Fabrik-
abWässer werden dadurch erzeugt, dass die Mehrzahl der Fabrikbesitzer Mit¬
glieder der Localgesundheitsbehörden sind und diejenigen, welche das Gesetz
anwenden sollten, es vom Interessestandpunkte aus verletzen.
Smith verlangt eine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit für
beide Geschlechter. Sowie mehrere Personen zu Hause mit .industrieller
Arbeit beschäftigt sind, sollen die gesetzlichen Bestimmungen über Arbeiter-
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256 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Bchutz ebenfalls in Anwendung kommen. Es müsste auch ein Lohnminimum
festgesetzt werden, unter welches die Arbeitgeber nicht gehen dürften; die
durch freie Concurrenz hervorgebrachte Fluctuation in der Besoldung der
Arbeiter ist die wahre Ursache für das Elend der betreffenden Bevölkerungs-
olassen in London.
Napias will die Frage nicht aufs sociale Gebiet verpflanzen, sondern
sie nur von rein hygienischen Gesichtspunkten behandelt sehen. Bei den
billigen Arbeiterwohnungen sei ein Unterschied zu machen zwischen den¬
jenigen im Innern grosser Städte und solchen, welche mehr ausserhalb
derselben gelegen sind. Die ersteren können sich den Ursachen der In-
salubrität in Folge der Zusammendrängung der Bevölkerung nur schwierig
entziehen. Die letztere Kategorie ist hygienisch viel besser bestellt und
sie muss desshalb vor Allem angestrebt werden, um so mehr, als heutzutage
die Verbindungen der Aussenquartiere mit den Stadtcentren durch Tram¬
ways etc. so ungemein erleichtert sind.
Dr. Dooremaal (Haag) weist darauf hin, dass unter den Vorbeugungs¬
maassregeln in den Arbeitslocalen auch auf den Schutz der Augen vor
traumatischen Schädlichkeiten bessere Rücksicht genommen werden sollte.
Die Berufserkrankungen des Sehorgans sollten genauer studirt werden, um
mit besserer Einsicht in deren Ursachen auch eine wirksame Prophylaxis
treiben zu können.
Dr. Roth (London) wünscht ausser gesetzlichen Eingriffen über Arbeiter-
Bchutz mit Fabrikinspection eine Instruction des Personals, welche allein im
Stande sei, dessen tiefwurzelnde Indifferenz gegenüber den Fragen der
Arbeitergesundheitspflege zu beseitigen.
Ingenieur Malherbe (Lüttich) macht aufmerksam auf die bedeuten¬
den Fortschritte in der Gewerbehygiene in Belgien, welche fast ansschliess-
lich auf dem Wege der Privatinitiative errungen wurden. Auch die Arbeiter
müssen in den Principien der Gesundheitspflege mit specieller Anwendung
auf ihre Beschäftigung erzogen werden.
Dr. Custer (Rheinek) hält es für sehr schwierig, ja geradezu für
unausführbar, alles dasjenige, was Napias von der Legislation verlangt,
auch wirklich auf diesem Wege zu erreichen. Wie kann man z. B. durch
das Gesetz den Bau gesunder, billiger Arbeiterhäuser erzwingen! Gerade
nach dieser Richtung kann die freiwillige Thätigkeit, sei es Einzelner, wie
z. B. human gesinnter Fabrikeigenthümer, oder specieller Associationen am
meisten leisten und die Erfahrung hat dies auch in manchen Ländern
glänzend bewiesen. Auch für Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeiter über¬
haupt hat die Privatopferwilligkeit bis jetzt die Hauptsache gethan und
wird es auch sicher in Zukunft thun. Es gilt nur, den Wetteifer der Fabrik¬
besitzer in dieser philanthropischen Richtung immer mehr zu entfesseln und
die Associationshülfe besser zu organisiren. Zur Unterstützung des
Gesagten citirt er entsprechende Beispiele aus der gewerbehygienisch Vieles
leistenden Schweiz sowie ans dem Lande des Congresses, aus Holland. Die
in Delft, in der Nähe vom Haag befindliche grosse Hefen- und Spiritus¬
fabrik ist auf dem Associationswege gerade jetzt damit beschäftigt, eine
v CiU ouvribre a in einem prächtigen Parke zu gründen, welchen er besich¬
tigte und zu dessen Besuch er die Mitglieder der Section lebhaft auffordert.
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IV. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
Es folgt die Vorlesung einer Arbeit von M. Blache (Paris)
Ueber Hygiene der Säuglingskrippen (Oröches).
In derselben werden die innere Einrichtung und Reglemente dieser
Institute eingehend geschildert. Die Mütter kommen leider nicht so
häufig als es nöthig und wünschenswerth wäre, um ihre Kinder zu stillen,
die einen, weil sie sich diese Mühe nicht nehmen mögen, die Mehrzahl aber
aus dem Grunde, weil die Tagesbeschäftigung dieses Zeitopfer ihnen nicht
gestattet. Nichtsdestoweniger soll man deren Säuglinge in den Krippen
behalten, um dadurch zu verhüten, dass die kleinen, oft genug schwächlichen
Wesen in die Hände von Pflegerinnen gerathen, bei denen sie viel schlechter
aufgehoben sind als in den geschilderten Anstalten. Jede Krippe sucht
das Stillen möglichst zu fördern, sie soll für die Mütter eine Schule der
Moral und der Hygiene sein und auch bei den Arbeitgebern die nöthigen
Schritte thun, damit die Mütter die Erlaubniss bekommen, in bestimmten
Zwischenräumen ihre Beschäftigung zu unterbrechen und in der Krippe die
Kinder zu stillen.
Die Möglichkeiten für Entstehung ansteckender Krankheiten sind in
den Krippen nicht grösser als in Kinderasylen und Schulen. . Die Grund¬
sätze der Prophylaxis stimmen daselbst mit denjenigen an anderen Anstalten
überein. Die Krippen, indem sie die widerstandslosen Säuglinge den viel¬
fach so ungünstigen hygienischen Bedingungen des mütterlichen Hauses
entziehen, verhüten gerade die hier oft gegebenen Quellen ansteckender
Krankheiten und erfüllen eine wichtige Aufgabe der Kinderhygiene.
Zweite Sitzung.
Sonnabend, den 23. August.
Dr. Verstraeten (Gent) liest einen Aufsatz
Ueber das Asthma der Fabrikanten von Roggenbrot.
Er beobachtet seit mehreren Jahren eine aus fünf Individuen beste¬
hende Familie, welche Biscuits aus Roggenbrot verfertigt und in der er
wiederholt eine besonders charakterisirte Form von Asthma behandelt hat.
Die Kranken erwachen in der Nacht mit starker Athemnoth, werfen übel¬
riechende Massen aus, in denen sich mikroskopisch amorphe Körperchen
nachweisen lassen. Diese finden sich auch im Staube des Locales, welches
zur Fabrikation der Biscuits dient. Er giebt detaillirte Mittheilungen
über die Art dieses Beschäftigungszweiges, bei welchem sich viel Staub
entwickelt; die Locale sind meist ungesund eingerichtet.
Als Mittel zur Verhütung der Einathmung der durch Reflexreizung
das Asthma erzeugenden Staubpartikelchen empfiehlt er sanitätspolizeiliche
Regiemente behufs Einführung künstlicher Ventilationsvorrichtungen in
den betreffenden Werkstätten, sowie das Tragen einer Eisendrahtmaske,
welche mit sehr engmaschiger Mousseline übersponnen ist.
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1886. 27
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258 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Dr. Donders, Professor der Physiologie in Utrecht, hält einen Vortrag
Ueber functionelle Verschiedenheiten der Augen.
Die Ausführungen des berühmten Forschers waren von originellen
Experimenten begleitet und beschäftigten sich mit dem sowohl den Physio¬
logen als auch den Prophylaktiker interessirenden Thema der Farben-
blindheit (Achromatopsie).
Jedermann sieht Farben, aber nicht in gleichem Grade. Es giebt
Individuen mit schwach entwickeltem Farben Wahrnehmungsvermögen und
solche, welche gewisse Farben gar nicht erkennen können. Man hat nur
eine kleine Zahl von Fundamentalfarben anzunehmen, nämlich Roth, Grün
und Violett; die verschiedenen Farbennüancen erhält man, indem mehr oder
weniger Weise zu den Hauptfarben hinzugefügt wird. Die verbreitetsten
Formen der Farbenblindheit sind Roth- und Grünblindheit.
Das schwache Farben Wahrnehmungsvermögen — nach des Vortragen¬
den reicher Erfahrung unter je 17 Individuen einmal vorkommend — kann
entdeckt werden durch ein multiples Spektroskop. Für die gewöhnliche
Praxis — genauere Untersuchungen sind an den Specialisten zu verweisen —
empfiehlt sich eine Tafel mit vier einfachen, gesättigten Farben; auch die
Tabellen von Stilling sind sehr brauchbar.
Vom prophylaktischen Standpunkte muss ein vollkommen normaler
Farbensinn — für Maschinisten auf Locomotiven etc. auch eine intacte
Sehschärfe — von den Angestellten auf Eisenbahnen und auf der Marine
verlangt werden und ist sämmtliches Personal derselben einer genauen
bezüglichen Prüfung zu unterwerfen.
Dritte Sitzung.
Montag, den 25. August.
Dr. Layet, Professor der Hygiene an der medicinischen Facultät in
Bordeaux, spricht
Ueber die absichtliche Beschränkung der Fortpflan¬
zung in ihren Folgen für das Individuum und die
Gesellschaft.
Dieses für Bevölkerungsstatistik, Nationalökonomie und sociale Hygiene
wichtige Thema hat eine ganz besondere Bedeutung für Frankreich mit
seinem geringen Geburtenreichthum in Folge des bekannten Grundsatzes
des Zweikindersystems. Dies ist auch hauptsächlich der Grund, warum
gerade ein französischer Referent darüber spricht. Man erblickte in Frank¬
reich in der langsamen Zunahme der dortigen Bevölkerung selbst eine
nationale Gefahr. Leroy-Beaulieu, Chefredacteur des Economiste frangais
fragte geradezu: „Was soll in ein oder zwei Jahrhunderten aus den Fran¬
zosen werden, wenn die Deutschen, Engländer, Russen und Chinesen fort-
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259
IV. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
fahren, rieh so rapid wie jetzt zu vermehren? Die durchschnittliche
Kinderzahl pro Ehe ist in Frankreich Beit dem Beginn dieses Jahrhunderts
progressiv gesunken/
Der Redner beleuchtet seinen delicaten Gegenstand sowohl vom
individuellen als vom socialen Standpunkte. Die freiwillige Beschränkung
der Fortpflanzung, wie sie bei einem ganzen Volke, z. B. beim französischen,
üblich ist, hat eine Verminderung der Bevölkerung und eine Schwächung
der nationalen Kraft zur Folge, welche für die Zukunft Bedenken erwecken
muss. Dadurch wird namentlich auch der Einwanderung fremder Elemente
Vorschub geleistet, welche in Frankreich bereits in bedeutendem Grade
stattfindet. Von nationalökonomischen Gesichtspunkten aus bedeutet
die absichtliche Beschränkung der Nachkommenschaft eine Verminderung
der allgemeinen Productionskraft auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit.
Das Malthus’sche Gesetz von der übermässigen Zunahme der Bevölkerung
gegenüber dem damit nicht gleichen Schritt haltenden Anwachsen der
Subsistenzmittel betrachtet Lay et bei den heutigen Verhältnissen ver¬
änderten Erwerbslebens besonders durch die Industrie gegenüber fast aus¬
schliesslicher Bodenbewirthung in früheren Zeiten als nicht mehr zutreffend;
das Gegentheil davon sei als wahr anzunehmen: die Mittel des Unterhaltes
entwickeln und vermehren sich mit den Mitteln der Ausnutzung zahlreicherer
Arbeitskräfte.
Vom Boden der Moral betrachtet, befördert die absichtliche Beschrän¬
kung der Fortpflanzung, welche hauptsächlich unter ehelichen Verhältnissen
zur Anwendung kommt, die Vermehrung der unehelichen Geburten. In
Frankreich haben die neun Departements mit der geringsten Ziffer legitimer
Geburten den höchsten Coefficienten unehelicher Kinder, das Gegentheil lässt
sich constatiren in neun Departements mit der beträchtlichsten Menge
ehelicher Geburten. Da die Gewohnheit der willkürlichen Einschränkung des
Nachwuchses laut erhobenen Untersuchungen in ländlichen Gegenden Wurzel
fasst, so entsteht daraus eine der ernstesten Gefahren für das ganze Reich.
Vom individuellen Standpunkte aus wird die Angst, Kinder zu
bekommen und die in Folge davon geübte Verhinderung der Conception
für die Eheleute eine Ursache nervöser Unruhe und Reizbarkeit. Unvoll¬
ständige Befriedigung der einschlägigen physiologischen Acte stört die
Gesundheit der Verheiratheten und für die trotz möglichster Vorsicht
dennoch erzeugten Kinder entsteht die Gefahr, als Wirkung der krankhaft
gesteigerten Reizung des Nervensystems der Eltern während der Coaptation
eine nervöse Anlage davon zu tragen.
Redner will gefunden haben, dass in den neun Departements, wo die
Familien am wenigsten Kinder besitzen, die Menge der Geisteskranken in
Irrenanstalten im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung beträchtlicher sei,
als in den übrigen mit grösserem Kinderreichthum.
Als Mittel gegen die besprochene Calaroität werden genannt: Begün¬
stigung der Heirathen; Belohnungen für grössere Kinderzahl; Entwickelung
und Beförderung der Bestrebungen für Kolonisation.
Professor Felix (Bukarest) erwähnt neben der absichtlichen Verhütung
der Conception die gewaltsame Unterbrechung der Schwangerschaft als ein
17 *
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260 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
schon im Alterthum viel angewandtes Mittel, die Menge der Nachkommen
willkürlich zu beschränken. Nach seiner Meinung giebt es für Ausrottung
dieses auch heutzutage noch oft vorkommenden Uebels kein wirksames
Mittel, weder durch Erziehung noch durch Gesetzgebung.
Dr. Lunier, Inspector der Irrenanstalten in Frankreich, macht mit
Recht auf die Unsicherheit der von Lay et als Beweismittel für seine
Theorieen angeführten Statistik über die Zahl der Geisteskranken aufmerk¬
sam, indem er hervorhebt, dass aus der Menge der in Anstalten versorgten
Irren kein Schluss auf den wirklich existirenden Coefficienten von Geistes¬
störung zur Gesammtbevölkerung eines Departements, in welchem eine
solche öffentliche Anstalt sich befindet, gezogen werden dürfe. Trotzdem
ist auch er überzeugt, dass zwischen der absichtlichen Beschränkung der
Fortpflanzung und der Erzeugung eines nervösen Zustandes besonders bei
Frauen ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Eine der Ursachen für
jenes bedauerliche System, welches sich auch in den ländlichen Provinzen
Frankreichs immer weiter ausbreitet, ist die Aufhebung des Erstgeburts¬
rechtes. Als Mittel zur Bekämpfung der in Frage stehenden misslichen
Erscheinung im Volksleben könnte man auch — eine Steuer für Ledig¬
bleiben ins Auge fassen! Er würde jedoch vorziehen, solchen Eltern, welche
mehr als drei oder vier Kinder haben, eine Prämie zu verabfolgen.
Dr. Guye (Amsterdam) vertheidigt das Malthus’sche Gesetz, das so
oft missverstanden werde, weil man es nicht recht studirt habe. Dieses
Gesetz ist von zwingender Nothwendigkeit, und indem die Franzosen es
anwenden, tliun sie gut daran. Nach schweren Epidemieen und grossen
Kriegen füllt eine um so beträchtlichere Vermehrung der Nachkommenschaft
die entstandenen Lücken bald wieder aus.
Vierte Sitzung.
Dienstag, den 26. August.
Professor Poincard (Nancy) besprach seine
Experimentellen Untersuchungen über die Wirkung
der Anilinfarben.
Es giebt Anilinfarben, z. B. Fuchsin, Chrysoi'din etc., welche toxische
Wirkungen entfalten können, auch wenn sie vollständig rein sind, während
andere, wie Anilinblau, Gelb und Orange, Eosin, Rocellin u. a., gar nicht
giftig sind. Die ersteren sollten daher zum Färben von Kinderspielwaaren,
von Nahrungsmitteln, Wein, Liqueuren etc. verboten werden, und dies mit
um so grösserem Rechte, weil sie im Handel nie so rein Vorkommen, wie
die Muster einer chemischen Sammlung sind. Sie können desshalb ausser
ihrer besonderen toxischen Wirkung auch noch diejenigen ihrer Verunrei¬
nigungen, z. B. mit Arsenik, Quecksilber oder Blei, entfalten. Bezüglich
der Färbung von Geweben und Papieren mit den genannten Farben braucht
man nicht so strenge zu sein. Zu verlangen ist aber auch für diese Fälle,
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IV. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer).
dass die Anilinfarben immer vollkommen gut haften, damit sie durch Ab¬
farben nicht in den Köper derjenigen Personen gelangen, welche mit ihnen
manipuliren müssen oder Stoffe tragen, die damit imprägnirt sind.
Zum Schutze der Arbeiter in Anilinfabriken sollen besondere Verzeich¬
nisse aufgehängt werden, in denen die schädlichen Substanzen aufgeführt
sind. Die Arbeitslocale müssen so ausgiebig als möglich ventiiirt uud
gefährliche Dämpfe durch besondere Vorrichtungen behufs Verbrennung
oder Condensation unschädlich gemacht werden. Strengstens ist auf pünkt¬
liche Beobachtung aller Vorschriften zu dringen, welche auf die Arbeits¬
kleider, Reinlichkeitspflege sich beziehen. Mahlzeiten dürfen in den Fabri¬
kationsräumen selber nicht gehalten werden.
Dr. Napias (Paris) macht auf die Gefahren einzelner Anilinfarben,
wie z. B. des Eosins, in staubförmigem Zustande aufmerksam. Er beobachtete,
dass die Gesundheit der Arbeiter und besonders der Arbeiterinnen, z. B. der
Blumenmacherinnen, welche mit in Lösungen von Eosin getauchten Gegen¬
ständen zu manipuliren hatten, Schaden litt. Die betreffenden Individuen
magerten ab, verloren an Körperkräften; die Mehrzahl bekam Hautausschläge
und Entzündungen der Schleimhäute. Die Farben, welche an sich nicht
toxisch wirken, werden dadurch gefährlich, dass sie in der Form von blei¬
haltigen Firnissen industrielle Verwendung finden.
Professor Clouet (Rouen) unterstützt die Angaben seiner Vorredner.
Er hat seit mehreren Jahren die physiologischen Wirkungen gewisser Farb¬
stoffpräparate des Anilins studirt und gefunden, dass mehrere derselben
wirkungslos sind wegen der äusserst geringen Menge des färbenden Bestand¬
teils, die sie gelöst enthalten. Dies ist z. B. der Fall beim Malachitgrün
sowie bei mehreren anderen Grünnüancen, welche in Alkohol löslich sind
und in der Fabrikation von Spirituosen (z. B. zur Färbung des Absynths)
verwendet werden. Die nämlichen Präparate können aber Schaden stiften,
wenn sie auf die* Haut oder auf die Schleimhäute geraten in Folge von
Verstäubung aus Geweben, deren Imprägnation mit ihnen eine mangelhafte
war. In Frankreich hat man eine Reihe von Gesundheitsstörungen beobach¬
tet in Folge der Verwendung von Stoffen, welche nach ihrer Fabrikation in
Lösungen von Anilingrün getaucht worden waren.
Hinsichtlich der giftig sein sollenden Wirkungen des Fuchsins, Granat-
roths u. a. ist Clouet etwas anderer Meinung als Poincarö. Er hält das
reine Fuchsin für vollständig unschädlich. Seine sowohl an Thieren als
auch an Menschen gemachten physiologischen Versuche gestatten ihm den
Schluss, dass man ohne irgend welche bedenkliche Folgen sehr grosse Dosen
Fuchsin gemessen kann, vorausgesetzt, dasselbe sei rein und frei von
Arsenik oder anderen toxischen Beimischungen. Veranlassung zu seinen
einschlägigen Untersuchungen gaben die weitläufigen Gerichtsverhandlungen,
welche vor einigen Jahren über die künstliche Färbung von Weinen mittelst
Fuchsin gepflogen wurden. Im Gegensätze zu den widerstrebenden Resul¬
taten, zu welchen Ritter in Nancy gelangt war, nahmen er und einige
seiner Schüler im Verlaufe von ein paar Tagen bis 40 g reinen Fuchsins zu
sich, ohne den mindesten Nachtheil davon zu verspüren. Bei einem der¬
selben zeigte sich allerdings der Urin vier Tage lang nach begonnenem
Experiment eiweisshaltig.
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262 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Die Versuche mit arsenikfreiem Granatroth ergaben, dass noch grössere
Dosen desselben als von Fuchsin keine weiteren Störungen hervorriefen, als
Erbrechen in Folge Ekels gegenüber wiederholten, stets wachsenden Gaben
des Präparats. — Das Aufgebeu der genannten Farbmittel für Wein hat
auch weitere Experimente mit denselben unterbrochen. Gegenwärtig wird
an deren Stelle das Roth von Bordeaux verwendet und wäre es wünschenB-
werth, die physiologischen Wirkungen dieses Präparats näher kennen zu
lernen, da es heutzutage in beträchtlichen Mengen genossen wird.
Fünfte Sitzung.
Mittwoch, den 27. August.
Dr. Sn ijder8 (’s Gravesande) spricht
Ueber den Einfluss der Versicherung^cassen oder
„Begräbnissvereine“ auf die Kindersterblichkeit.
Es handelt sich nicht um jene Begräbnissvereine, welche die Bestattung
ihrer verstorbenen Mitglieder nach dem Tode selbst besorgen, sondern die
Betrachtungen des Redners gelten nur jener speciellen Art von Begräbniss-
cassen, die beim Tode jedes ihrer eingeschriebenen Mitglieder den recht¬
mässigen Erben des Verstorbenen eine bestimmte Geldsumme auszahlen.
Der Betrag derselben wird zuvor fixirt und zwar geschieht dies im Ver¬
hältnis zu einem vom Verstorbenen bei Lebzeiten zu bezahlenden höheren
oder geringeren Wochengelde.
Zufolge einer eigentümlichen Bestimmung in den Statuten der Mehr¬
zahl dieser bloss auf Gewinn ausgehenden Vereine wird von den ver¬
heirateten, zumal aus den wenig bemittelten Volksclassen sich recrutirenden
Mitgliedern für die Kinder bis zu einem bestimmten Alter keine Contribution
gefordert. Trotzdem erhalten die Eltern beim Tode solcher Kinder eine
der Höhe ihres eigenen Beitrages entsprechende Geldsumme, welche man
mit dem Namen „freie oder freiwillige Rückzahlung" bezeichnet.
Diese freiwillige Entrichtung einer oft ganz unbedeutenden Summe
von Seiten der Gesellschaften erweckt leider öfter die kaum glaubliche, ver¬
ächtliche und fatale Begierde der Eltern, sich in wohl überlegter Weise bei
mehreren — oft bei drei bis vier — dieser Versicherungscassen gleich¬
zeitig einschreiben zu lassen. Durch diesen Umstand wird manchmal der
vorzeitige Tod eines Kindes herbeigeführt, besonders wenn dasselbe den
jüngsten, schwächsten und am wenigsten widerstandsfähigen Altersclassen
angehört.
Der Einfluss der grösseren oder geringeren Betheiligung an den Ver¬
sicherungscassen auf die höhere oder niedrigere Sterblichkeitsziffer der
Kinder, besonders im ersten Lebensalter ist aus den vergleichenden statisti¬
schen Tabellen des Verfassers ersichtlich, nur scheinen dieselben dem Refe¬
renten desshalb nicht ganz beweiskräftig zu sein, weil anderweitige, mögliche
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IV. Section (Berichterstatter Dr. G. Custer). 263
Localursachen für Vermehrung oder Verminderung der Kleinkindersterblich-
keit in den betreffenden Gemeinden ganz ausser Acht gelassen worden sind
(z. B. Höhe der GeburtszifFer, Art der Ernährung und gesammten Pflege
der Säuglinge). In der Provinz Utrecht starben in den Jahren 1875 bis
1879 in 6 Gemeinden, in denen die genannten Begräbnisscassen sehr beliebt
sind, von je 100 Lebendgeborenen unterhalb des ersten Lebensjahres im
Mittel 30*4; in 3 Gemeinden, in welchen jene Vereine nur wenige Mit¬
glieder zählen, dagegen nur 17*2.
Es handelt sich bei der besprochenen Erscheinung nach des Redners
Ansicht nicht um das Resultat einer mehr oder weniger unvorsichtigen
oder grausamen That der Eltern, sondern unzweifelhaft um unedle Gleich¬
gültigkeit und cynische Sorglosigkeit gegenüber den oft langwierigen,
heftigen und nicht gelinderten Leiden ihrer abgezehrten und misshandelten
Kleinen.
Obgleich anzunehmen ist, dass die gesetzliche und gewissenhafte
Anwendung des einzig radicalen Mittels wider die genannten Ausschrei¬
tungen — den verschiedenen Lebensversicherungsvereinen absolut zu ver¬
bieten, beim Tode kleiner Kinder (z. B. bis zum Alter von zehn Jahren)
eine Prämie auszuzahlen — kaum erwartet werden darf, so ist dennoch ein
Gesetz zur Regelung der Missstände unerlässlich.
Dasselbe sollte hauptsächlich folgende Bestimmungen enthalten:
a) Die gleichzeitige Einschreibung als beitragleistendes Mitglied mehrerer
Begräbnisscassen ist Jedermann untersagt.
b) Die „freien“ oder „freiwilligen“ Rückzahlungen sind diesen Vereinen nicht
gestattet.
c) Beim Tode eines bei einer solchen Gesellschaft eingeschriebenen Mit¬
gliedes unter dem Alter von zehn Jahren findet die Auszahlung der über¬
eingekommenen Summe nicht statt, ohne dass ein legalisirtes und unzwei¬
deutiges Zeugniss darüber beigebracht wurde, dass der Verstorbene in
seiner letzten Krankheit ärztliche Hülfe erhalten habe. Ausgenommen
sind hierbei solche Fälle, in denen eine offenbare Unmöglichkeit, jene
Bedingungen zu erfüllen, nachgewiesen werden kann.
Prof. Poincarö und Dr. Vallois (Nancy) sprechen über ihre
Experimentellen Untersuchungen liber die Wirkung
der künstlichen Riechmittel,
welche von Conditoren und Liqueurverkäufern verwendet werden.
Es geht daraus hervor, dass die verschiedenen, zum genannten Zwecke
benutzten Substanzen — Parfüms von Ananas, Erdbeeren, Himbeeren etc. —
giftige Wirkungen entfalten, wenn sie Thieren in grösseren Dosen bei¬
gebracht werden (heftige Athemnoth, Krämpfe, Husten, Kräfteverfall, Be¬
wusstlosigkeit oder Delirien). Keines der Versuchsthiere ging aber zu
Grunde.
Da für den Zusatz der Riechmittel zu Bonbons, Liqueuren etc. nur
sehr geringe Quantitäten gebraucht werden, so können dieselben auch für
den Menschen keinen gesundheitlichen Nachtheil haben.
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264 Fiiufter internationaler Congress für Gesundheitspflege im liaag.
V. S e c t i o n.
Demographie.
Berichterstatter: Dr. Richard Böckh.
Die fünfte Section des Congresses für Hygiene und Demographie, deren
Anschluss an den Gesundheitspflege - Congress dem Namen desselben die
Demographie oder — wie der Congress zu Genf sich verständlicher
deutsch bezeichnete — die Bevölkerungsstatistik hinzugesellt hat,
begreift den wenig zahlreichen Kreis von Statistikern, welcher, nachdem
die statistischen Congresse eingegangen sind, die frühere internationale
Verbindung aufrecht erhält.
Ihr Zusammentritt knüpfte sich an den demographischen Congress,
welcher 1878 zur Zeit der Weltausstellung in Paris gleichzeitig mit der
Permanenzcommission des statistischen Congresses tagte und von dessen
Mitgliedern verschiedene zugleich der letzteren angehörten. Von den Unter¬
nehmern des Pariser demographischen Congresses, den Herausgebern der
Annalen der Demographie, Alf. Bertillon und Arth. Chervin, war später
die Aufforderung ausgegangen, dass die Bevölkerungsstatistiker sich dem
hygienischen Congresse zu Genf als besondere Section anschlieBsen möchten.
Für den guten Fortgang dieses Unternehmens war entscheidend, dass
L. Bodio, welcher im Jahre 1880 vergebens versucht hatte, die statistische
Permanenzcommission in Rom zu versammeln — da seine Einladung an
dem Machtworte scheiterte, welches den Directoren der deutschen Staaten¬
bureaus die Theilnahme untersagte —, selbst der Einladung nach Genf
folgte. Als in Genf die Verhandlungen dieser in einer gewissen Selbständig¬
keit bestandenen Section geschlossen wurden, blieb es zweifelhaft, ob die¬
selbe vorziehen würde, die besonderen Congresse für Demographie wieder
aufzunehmen, oder ob sie sich weiter dem hygienischen Congresse an-
schliessen würde. Eine Commission sollte hierüber entscheiden, in welche
A. Bertillon, an dessen Stelle dann sein Sohn und Nachfolger in der
Direction der Statistik, J. Bertillon, trat, der Professor Director Böckh
aus Berlin, derGeneraldirector der italienischen Statistik Professor Bodio,
Dr. Arthur Chervin aus Paris, Professor Dunant in Genf, ferner der
durch die vortrefflichen Jahrbücher der Brüsseler Mortalität zugleich als
Statistiker bekannte Director des hygienischen Instituts Dr. Janssens, der
Director der Pester Statistik J. Körösi und der Director der eidgenössi¬
schen Statistik Dr. Kummer. Die Entscheidung wurde nothwendig, als
das Comite für den nach dem Haag berufenen hygienischen Congress die
Demographie unter den von der ersten Section zu behandelnden Gegen¬
ständen genannt hatte. Nachdem sich sämmtliche Mitglieder mit dem
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V. Section (Berichterstatter Dr. R. Böckh).
Anschlüsse an den hygienischen Congress einverstanden erklärt hatten,
wurde ihnen durch den Generalsecretär des Congresses, Herrn van Over¬
beek de Meijer, die selbständige Bildung einer Section gestattet, deren
Arbeiten vorzubereiten Herr Dr. Chervin in entgegenkommender Weise in
die Hand nahm, ausser welchem sich noch mehrere Mitglieder (Bertilion,
Böckh, Bodio, Kummer) zu Referaten bereit erklärten.
Wie in der Regel der Zusammentritt eines statistischen Congresses von
einem Aufschwünge in der Statistik des Landes begleitet wird, in welchem
er stattfindet, so auch in Niederland, wo nach dem unglücklichen Ende des
hochverdienten Begründers der niederländischen Statistik, M. M. v. Baum¬
hauer, das Bureau für allgemeine Statistik eingegangen war und es seit
1878 an einer statistischen Centralstelle fehlte, wenngleich die Fach¬
ministerien die Arbeiten ihres Ressorts fortführten. Der Verein für nieder¬
ländische Statistik, anfangs zu Leyden, seit 1879 zu Amsterdam, hatte es
versucht, die fehlende Centralstelle zu ersetzen, und von ihm wurde kurz
vor dem Zusammentritte des Congresses das Institut für niederländische
Statistik ins Leben gerufen, an dessen Spitze der Professor der Statistik
A. Beaujon gestellt wurde. Durch diese Stellung, wie durch seine wissen¬
schaftliche Bedeutung, mit einem Worte durch seine ganze Persönlichkeit
ward Beaujon der berufene Leiter der demographischen Section, als
welcher er vor und während des Congresses fungirte und für welchen er
zugleich ein Referat übernommen hatte, dem er ein zweites in Vertretung
seines abwesenden Collegen Professor van Pesch hinzufügte. Neben
Beaujon und Chervin wurden die anwesenden Mitglieder der Commission
als Ehrenpräsidenten bezeichnet (Bertillon, Böckh und Kummer).
Bodio — welcher heute die Seele der internationalen Statistik genannt
werden kann — war durch den Ausbruch der Cholera in Italien (als Mit¬
glied der Choleracommission) verhindert, Rom zu verlassen; bei Dunant
und Janssens mag gleichfalls die drohende Nähe der Krankheit der Grund
des Ausbleibens gewesen sein, Körösi, der seit dem letzten Congresse
sich durch neue vortreffliche Arbeiten auf dem Gebiete der Demographie
verdient gemacht, fehlte zum ersten Male bei der internationalen Vereinigung
der Statistiker. Zwei Beamte der königlich niederländischen Ministerien
des Auswärtigen und der Marine, die Herren R. A. Klerck und Baron
Welderen Beugers, hatten mit dankenswerther Hingebung die Secreta-
riatsgeschäfte übernommen.
Die Sitzungen der Section fanden in einem Saale des Binnenbofes statt.
Sie wurden am Freitag Morgen durch den Professor Beaujon mit einer
kurzen Darstellung der Lage der niederländischen Statistik und mit dem
Nachrufe an den seit dem letzten Congresse verstorbenen ausgezeichneten
Demographen Professor Alf. Bertillon eröffnet.
Demnächst erstattete Dr. Kummer aus Bern seinen
Bericht über die schweizerische Statistik.
Die von ihm aufgestellten Thesen (welche dem Gegenstände nach theil-
weise mit den von Böckh vorgelegten zusammentrafen) lauteten:
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266 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
1. Die statistischen Bureaus der verschiedenen Staaten werden ersucht,
über die Mortalität ihrer Bevölkerung solche Mittheilungen zu
machen, dass ans denselben nicht allein die Zahl der jährlich Ge¬
storbenen auf tausend Einwohner ersichtlich ist, sondern auch die
Mortalität der einzelnen Altersclassen. Es soll mitgetheilt werden
und aus den pnblicirten absoluten Zahlen besonders berechnet werden
können: die Mortalität im ersten Lebensjahre; im zweiten bis fünften;
von hier ab die Mortalität von je fünf Lebensjahren bis zum Alter
von 20 oder 25 Jahren, und von einem international zu bestimmen¬
den Alter an die Mortalität von zehn Jahre umfassenden Alters¬
classen.
2. Bei Angaben über die Mortalität in den verschiedenen Berufsarten
oder in Folge der verschiedenen Todesursachen sind die angeführten
Altersclassen stets mit zu berücksichtigen.
3. Diejenigen Todesursachen, über welche internationale Vergleichungen
besonders wünschenswerth sind, sollen in einer Liste aufgezählt und
genau definirt werden.
Die betreffenden Verhältnisse wurden durch eine Reihe von Tabellen
beleuchtet, welche der Vortragende vertheilte: so die relative Sterblichkeit in
den verschiedenen Theilen der Schweiz in den Jahren 1878 bis 1883, wobei
Herr Kummer auf die hohe Sterblichkeit der erwachsenen Männer in den
französisch sprechenden Cantonen aufmerksam machte (hauptsächlich in
Neuenburg und Genf), dann die Sterblichkeit nach Todesursachen und Alters¬
classen , und nach dem Beruf und Altersclassen; in der letzteren Tabelle
tritt namentlich hervor, wie sehr die der Arbeiter in Steinbrüchen, der
Fleischer, Böttcher und Schenkwirthe über die allgemeine Sterblichkeit
hinausgeht (sie betrug im Alter von 30 bis 40 Jahren 18, 18, 20, 17 pr. m.
gegen eine allgemeine Sterblichkeit von 11 pr. m., und im Alter von 40 bis
50 Jahren 26, 21, 23, 24 pr. m. gegen 15). Eine besondere Tabelle behan¬
delt die Sterblichkeit an der Lungenschwindsucht nach Berufsarten und
Altersclassen, und hier speciell stellt sich die der genannten vier Berufs¬
arten im Alter von 30 bis 40 Jahren auf 8*6, 6*8, 8*7, 6*9 pr. m. gegen
eine allgemeine Sterblichkeitsziffer dieses Alters von 3*9; ferner im Alter von
40 bis 50 Jahren auf 9*9, 5*8, 7*1, 6*1 gegen eine allgemeine von 3*5 pr. m.
In einer weiteren Tabelle ist die Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebeus-
jahre nach dem Beruf der Eltern unterschieden; das Maximum findet sich
bei den Handarbeitern ohne nähere Angabe und bei der Textilindustrie.
In der sich hieran knüpfenden Debatte brachte Professor Albrecht aus
Bern den Einfluss der Ernährungsweise der Kinder und die hierbei in Berlin
stattgefundenen Ermittelungen zur Sprache, über deren Erfolg einerseits
und deren Mängel andererseits Professor Böckh Auskunft gab. In einem
besonderen Vortrage, welcher die Sterblichkeit an den Pocken behandelt,
zeigt Dr. Kummer an englischen Materialien aus den Jahren 1847 bis
1880, dass zwar die Sterblichkeit der Kinder herabgegangen ist, seit die
Pockenimpfung obligatorisch geworden ist, namentlich die der jüngsten.
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V. Section (Berichterstatter Dr. R. Böckh). 267
Altersclasse, dass jedoch die Sterblichkeit der Erwachsenen zugenommen
hat; dies sei die Folge der Unterlassung der Revaccination, welche ebenso
unentbehrlich sei, wie die erste Impfung.
Schliesslich theilt Herr Kummer die Resultate einer Untersuchung
mit, welche er in Betreff des Einflusses der Menge der Schankstellen auf
den Alkoholismus angestellt hat, welcher letzterer in der Schweiz verhält-
nissmässig am häufigsten in den Cantonen Neuenburg, Solothurn, Genf und
Bern vorkommt. Dieselbe hat zu einem negativen Resultat geführt, indem
eine Uebcreinstimmung nirgends constatirt worden ist.
Der Bericht des Professor Böckh:
Ueber die methodische Berechnung der Sterblichkeit
nach den Todesursachen
war in französischer Sprache vertheilt worden unter Beifügung zweier
Tabellen und zweier graphischer Darstellungen. Er schloss mit folgender
Resolution:
„Für die statistische Feststellung der Sterblichkeit nach Todes¬
ursachen ist es von Wichtigkeit, dass die Verschiedenheit des Alters der
Gestorbenen berücksichtigt wird, und zwar in folgender Weise:
1. indem die Sterblichkeitsziffer (der Mortalitätscoefficient) jeder Alters¬
classe auf die einzelnen Todesursachen vertheilt, und so die Sterb¬
lichkeitsziffer jeder einzelnen Todesursache nachgewiesen wird;
2. indem die Ziffer der Gestorbenen jeder Altersclasse, wie sie aus einer
nach richtiger Methode berechneten Sterblichkeitstafel hervorgeht,
gleichfalls auf die einzelnen Todesursachen vertheilt, und so durch
die Summirung der Antheile jeder Todesursache an den Gestorbenen
aller Altersclassen der Gesammtantheil an der Gesammtsterblichkeit
gewonnen wird;
3. indem aus einer nach richtiger Methode berechneten Sterblichkeits¬
tafel die Ziffer der von den Gestorbenen jeder Altersclasse nicht
erlebten Jahre abgeleitet und diese gleichfalls auf die einzelnen
Todesursachen vertheilt wird; die Summirung dieser Antheile ergiebt
den Gesammtantheil jeder Todesursache an der Wirkung der ge-
sammten Sterblichkeit und bietet damit den Maassstab zur Beurthei-
lung des verderblichen Einflusses derselben/
Im Wesentlichen handelt es sich hierbei darum, dass die richtige
Erkenntniss der SterblichkeitsVerhältnisse, wie solche durch Construction
einer correcten Sterblichkeitstafel erlangt wird, ausgedehnt wird auf die
Erkenntniss der Sterblichkeit an den verschiedenen Todesursachen, mit
anderen Worten, dass die Regeln für die Berechnubg von Sterbetafeln auf
die Sterblichkeit nach Todesursachen angewandt werden. Richtig construirt
ist eine Sterblichkeitstafel, welche auf dem Vergleiche der Zahl der Gestor¬
benen mit der Zahl derjenigen Lebenden beruht, unter welchen die betref¬
fenden Fälle eintreten können, mithin nach der directen Methode berechnet ist.
Diese letztere erscheint am vollkommensten ausgebildet in der Methode des
Berichterstatters, welche derselbe in den Veröffentlichungen des statistischen
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268 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
Amtes, sowie in den statistischen Jahrbüchern der Stadt Berlin, am aus¬
führlichsten aber in der vor Kurzem erschienenen zehnjährigen Bewegung
der Bevölkerung der Stadt Berlin auf S. 47 ff. dargelegt hat; eine fran¬
zösische Ueber8etzung des betreffenden Abschnittes hat der Verfasser vor
zwei Jahren gemäss einer Aufforderung der Redaction der Annales de
dömographie dieser übersandt, so dass das Erscbeineu derselben demnächst
erwartet werden darf.
Eine richtig berechnete Sterblichkeitstafel ergiebt: 1) die relative
Sterblichkeit jedes Alters (die Mortalitätscoefficienten); 2) die Zahl der
Ueberlebenden in jedem bestimmten Altersraonat (nach Monaten, Quartalen,
Jahren); 3) die Zahl der von den Gestorbenen jeder Altersclasse durch¬
lebten Jahre (nach der Böckh’sehen Methode ausgedrückt durch die Zahl
der Lebenden der Geburtszeitclasse), und 4) ergiebt hiermit zugleich
die Zahl der von denselben nicht mehr durchlebten Jahre (bis zum Schlüsse
der Tafel). Alle diese drei Arten von Ziffern müssen also auf die betheilig¬
ten Todesursachen repartirt werden und zeigen dann: 1) die Sterblichkeit
an der bestimmten Todesursache für jede unterschiedene Altersclasse; 2) die
auf die Gesamratheit reducirten Zahlen der Gestorbenen an jeder Todes¬
ursache innerhalb jeder Altersclasse und damit die richtigen Hauptsummen
für jede einzelne Todesursache aus allen Altersclassen zusammengenommen,
und 3) die Zahl der auf jede einzelne Todesursache kommenden nicht durch¬
lebten Jahre.
Die erstbezeichneten Ziffern, also besondere Mortalitätsziffern für be¬
stimmte Todesursachen, sind schon an einzelnen Stellen berechnet worden; sie
finden sich seit einer Reihe von Jahren in dem von Böckh herausgegebenen
statistischen Jahrbuche, sie sind in der zehnjährigen Bewegung der Bevölke¬
rung für 27 Gruppen von Todesursachen mitgetheilt. Also z. B. der Sterb-
lichkeitscoöfficient des männlichen Geschlechts ist im ersten Lebensmonate
84 pr. m.; hiervon kommen 32 pr. m. auf die Sterblichkeit an Lebens¬
schwäche, 24 an Tetanus und sonstigen Krämpfen, 11 auf Durchfall, Brech¬
durchfall und ähnliche Krankheiten. — Die zweite Art der Rechnung ist
neu; sie ist in dem genannten Werke, sowie in den vorgelegten Tabellen
für 45 Gruppen von Todesursachen ausgeführt. Vergleicht man die Ergeb¬
nisse derselben, also die Summen der Gestorbenen aller Altersclassen für die
einzelne Todesursache, mit denjenigen Ziffern, welche sich bei der gewöhn¬
lichen einfachen Reduction für die gleichen Todesursachen herausstellten, so
sieht man, wie falsche Resultate die bisher übliche Art der Rechnung ge¬
geben hatte: z. B. an Lebensschwäche starben in Berlin (richtig) 37*0 pr. ra.
des männlichen Geschlechts, nach der gewöhnlichen Reduction dagegen
51*0 pr. m.; an Tetanus 10*7 (nach der gewöhnlichen Reduction 14*4); an
Diarrhoe, Brechdurchfall u. s. w. 123*5 (nach der gewöhnlichen Reduction
164’5 p. m.); andererseits starben an Herzkrankheiten 33*8 (gewöhnliche
Reduction 22*3), an Krebsleiden 22*5 (gewöhnliche Reduction 12*1), an
Altersschwäche 47*5 p. m. des männlichen Geschlechts (nach der gewöhn¬
lichen Reduction nur 12*6 pr. m.) u. s. w.
Die Zahl der nicht erlebten Jahre ist bis zum Alter 100 Jahre gerech¬
net und ergiebt sich durch den Abzug der erlebten Jahre der Sterblich-
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V. Section (Berichterstatter Dr. R. Böckh).
keitstafel. Ihre Vertheilung auf 32 Gruppen von Todesursachen ist durch
eine graphische Darstellung deutlich gemacht, in welcher die bekannte
Mortalitätscurve die erlebten Jahre ausscheidet, also z. B. beim männlichen
Geschlechte 28227 erlebte von 71773 nicht erlebten Jahren trennt, in
deren Fläche dann die Todtgeburten und die in der frühesten Kindheit
auftretenden Todesursachen die obersten Streifen einnehmen, den untersten
die Alterschwäche; jeder Streifen erweitert sich vom ersten Auftreten der
Todesursache an um die Breite der im folgenden Altersabschnitte Gestor¬
benen. Die Höhe der Zahl der nicht erlebten Jahre wird also wesentlich
mit bestimmt durch das Alter, in welchem die Sterbefälle eintreten; so hat
z. B. Diarrhoe, Brechdurchfall etc. bei 123*3 Gestorbenen 12 012 nicht
erlebte Jahre, die Lungenschwindsucht bei 121*3 Gestorbenen nur 7259
nicht erlebte Jahre, die Altersschwäche bei 47*5 Gestorbenen nur 1011*5
nicht erlebte Jahre.
Um Missdeutungen zu verhüten, führt der Berichterstatter ferner aus,
dass man aus diesen Ziffern nicht schliessen darf, es werde durch die Unter¬
drückung einer Todesart in einem bestimmten Alter die angegebene Zahl
von Jahren dem Leben der Bevölkerung Zuwachsen: denn an Stelle der
unterdrückten Todesursache trete, sofern nicht die besonderen Verhältnisse
hiervon eine Abweichung bedingen, die Gesammtheit der sonstigen Lebens¬
und Sterbechancen; es werde also im Zweifel nur derjenige Theil der¬
selben den Lebensjahren der Bevölkerung hinzutreten, welcher der durch¬
schnittlichen Lebenserwartung zur Zeit des nicht eingetretenen Todes
entspricht. Auch dies lässt sich ziffernmässig nachweisen und graphisch
erklären; würde z. B. die Sterblichkeit der Knaben im ersten Lebensjahre an
Diarrhoe, Brechdurchfall etc. auf die Hälfte reducirt, so dass sich in diesem
Alter 5349 nicht erlebte Jahre weniger für diese Todesursache heraus¬
stellten, so würden die Lebensjahre der Bevölkerung doch nur um 1928
wachsen, indem 3421 nicht erlebte Jahre den verschiedenen von da ab ein¬
tretenden Todesursachen Zuwachsen würden; immerhin würde in dem
bezeichnten Falle die Lebensdauer des männlichen Geschlechts von 28*227
auf 30*155 Jahre steigen, es würde also durch die Verhütung der einzel¬
nen Todesursache eine bedeutende Verbesserung des Gesammtverhältnisses
erreicht worden sein.
Die drei Böckh’sehen Propositionen wurden, .nachdem Kummer
dieselben unterstützt hatte, und nachdem von Chervin’s Seite weitere
Aufklärungen über die Tragweite derselben gewünscht und von dem Refe¬
renten gegeben waren, sämmtlich angenommen. Es kamen dann die
übrigen Punkte der Kumm er’sehen Vorlagen zur Berathung, also die
Feststellung der zu unterscheidenden Altersclassen und die Bestimmung der
Todesursachen, deren internationale Unterscheidung wünschenswerth sei.
In ersterer Beziehung wurden verschiedene Ansichten ausgesprochen, je
nach den Zwecken, zu welchen die einzelnen Mitglieder von der Alters¬
classification Gebrauch machen wollten. Im Ganzen neigte man sich der
von Böckh vertretenen Ansicht zn, dass sich die Eintheilung dem Decimal-
system anschliessen müsse, und dass der Bildung der Gruppen die Classi¬
fication des englischen Registeramtes zu Grunde zu legen sei, welche das
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270 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
menschliche Leben in fünf Scores theilt (Entwickelungs-, kräftiges, intelli¬
gentes, reifes, monumentales Alter), dann weiter in Jahrzehnte, Jahrfünfte,
einzelne Jahre und den früheren Congressbeschlüssen entsprechend Quartale
und Monate; wie weit diese Unterabtheilungen anzuwenden seien, müsse
der Zweck der Untersuchung entscheiden. Dies wurde namentlich von dem
Director des hygienischen Bureaus zu Reims, Dr. L an gl et, unterstützt,
welcher jedoch verlangte, dass unter allen Umständen die nächstgrösseren
Gruppen resumirt werden müssten. Da über den zweiten Punkt, die Aus¬
wahl der Todesursachen, eine Vereinigung nicht ohne Weiteres durch die
Debatte herbeigeführt werden konnte, so wurde derselbe an eine Commission
verwiesen; dieselbe wurde zusammengesetzt aus den Herren Bertilion,
Böckh, Dr. Egeling, Medicinalinspector für Südholland, Kummer,
L an gl et und Dr. Teissier, Delegirten der medicinischen Gesellschaft zu
Lyon. Dieselbe sollte sich zugleich über die Altersclassification schlüssig
machen, ist jedoch hierzu in den drei von ihr abgehaltenen Sitzungen nicht
mehr gelangt.
In der Montags - Sitzung referirte J. Bertilion
Ueber die Sterblichkeit an Epidemieen in der Stadt
Paris in den Jahren 180B bis 1883.
Er wies nach, dass die Sterbefalle an Masern, Keuchhusten und Diphtherie in
dieser Zeit zugenommen hatten, und dass der Typhus seit dem Jahre 1880
die doppelte Sterblichkeit gegen früher gezeigt hat, während das Scharlach¬
fieber überhaupt nur in geringem Umfange als Todesursache vorgekommen,
die Pocken ganz unregelmässig aufgetreten seien; er zeigt dann die Regel¬
mässigkeit der Maxima und Minima nach der Jahreszeit. Interessant war
die Vergleichung der Pariser Arrondissements, unter welchen namentlich
die in der Peripherie belegenen in der Höhe der Sterblichkeit voranstehen;
die Folge der Arrondissements in der Sterblichkeit an epidemischen Krank¬
heiten entspricht nicht derjenigen nach der allgemeinen Sterblichkeitsziffer.
Wir führen gleich hier an, dass am folgenden Tage auch Herr Durand-
Claye, Delegirter der Stadt Paris, über die dortige Mortalität Mittheilungen
machte; er zeigte hierbei Diagramme, welche den Beweis gaben, in wie
hohem Maasse ihr Verfasser mit den Grundsätzen statistischer Graphik Ver¬
traut ist; es ist zu bedauern, dass er dieselben nicht vervielfältigt hat, so
dass sie nicht in die Hände der Mitglieder der Section gelangt sind.
Demnächst folgte Chervin’fl Vortrag
Ueber die Methode rationeller Gruppirung relativer
Mittelzahlen.
Sein Vorschlag geht dahin, dass die Differenz zwischen dem vorkommenden
Maximum und Minimum nach der Zahl der zu bildenden Gruppen in arith¬
metisch gleiche Abstände zerlegt wird, ein Vorschlag, der unter bestimmten
Voraussetzungen, namentlich bei annähernd gleicher Entfernung des Maxi¬
mums und Minimums von dem Gesammtdurchschnitte — aber keineswegs
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V. Scction (Berichterstatter Dr. R. Böckh).
generell — zu empfehlen ist. Dieses Verfahren wird indess auch von
Chervin selbst in dem Falle verworfen, wo zwei sich zunächst stehende
Proportionalzahlen weiter von einander entfernt sind, als der durchschnitt¬
liche Umfang der einzelnen Gruppe. Die hieran sich knüpfende Debatte, in
welcher seine Auffassungen von mehreren Seiten angefochten wurden, blieb
ohne bestimmtes Ergebniss.
Für den abwesenden Professor van Pesch hatte Herr Beaujon die
Berichterstattung
Ueber die Veröffentlichung der statistischen Angaben
und Berechnung von Sterblichkeitstafeln
Übernommen. Er legte Arbeiten desselben vor, welche in Fortführung der
früheren niederländischen Sterblichkeitstafeln die Data der zehnjährigen
Periode zwischen den beiden letzten Volkszählungen behandelten. Hier¬
hin gehörte eine Vergleichung des Zählungsergebnisses vom Jahresschlüsse
1879 mit der Bevölkerung nach Altersjahren, wie sie sich aus der Zählung
von 1869 bei Zurechnung der seitdem Geborenen und Abrechnung der
seitdem Gestorbenen berechnet. Die Differenzen, welche in den einzelnen
AltersclasBen hervortreten, gehen beim männlichen Geachlechte bis auf ein
Plus von 858, ein Minus von 1799, im Ganzen betragen sie beim männ¬
lichen Geachlechte an Plus 7844, an Minus 21 283. Mit Recht verlangt
daher van Pesch, dass durch fortlaufende Notirung des Geburtsjahres der
Ab- und Zuziehenden von und nach Niederland die Möglichkeit gegeben
werde, die Bevölkerung für den Anfang jedes Jahres nach Altersjahren zu
ermitteln; eine Feststellung, welche bis jetzt nur in Berlin stattfindet, wo
sie seit 1876 zur Construction der oben erwähnten Sterblichkeitstafeln ver¬
wendet wird. Hiermit zusammenhängend liegt ein weiterer Fortschritt in
van Pesch’8 Arbeit darin, dass er ira Gegensätze zu den früheren nieder¬
ländischen Sterblichkeitsberechnungen, welche die Fälle der ganzen zehn¬
jährigen Periode zusammenfussten, die Mortalitätscoefficienten für die ein¬
zelnen Altersjahre berechnet und aus diesen dann den Durchschnitt zieht; so
theilt er die Ergebnisse für das 32., 33., 34., 35. Altersjahr mit (oder, wie er
es bezeichnet, für das Alter 31 1 / % etc.). Hieran knüpft er die Angabe des
mittleren Fehlers (Erreur woyenne , ein nicht ganz zutreffender Ausdruck
für die reducirte Abweichung der einzelnen Jahre vom Durchschnitt). Wenn
wir auch auf diesen letzteren Punkt nicht viel Werth legen möchten, so wird
doch jedenfalls nach den beiden vorbezeichneten Richtungen durch die
van Pesch’Bche Arbeit eine willkommene Anregung gegeben, deren gün¬
stige Einwirkung auf die Verbesserung der Sterblichkeitsberechnungen für
ganze Staaten sicher nicht ausbleiben wird.
Der zweite Vortrag, welchen Herr Beaujon in der Donnerstags-Sitzung
hielt, betraf die
Beziehungen zwischen den Lebensmittelpreisen und
der Bewegung der Bevölkerung.
Sie werden an Diagrammen klar gemacht, in welchen die jährlichen Durch¬
schnittspreise des Roggens, sowie die Heirathsziffern, Geburtenziffern, Sterb-
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i
272 Fünfter internationaler Congress für Gesundheitspflege im Haag.
lichkeitsziffern (ein Fall auf ... Einwohner) und das Verhältniss zwischen
Geburten und Sterbefällen für die Jahre 1815 bis 1879 zusammen gestellt
sind. Professor Beaujon zeigt, wie die Lebensmittelpreise einen wesent¬
lichen Einfluss auf die Zahl der Eheschliessungen (nach dem Diagramm auch
auf die Geburtenziffer) ausüben. Auf die Sterblichkeitsziffer ist ein solcher Ein¬
fluss gleichfalls vorhanden, doch wird er so sehr durch den anderer Ursachen
verdeckt, dass er sich nicht bestimmt nach weisen lässt Referent betont
dass dieser Gegenstand noch nicht genügend durchgearbeitet sei; um rich¬
tige Schlüsse zu ziehen, müsse nicht nur eine brauchbare Statistik der Preise,
sondern auch eine solche der Arbeitslöhne vorhanden sein; der Lebensmittel¬
preis müsse durch den Arbeitslohn dividirt werden. Referent nahm auf die
betreffenden Arbeiten von B. Weiss (oder wie heisst er jetzt, seit er sich
eines deutschen Namens nicht mehr werth hält?), von Juraschek und
Evers Bezug, deren Verfahren er kritisch beleuchtete. Der Vortrag erfreute
besonders durch die streng wissenschaftliche Methode, welche Beaujon in
seinen Betrachtungen zur Anwendung bringt.
Dr. Emilio Coni,. Director der Statistik zu Buenos Ayres, gab dem¬
nächst Auskunft über die Leistungen seines Bureaus, welches in der kurzen
Zeit seines Bestehens namentlich in der Bearbeitung der Volkszählung und
der Bewegung der Bevölkerung den europäischen Mustern gleich zu kommen
gesucht hat; die umfangreichen Werke, welche von der Thätigkeit desselben
rühmliches Zeugniss geben, lagen den Mitgliedern vor.
Der zweite Vortrag J* Bertillon’fl
Ueber die unehelichen Kinder
fand in der Schlusssitzung am Mittwoch statt. Der Referent gab die Ziffern
derselben im Verbältniss zur Zahl der unverheiratheten Frauen für mehrere
Staaten; er zeigte, dass das Verbot der Feststellung der Vaterschaft ohne
Einfluss auf die Zahl der unehelichen Kinder ist, dagegen wird dieselbe
durch gesetzliche Ehehindernisse erheblich gesteigert, durch den Fortfall
derselben vermindert. Er geht dann auf die grosse Sterblichkeit der unehe¬
lich Geborenen im ersten Lebensjahre über und auf die grosse Zahl der
Todtgeborenen unter denselben, welche letztere seit der Aufhebung der
Findelhäuser in Frankreich noch zugenommen hat. — In der darauf folgen¬
den Debatte bestätigt Böckh die Behauptung Bertillon’s hinsichtlich
der Einflusslosigkeit der Bestimmungen des Code civil durch Hiuweis auf
die Verhältnisse der westlichen preussischen Provinzen und führt an, dass
der Rückgang der unehelichen Geburten in Bayern sich ungefähr auf das
Doppelte der Zahl derjenigen Kinder gestellt habe, welche sonst durch
nachträgliche Eheschliessung legitimirt worden waren.
Schliesslich kamen die Verhandlungen der Subcommission zur
Sprache, welcher die Bezeichnung deijenigen Todesursachen übertragen war,
deren internationale Vergleichung von Wichtigkeit sei; der betreffende
Bericht wurde von Herrn L an gl et erstattet. Die Mitglieder der Cora-
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273
V. Section (Berichterstatter Dr. R. Böckh).
mission stimmten darin überein, dass das seiner Zeit in Pest aufgestellte
Verzeichnis^ einzelner Todesursachen nicht aasreiche, dass es vielmehr noth-
wendig sei, dieselben an eine vollständige Classification anzuschliessen, in
der Weise, dass grosse Gruppen nach den leidenden Organen etc. gebildet
und innerhalb derselben die wichtigsten Todesursachen besonders hervor¬
gehoben würden. Der specielleren Berathang wurde die schweizerische
Classification za Grande gelegt, weil diese über 200 Ursachen, die Berliner
dagegen nur 160 unterscheidet. Bei der Auswahl selbst kam es darauf an,
dass sich die neuen Listen mit den Distinctionen der Schweizer, Berliner
und anderer Nomenclaturen vereinigen Hessen. Es traten indess in Folge
der abweichenden Abgrenzung der gebrauchten Bezeichnungen so weit¬
gehende Verschiedenheiten der Auffassung zu Tage, dass die Zeit zur defini¬
tiven Redaction des Verzeichnisses nicht mehr ausreichte; es musste daher
Herrn Bertillon überlassen werden, die Redaction nach Maassgabe der
gepflogenen Verhandlungen zu bewirken und das Verzeichniss alsdann den
Mitgliedern zuzustellen.
Da es in der letzten Sitzung bereits bekannt war, dass als nächster
Versammlungsort Wien in Vorschlag gebracht werden würde, so beschloss
die demographische Section, dass der nächste demographische Congress dort
stattfinden und unter der Voraussetzung der entsprechenden Beschlussfassung
des Plenums die Vereinigung mit dem hygienischen Congresse aufrecht
erhalten werden solle. Die für den diesmaligen Congress niedergesetzte
Commission wurde unter dem Vorsitze des Herrn Beaujon bestätigt, und
der Director der administrativen Statistik Oesterreichs, Hofrath Dr. v. Inama
Sternegg, in dieselbe cooptirt. Herr v. Inama Stern egg hat der von
Herrn Beaujon an ihn gerichteten Aufforderung zum Eintritt in die vor¬
bereitende Commission für den nächsten Congress in entgegenkommendster
Weise entsprochen.
Im Ganzen sind trotz der geringen Zahl der Theilnehmer der demo-
graphischen Section die Verhandlungen derselben als ein weiterer Fort¬
schritt in dem Streben nach einem erfolgreichen internationalen Zusammen¬
wirken der Bevölkerungsstatistiker an zu sehen. Die Haager Vereinigung
hat an die beste Tradition der statistischen Congresse angeküpft, die echte
Wissenschaftlichkeit, welche M. M. v. Baum hau er im Jahre 1869 dem
statistischen Congresse im Haag zu verleihen wusste, und welche diesen vor
allen anderen statistischen Congressen ausgezeichnet hat, ist trotz der Auf¬
lösung des statistischen Bureaus im Niederland nicht erloschen; sein Nach¬
folger Beaujon, der die Verhandlungen der Demographen leitete, hat in
dem gleichen Geiste weiter gearbeitet und bat es verstanden, denselben zur
Geltung zu bringen. So darf denn auf Grund dieser Zusammenkunft wohl
behauptet werden, dass in der demographischen Section des Gesundheits¬
pflege -Congresses der gute Geist der vormaligen statistischen Congresse
lebendig fort wirkt.
Vierteljahrsachrift fttr OosundhHtspflcRe, 1885.
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274
F. Schüler,
Ueber Bleivergiftung von Jacquardwebern.
Yon F. Schiller, schweizerischer Fabrikinspector in Mollis.
Schon längst sind Fälle von Bleiintoxication, bald nur vereinzelte, bald
in grösserer Zahl mit einander auftretende, bekannt gemacht worden, welche
dem Weben an Jacquardstühlen ihren Ursprung verdankten. Dies geschah
namentlich in Frankreich, wo schon Anfangs der dreissiger Jahre die Zahl
der Jacquardstühle eine sehr grosse war. 1842 berichtete Dalmanesche
in den Annales d? Hygiene publique (XVII, pag. 205: Observalions sur les
causes de Ja colique de plomb chez les tisserands ä la Jacquard; moyens d'y
remedier\ dass in Lyon Bleivergiftungen der Jacquardweber zwar selten zu
sein scheinen und nicht beachtet werden, vermuthlich weil die meisten
Arbeiter einzeln oder nur zu drei oder vier arbeiten, dass aber nach seinen
Erkundigungen bei Arbeitern auf ein grosses Atelier, z. B. mit 40 Personen,
beständig sechs bis acht Bleikranke zu rechnen seien. 1850, den 6. Juli,
erhielt nach Tardieu ( Didion . d'hyg. pubh et de salübritS , 2. ed. y 1862 ,
t. III , p. 354 , art. plomb) der Gesundheitsrath von Rouen einen Rapport
sur les accidents obscurs chez 1c ouvriers travaUlant aux metiers ä la Jacquard .
Es wurde darin mitgetheilt, dass ein Arzt im Hotel Dieu eine Anzahl blei¬
kranker Jacquardweber behandelt habe und auf die Verbannung der Blei¬
gewichte an den Jacquardstühlen dringe. Diese Beobachtung sei übrigens
schon vor mehr als 20 Jahren auch gemacht worden und zwar habe ein
Arzt unter 150 Arbeitern 20 Kranke gefunden; heutzutage kommen der¬
artige Fälle nur selten vor, seien aber noch nicht verschwunden. In Lyon
wurde constatirt, dass dort die Bleikolik „selten“ sei und wenig beachtet
werde, theils weil die Arbeiter dort sorgfältiger seien, theils weil sie in
weniger ausgedehnten und weniger ventilirten Localen arbeiten.
Auffallender Weise berichtete dagegen im folgenden Jahre eine Special¬
commission dem Conseil d'hygime von Lyon, dass sechsmonatliche Nach¬
forschungen ergeben haben, dass die dortigen jAcquardweber durchaus
keinen Bleikrankheiten unterworfen seien; dass auch nicht die Feuchtigkeit
der Werkstätten an den eigenthümlichen Erkrankungsformen der Jacquard¬
arbeiter in Rouen Schuld sein könne, wie vermnthet worden, denn dieselbe
finde sich auch iii Lyon, Tarare, Villefranche etc.; dass es im Gegentheil
am rationellsten wäre, die Ursachen in Speise und Trank der Arbeiter von
Rouen zu suchen.
Zwanzig Jahre später schildert Pouillet im Journal de pharmacie et
de chimie 170 , p. 153 eine Colique de plomb chez un ouvrier travaUlant au
mttier Jacquard , für welche der Verfasser den von den Bleigewichten eines
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Ueber Bleivergiftung von Jacquardwebern. 275
Jacquardstuhles sich ablösenden Bleistaub als Ursache nachweisen konnte.
Wo dieser Fall vorgekommen, wird nicht gesagt.
Auch in der neuesten französischen Literatur über Gewerbepathologie
findet sich diese Art von Bleiintoxicationen bald angeführt, bald nicht.
Während Napias in seinem Manuel (Fhygiene industrielle 1882 in einer
Uebersicht der Vergiftungen ausgesetzten Berufsarten die Jacquardweber
aufzählt, erwähnt sie A. Gautier in seinem unlängst erschienenen Buche
Le cuivre et le plomb mit keiner Silbe.
In Deutschland machte Pappenheim in seiner Sanitätspolizei auf
Vergiftungsfalle aufmerksam, welche durch das Abstäuben des Oxyds von
den oxydirten Bleistäbchen herbeigeführt seien; Hirt in seinen „Krank¬
heiten der Arbeiter“ begnügt sich mit blossen Literaturangaben, wogegen
Enlenberg in seiner Gewerbehygiene den Gegenstand einlässlicher be¬
spricht.
Die Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin berichtet Mitte der
fünfziger Jahre über die Untersuchungen einer von den Behörden auf¬
gestellten Commission in Berlin, welche nach den Ursachen der mehrfachen
Fälle von Bleikolik zu forschen hatte, welche sich bei Jacquardwebern
gezeigt hatten. Sie gelangte zur Gewissheit, dass der beim Weben erzeugte
Bleistaub die Krankheitsursache darstellt, war aber ganz erstaunt, in Cre-
feld, Elberfeld, Brandenburg, Gladbach das Vorkommen ähnlicher Erkran¬
kungen in Abrede gestellt zu sehen, obschon Jacquardstühle dort längst im
Gebrauche standen. Ob auch andere einschlägige Beobachtungen in der
deutschen Literatur sich finden, war ich nicht in der Lage zu ermitteln.
Auch aus der Schweiz ist mir keine einschlägige Publication bekannt
geworden, obwohl hier die Zahl der im Gebrauche befindlichen Jacquard-
stühle eine recht bedeutende ist. Selbst die oft wiederholten Anfragen der
Fabrikinspectoren, ob Bleikrankheiten bei Jacquardwebern schon vorgekom¬
men, wurden von Fabrikanten und Arbeitern stets verneinend beantwortet.
Um so unerwarteter kam eine Anzeige von Aerzten in Stäfa am Zürichsee
an die Sanitätsbehörden, dass daselbst in letzter Zeit, d. h. vom November
1883 bis Januar 1884 mehrere Fälle intensiver Bleivergiftung bei Jacquard¬
webern vorgekommen seien und eine amtliche Untersuchung bezüglich der
Ursachen und allfällig zu ergreifenden Vorsichtsmaassregeln gewünscht
werde. Es wurde entsprochen und der Bezirksarzt in Verbindung mit der
localen Gesundheitsbehörde stellte fest, einerseits dass man es wirklich mit
Bleivergiftungen zu thun habe, andererseits dass diese ausschliesslich bei
Arbeitern in Jacquard Webereien vorgekommen seien und zwar zumeist in
solchen Etablissements, wo viele Arbeiter in einem engen, niedrigen Raume
zusammengedrängt seien, der zugleich schlecht gelüftet und wenig reinlich
gehalten sei. Ebenso kam der die Jacquard Webereien eingehend besich¬
tigende Fabrikinspector zu dem Resultat, dass der Bleistaub, der von den
überall im Gebrauche befindlichen Bleigewichtchen sich ablöst, die Erkran¬
kungen hervorgerufen haben müsse.
Bei den Jacquardstühlen sind nämlich die Fäden der Ketten, welche
zur Bildung der Muster beitragen, in besondere Litzen eingezogen, die man
18*
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276 F. Schüler,
in ihrer Gesammtheit Harnisch nennt. Diese Harnischlitzen sind einzeln
freihängend angebracht und an ihrem unteren Ende mit Gewichten be*
schwert. Die Zahl derselben ist sehr ungleich gross und schwankt etwa
zwischen 3000 und noch weniger bis 12000; durchschnittlich kann sie zu
5000 angeschlagen werden. Auf einen sehr geringen Flächenraum beschränkt,
müssen dieselben von thunlichst langgestreckter Cylinderform und von mög¬
lichst grossem specifischen Gewichte sein. Letzteres ist ein Hauptgrund,
warum man mit Vorliebe das auch sonst leicht zu verarbeitende Blei zur
Erstellung dieser Gewichtchen wählt. Länge und Gewicht derselben schwan¬
ken bedeutend; 20cm für erstere und 10g für letzteres dürften wohl als
Durchschnittszahlen gelten. Beim Weben werden nun die einen dieser
Kettenfäden und mithin auch der Gewichte gehoben, während andere liegen
bleiben. Es findet ein stetes Auf- und Niedersteigen und somit eine Reibung
der dicht neben einander aufgehängten Gewichte statt. Allerdings ist die¬
selbe anfänglich nicht bedeutend, namentlich wenn die Bleidrähte recht
glatt und allfällig noch mit einem Firniss überzogen sind. Aber allmälig
löst sich letzterer ab, um so leichter, wenn einige Bleistäbchen verbogen
werden und sich in Folge dessen mehr reiben, oder wenn der Weber bei seiner
Arbeit unruhige, stossweise Bewegungen macht, so dass die Stäbchen ins
Schlenkern gerathen, oder endlich, wenn der Stuhl auf einem unebenen oder
vibrirenden Boden, z. B. auf einem wenig soliden Bretterboden, steht und
so unregelmässige Bewegungen der Gewichte begünstigt. Ist einmal ein
Theil der Stäbchen rauh, so schreitet der Abnutzungsprocess der Oberfläche
immer rascher vor, oft so, dass die Stäbchen in wenigen Jahren einen sehr
erheblichen Bruchtheil ihres Gewichtes verlieren. Das Abgeriebene ist bald
Bleioxyd, von dem sich eine dünne Schicht auf den Gewichten nicht selten
bildet, bald sind es ganz deutlich wahrnehmbare Partikeln von metalli¬
schem Blei.
In manchen Etablissements bildet sich auf diese Weise Bleistaub in
solchen Mengen, dass er einen breiten, grauen, quer unter dem ganzen
Webstuhle, dem Harnisch entsprechend, verlaufenden Streifen bildet. Auf
der Hand verrieben färbt er stark ab. Diese Streifen lassen sich nament¬
lich leicht wahrnehmen in trockenen Localen mit Bretterboden, während in
den bei uns seltenen mit Böden aus gestampfter Erde, die meist sehr feucht
sind, der Staub anklebt und weniger leicht zu bemerken ist Herr Prof.
G. Lunge am Polytechnicum in Zürich hatte die Güte, eine chemische
Untersuchung einer von mir selbst unter einem Webstuhle gesammelten
Staubprobe vorzunehmen. Dieselbe enthielt 56*86 Proc. metallisches Blei!!
Schon früher hatte die Untersuchung eines im ganzen Websaale zusammen¬
gewischten Staubes einen Bleigehalt von 37 Proc. nachgewiesen. Trotz
diesen Ergebnissen wurde von den Fabrikbesitzern bestritten, dass Blei¬
staub in irgend welcher Weise in die Luftwege oder in den Magen der
Arbeiter gelangen könne. Dass Beschmutzung der Hände mit Bleistaub zu
einer Einverleibung zugleich mit eingeführten Nahrungsmitteln führen
könnte, war nicht anzunehmen, da die Seidenweber durch ihren Beruf schon
zur Reinhaltung der Hände genöthigt und daran gewöhnt sind. Eine Ab¬
lagerung von Staub auf die Esswaaren oder gar ein Einathraen von Blei¬
staub erklärte man als ausgeschlossen schon vermöge des grossen specifischen
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lieber Bleivergiftung von Jacquardwebern. 277
Gewichts des Bleies. Ich bat desshalh einen Fabrikinhaber, von den Heiz¬
rohren seines recht sauber gehaltenen Weblocals, die circa 4 m über dem
Fussboden ob den hohen Jacquardstühlen angebracht waren, den dort an¬
gehäuften Staub herunterzuholen. Vom gleichen Gewährsmanne untersucht,
enthielt er 9*84 Proc. Blei.
Lag auch nach diesem Allem die Möglichkeit der Bleivergiftung durch
die Gewichte der Jacquardstühle klar zu Tage, wurde doch die Richtigkeit
der gestellten Diagnose in den als Bleierkrankungen erklärten Fällen an-
gezweifelt.
Dem gegenüber wurde der denkbar directeste Beweis zu leisten ver¬
sucht, indem man Blei in den Secreten, speciell im Urin, nachzuweisen
trachtete. Nach den Angaben verschiedener Autoren hätte man auf Erfolg
rechnen sollen, zumal bei einem von heftiger Bleikolik Befallenen, dem Jod¬
kali gereicht worden war. Trotz des eingeschlagenen möglichst sorgfältigen
Verfahrens gelang es nicht, mehr als eine minime Spur von Blei in den
untersuchten 120 g Harn nachzuweisen, so dass hierauf gestützt keine
bestimmten Behauptungen aufgestellt werden konnten. Aehnliche Erfahrun¬
gen machte auch A. Gautier nach seinem oben erwähnten Buche. Auch
er vermochte nie erhebliche Mengen von Blei, trotz vorhergehender Jod¬
kaliverabreichung, im Harn Bleikranker nachzuweisen. Dies ist ganz im
Einklänge mit den Bestimmungen des Bleigehaltes der Organe eines an
einem saturinen Hirnleiden Verstorbenen, wonach der Gehalt der Niere ein
ganz minimer, reichlich aber derjenige des Darmes war. Wie ich nach¬
träglich erfahr, hat auch Herr Prof. Hermann seiner Zeit bei Fällen in
der Berliner Charite vergeblich Blei im Harne gesucht, und nimmt an, es
werde mit den Fäces ausgeschieden. Leider wurde auch in einem tödtlich
abgelaufenen Stäfner Falle keine chemische Untersuchung vorgenommen,
welche den directen Beweis hätte schaffen können.
Die Zahl der ausgesprochensten Bleierkrankungen — und zwar aus¬
schliesslich bei Jacquardwebern — mehrte sich übrigens derart, dass auch
die letzten Zweifel schwanden. Nicht nur die behandelnden Hausärzte
waren ihrer Diagnose durchaus sicher, sondern auch die Vorstände der
medicinischen und der psychiatrischen Klinik der Universität Zürich, die
Herren Professoren Eichhorst und Forel, erklärten jeden Zweifel am
Vorhandensein einer Bleiintoxication als ausgeschlossen.
Dafür sprach schon der charakteristische Bleisaum des Zahnfleisches,
der sich nicht nur bei den eigentlichen Bleikranken, sondern auch bei vielen
anderen Jacquardwebern vorfand, die aus anderen Gründen zur ärztlichen
Untersuchung gelangten. Dieser zeigte sich nicht nur in Stäfa, sondern
auch in benachbarten, mit der Jacquardweberei sich beschäftigenden Ort¬
schaften nach der Aussage zuverlässiger Aerzte nicht selten. Er wurde
sogar bei Fabrikbesitzern gefunden, die sich doch nur einen verhältniss-
mässig kleinen Theil des Tages in den Weblocalen aufhalten.
Ein Fall, der als typisch für die anderen beobachteten nach Aussage
des Herrn Dr. Dolder in Stäfa gelten könnte, wurde mir von demselben
folgendemaassen geschildert: E. G., 22 Jahre alt, Jacquardweber seit einem
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278
F. Schüler,
Jahre, immer etwas schwächlich, sonst aber früher gesund, hatte in den
letzten Monaten blässere Gesichtsfarbe, blasse Hautfarbe im Allgemeinen,
magerte sichtlich ab, hatte schlechten Appetit. Am Zahnfleische zeigte sich
ein deutlicher Bleisaum. Abdomen nirgends aufgetrieben, in der Magen-
Nabelgegend und besonders auf der linken Seite des Bauches eiu reissender,
zerrender Schmerz, der beständig vorhanden ist, sich aber oft derart stei¬
gert, dass Patient jammert und stöhnt. Der Schmerz wird durch Druck
nicht vermehrt. In der Magengegend ist ein Gefühl von Vollsein vorhanden,
als ob nichts mehr Platz hätte; Erbrechen und Würgen, bis Galle erscheint.
Spontane Schmerzhaftigkeit in der Lendenrausculatur, Mattigkeit in den
Armen und Beinen. Der Kopf ist frei; Zunge schwach belegt, starker
Durst, Stuhlverstopfung, Harndrang circa alle zwei Stunden. Der Puls ist
verlangsamt, 60 bis 62 per Minute, Temperatur ganz normal.
In ähnlicherWeise verlief eine ziemliche Zahl von Fällen. Bemerkens¬
werth ist, dass bei mehreren Kranken nach einiger Zeit — sogar erst nach
vier Wochen — reichliche Schweisse auftraten, die ohne alle prognostische
Bedeutung waren. In einem dieser Fälle erfolgte einige Zeit später der
Tod, nachdem zuvor halbseitige Lähmung eingetreten.
Auch andere schwere Erscheinungen traten ein. So litt ein Kranker
in Verbindung mit anderen saturinen Leiden an eclamptischen Anfällen
und wurde in die Irrenheilanstalt im Burghölzli gebracht, wo er zuerst
mit ganz umnebeltem Bewusstsein eintrat, was Bich bald verlor. Dagegen
blieb nach dem Berichte von Herrn Prof. Forel an den behandelnden Arzt
noch lange eine auffällige Gedächtnissschwäche, ein stumpfes apathisches
Wesen. Der Kranke zeigte einen leichten Tremor der Zunge und der
Hände, träge reagirende Pupillen, dabei unzweideutige Spuren chronischer
Bleivergiftung, grosse Blässe, Schwäche und Abmagerung, lividen schiefer-
farbenen Bleisaum am Zahnfleischrande, Verdauungsstörungen, Cardialgie,
Dysurie, langsamen harten gespannten Puls; keine Extensorenlähmung,
keine sonstigen Mobilitätsstörungen oder Sensibilitätsanomalien. Die im
Anfänge gestörte, anstossende Sprache war bedeutend besser geworden.
Beim Mangel jedes anderen ätiologischen Moments (Erblichkeit, Alkohol etc.)
musste Prof. Forel annehmen, dass die chronische Bleivergiftung Ursache
der früher erlittenen häufigen epileptischen Insulte, sowie der gegenwär¬
tigen der Paralyse am nächsten stehenden Psychose sei. Der Kranke wurde
schliesslich geheilt.
Die Gesammtzahl der aus Stäfa und dem benachbarten Mänedorf zu
meiner Kenntuiss gelangten Fälle von erheblichen Bleivergiftungen belief
sich vom November 1883 bis Ende Mai 1884 auf 16, worunter einer tödt-
lich endete.
Unter den übrigen 15 befand sich der oben erwähnte mit progressiver
Bleiparalyse, 5 schwere Kolikfälle und der Rest setzte sich theils aus
leichten Kolikfällen, theils aus solchen von Bleianämie und Cachexie zu¬
sammen. Diese 16 Fälle vertheilen sich auf die Bedienung von circa
180 Jacquardstühlen, d. h. auf wenig mehr als 200 Personen.
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Ueber Bleivergiftung von Jacquardwebern.
Nebenher liefen, nach den Mittheilungen von zwei Aerzten, leichtere
Unpässlichkeiten von Jacquard Webern, z. B. leichte Gelenkschmerzen mit
Heissen und Ziehen im Bauche und Verstopfung, welche mindestens muth-
maasslich im Zusammenhänge mit der Bleieinwirkung standen.
Es musste dem fremden Beobachter zuerst auffallend erscheinen, dass
in einem so kurzen Zeiträume so viele Bleierkrankungen durch die Jacquard¬
weberei sollten veranlasst worden sein, während früber nichts von der¬
artigen Erscheinungen bekannt geworden. Genauere Nachfrage ergab aber,
dass die Erscheinung keine neue, noch nie dagewesene sei. Ich erfuhr in
den Fabriken selbst von einem Kranken, der schon wiederholt an Bleikolik
gelitten, und man gab mir in einzelnen sehr geringen und unrein gehalte¬
nen Localen zu, dass schon vor Jahren vereinzelte Fälle von Bleierkrau-
kungen vorgekommen. Namentlich Schwächliche sollen hier und da
erkrankt sein.
Ein Arzt erklärte ausdrücklich, schon im Jahre 1881 mehrere Fälle
von Bleikolik bei Jacquard Webern in Behandlung gehabt zu haben, ein
anderer erwähnt zwei Fälle aus den Monaten August und December 1882,
über deren Aetiologie er, mit dem Technischen der Jacquardweberei nicht
vertraut, erst jetzt ins Klare gekommen sei. Ebenso dürfte es Anderen
gegangen sein; ja es wurde von ihnen selbst diese Vermuthung aus¬
gesprochen.
Auch aus den Aussagen von Laien ergiebt sich Aehnliches. Eine
erfahrene Jacquardweberin aus ganz anderer Gegend erzählte mir auf meine
Frage, ob sie nie gehört, dass die Arbeiter ihres Industriezweiges an
besonderen Krankheiten leiden: Fast alle Arbeiterinnen leiden nach einigen
Monaten an Müdigkeit, Ziehen in den Gliedern, Magendrücken und Appetit¬
losigkeit, was sie zum Aussetzen der Arbeit zwinge. Man schreibe dies der
Ermüdung durch die anstrengende Arbeit zu; sie aber habe gehört, das
komme von den Bleigewichten her. Es scheint auch diese Aeusserung für
die Annahme zu sprechen, dass Bleiintoxication früher ebenfalls, aber rela¬
tiv seltener und weniger heftig vorgekommen und theils verkannt, theils
wenig beachtet und vergessen worden sei.
Man richtete seih Augenmerk um so weniger darauf, als die Zahl der
Jacquardstühle — wenigstens in den Gegenden, welche die angeführten
Krankheitsfälle lieferten — früher eine geringere war und die Stühle mehr
vereinzelt, nicht so fabrikmässig zusammengedrängt standen. Von den
Arbeitern selbst hört man als weitere Ursache anführen, dass früher der
Erwerb ein weit reichlicherer gewesen sei und dass die Weber heutzutage
an den keinem Gesetze unterstellten, nur in kleiner Zahl beisammen befind¬
lichen Stühlen sehr lange ihrer anstrengenden Beschäftigung obzuliegen
genöthigt gewesen seien, während das früher übliche Blaumachen an ein
bis zwei Wochentagen oder das Vertauschen der industriellen mit der land¬
wirtschaftlichen Arbeit für kürzere Zeit, das früher oft vorgekommen, auf¬
gehört habe, dass sie also heutzutage länger und anhaltender den krank¬
machenden Einflüssen ausgesetzt seien.
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F. Schüler,
Weit befremdlicher ist die Thatsache, dass nur einzelne Ortschaften
oder Gegenden bleikranke Jacquardweber aufzuweisen haben; auffallend
auch ist die Verschiedenheit der Erkrankungen in den Etablissements des¬
selben Ortes, sowie in den verschiedenen Jahreszeiten. Die überwiegende
Mehrzahl der Fälle entfallt, im Gegensätze zu den sonstigen Beobachtungen
bezüglich des Auftretens der Bleivergiftungen, auf den Winter, die Zeit, wo
die Arbeitslocale stets geschlossen gehalten werden, die Arbeiter in den
Arbeitspausen nicht ins Freie sich begeben. Sie finden sich ferner mit
Vorliebe in niedrigen, mit Webstühlen vollgepfropften und vor Allem auch
in unreinlich gehaltenen Localen. Es scheint auch ein bedeutender Unter¬
schied zwischen schlecht gebauten, bei jedem Schlage des Webstuhles in
allen Fugen erzitternden, mit schlecht gefügten Fussböden und Holzget&feln
versehenen und den geräumigen, solid gebauten Localitäten zu bestehen.
Einen interessanten Beweis für die Bedeutung dieser Beschaffenheit bietet
der Krankheitsfall einer Arbeiterin, die in einem der luftigeren und rein
gehaltenen Etablissements an leichter Bleikolik erkrankte, und zwar nicht
etwa im Websaale, soudern in einem Raume unter demselben, wo sie mit
dem Rangiren der Carden beschäftigt war. Sie hatte durchaus mit keinen
bleiernen oder bleihaltigen Gegenständen zu tbun und es konnte uur Blei
in Staubform durch die Fugen des stets in Erschütterung befindlichen
undichten Fussbodens an ihren Aufenthaltsort gelangen, um dort vermuth-
lich von ihr eiugeathmet zu werden.
Grosse Unterschiede scheinen auch zu bestehen je nach der Art der
Fabrikate.
So z. B. werden Webstühle, welche sehr breit oder sonst mit sehr
viel Gewicht belastet sind, in der Regel in weniger rasche Bewegung
gesetzt, so dass auch die gegenseitige Reibung weit geringer ausfallt. Aus
Gegenden, wo solche Stühle vorherrschend verwendet werden, kommen in
Folge dessen auch selten oder nie Berichte über Bleivergiftungen in die
Oeffentlichkeit.
Unendlich mehr als die Construction der Locale fallt deren Reinhaltung
ins Gewicht. Dieselbe ist ungemein verschieden. Während es an manchen
Orten keine Mühe kostet, ganze Hände voll Staub zusammenzuwischen, hält
es an anderen schwer, auch nur zu einer kleinen Probe zu gelangen; aber
dort wird vielleicht wöchentlich einmal nachlässig gekehrt, während dies
hier mit aller Sorgfalt geschieht und zudem zweimal wöchentlich das
Gerüste des Webstuhles, Fenstergesimse, Fensterrahmen und alle anderen
Partieen, auf denen sich Staub ablagern könnte, sowie der Fussböden feucht
abgerieben werden. Doch darf man sich nicht vorstellen, dass an solchen
Stellen gar kein Bleistaub in der Luft suspendirt sich vorfinde. Der von
sehr hoch oben angebrachten Heizrohren entnommene Staub im reinlichsten
Weberlocale, das ich je gesehen, enthielt doch noch 0‘02 Proc. Blei, freilich
einen sehr winzigen Gehalt. Solche Differenzen in der Reinlichkeit genügen,
um grosse Ungleichheiten im Vorkommen der Bleierkrankungen in Ort¬
schaften und Gegenden mit ganz gleicher Beschaffenheit und Betriebsweise
ihrer Jacquardstühle zu erklären.
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Ueber Bleivergiftung von Jacquardwebern.
Ich habe mich bemüht, sowohl aus anderen Gegenden der Schweiz als
auch von auswärts Aufschlüsse über das Vorhandensein ähnlicher Beobach¬
tungen zu erlangen, aber, wie schon Eingangs gesagt wurde, mit geringem
Erfolge.
So sind im Canton Basel, Stadt und Land, mit seiner ausgedehn¬
ten Jacquard Weberei, nach Ausweis der Baseler Spitallisten, wie nach den
Angaben von Privatärzten, bei Seidenbandwebern nie Bleivergiftungen
beobachtet worden, aber, fügt ein Berichterstatter hinzu, die Gewichte sind
dort von Eisen.
Der Aufseher einer sehr gut gehaltenen Jacquard Weberei im Aargau
berichtet ebenfalls, er habe in derselben keine Fälle von Bleierkrankungen
beobachtet, obwohl ihm derartige anderswo vorgekommene Fälle nicht
unbekannt seien.
Aus Deutschland, dessen Literatur schon so Weniges über diese
Art von Intoxication aufweist, erhielt ich auf schriftliche Anfragen nur
negative An Worten. So berichtete der Gewerbeinspector von Chemnitz,
dass die Bleigewichte schon längst durch eiserne ersetzt seien, so dass
keine allfällig vorgekommenen Bleierkrankungen mehr ermittelt werden
konnten. Uebrigens spricht er die Vermuthung aus, dass die Verwendung
von Eisengewichten wohl mehr auf den geringeren Kostenaufwand, den die¬
selben verursachen, als auf sanitäre Bedenken zurückzuführen sei.
Von Lyon, wo die von Hand betriebenen Jacquardstühle noch fast
durchweg mit Bleigewichten versehen sind, vermochte ich keine Beobach¬
tungen von ärztlicher Seite aufzutreiben. Hingegen erzählten mir schweize¬
rische Arbeiter, die dort in Arbeit gestanden: in der Stadt existiren wenige
grosse Etablissements; meist halten kleine Unternehmer fünf bis sechs
Gesellen, um die sie sich weiter nicht kümmern und die im Wirthshause
leben. Die Arbeitsräume, in denen hier und da auch geschlafen werde, seien
eng, dunkel und schmutzig; gearbeitet werde darin 13 bis 14 Stunden; die
älteren Weber haben ein trauriges Aussehen, bestimmte Bleikrankheiten
kenne man nicht, „aber man sei stets halb krank u .
Trotz all diesen theils unbestimmten, theils negativen Angaben dürfte
es aber, besonders Angesichts ganz bestimmter, in der medicinischen Litera¬
tur verzeichneten Beobachtungen, gewagt sein, auf ein ausserordentlich
seltenes Vorkommen derartiger Bleikrankheiten bei den Jacquardwebern
schliessen zu wollen. Lehrt doch die Geschichte der Medicin, wie gewisse
gewerbliche Krankheiten Jahrhunderte lang zwar bekannt, nicht aber in
ihren Ursachen erkannt waren! Zudem war die Gewerbepathologie bis vor
wenigen Jahren ein den meisten Aerzten fern liegendes Gebiet, vor dem
um so grössere Scheu herrschte, je geringerer Kenntnisse in der Technologie
die Aerzte sich bewusst waren. Aber auch da, wo ein Fabrikarzt z. B.
genauer mit den Lebensbedingungen der Arbeiter und den Formen ihrer
Erkrankungen vertraut ist, sind es oft allerlei Rücksichten und Schwierig¬
keiten, die ihn abhalten, die von ihm gemachten Erfahrungen über Gefahren
und sanitärische Uebelstände, welche den betreffenden Betrieben anhaften,
zu publiciren und so auch weitere Kreise zur Beobachtung anzuregen.
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282 F. Schüler,
Noch, bedauerlicher wäre es, wollte man aus der geringen Zahl, nicht
der vorgekommenen, sondern der bekannt gewordeuen Fälle, den. Schluss
ziehen, dass einige wohl gemeinte Ermahnungen zu Vorsicht und Reinlich¬
keit genügen, um die Pflicht gegenüber den gefährdeten Arbeitern zu
erfüllen. Man darf sich um so weniger damit begnügen, als die Jacquard¬
weberei bei dem immer allgemeineren Streben, jeden Gegenstand unseres
Gebrauches möglichst zu verzieren und zu verschönern, voraussichtlich
weitere Ausdehnung auch auf Gebieten gewinnen wird, die früher den
Jacquardstuhl nicht verwendeten. Diese Wahrnehmung drängt sich gerade
speciell in der Schweiz auf, wo die Baum Wollindustrie wieder Jacquard-
stühle in grosser Zahl zu Ehreu zieht, die Jahrzehnte hindurch im Staube
der Rumpelkammer gelegen und die noch gutentheils mit den alten Blei¬
gewichten versehen sind.
Welcher Weg zur Beseitigung der Gefahren von Seiten der Bleigewichte
eingeschlagen werden sollte, ist unschwer zu entscheiden. Das Vorgehen
ausgedehnter Gebiete mit Jacquard Weberei, die Mahnungen vieler Fabri¬
kanten weisen darauf hin. Er besteht ganz einfach in der Beseitigung
aller Bleigewichte und deren Ersatz durch solche aus unschäd¬
lichem Material.
Es kann allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass schon scrupu-
löse Reinlichkeit hinreicht, mit fast absoluter Sicherheit eine Bleiintoxication
zu verhindern. Ich setze voraus, dass dies in der oben erwähnten überaus
reinlichen Fabrik der Fall ist. Aber eine solche Reinlichkeit setzt auch
Localitäten voraus, die gut beschaffen sind, deren Fussboden leicht zu reinigen
ist, in welchen der Staub nicht in Hunderten von Schlupfwinkeln sich ein¬
nisten kann, um daraus immer aufs Neue emporzuwirbeln. Aber eine hin¬
reichende Reinlichkeit zu handhaben, gelingt nur, wo der Fabrikbesitzer
mit eiserner Strenge darauf hält, der Aufseher seine Ehre darin setzt und
das Arbeiterpersonal von Hause aus zu strenger Reinlichkeit geneigt ist;
sehr häufig wird jeder Versuch, sie zu erzwingen, fehlschlagen.
Wenn auch reichliche Ventilation als Vorbeugungsmittel angerathen
wird, so wird dadurch in der Regel das Gegentheil erzielt. Allerdings
bringt der immerwährende starke Luftstrom eine Menge Bleipartikeln ausser
den Bereich des Arbeiters, indem er sie wegführt, aber eben so sehr wird
er solche, die sich sonst absetzen würden, in der Luft schwebend erhalten.
Mit allem Rechte haben daher die oben citirten französischen Autoren von
starker Ventilation abgerathen.
Die angedeuteten Schwierigkeiten einsehend, beseitigen viele Fabri¬
kanten der Seiden- und Baumwollbranche die bisher benutzten Bleigewichte.
Andere versuchen schützende Maassregeln an den Bleigewichten und um
dieselben.
In welch verkehrter Weise dies oft geschieht, beweist der Brauch
der Arbeiter von Lyon, der sich bei Dalmanesche erwähnt findet. Die¬
selben pflegen ihre Bleigewichte von Zeit zu Zeit in verdünnten Essig zu
tauchen und dann trocknen zu lassen. Auch die Bildung eines Ueberzugs
von Schwefelblei hat man empfohlen, allein die dünne Schicht desselben ist
bald abgerieben.
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Ueber Bleivergiftung von Jacquardwebern.
Weit zweckmässiger werden die Stäbchen mit einer Schicht von Lack
überzogen, was an Unkosten etwa 3 Francs per Webstuhl verursacht.
Aber die Zeitdauer, während welcher ein solcher dünner Ueberzug sichert,
wird von den Franzosen nach ihren Erfahrungen nur auf V 4 bis 1 Jahr
geschätzt, und es wäre alsdann die nämliche Procedur wieder vorzu¬
nehmen. In einem Falle sah ich eine besonders dicke, harte Schiebt
von Lack aufgetragen, die an einzelnen Stühlen ungewöhnlich lange der
Zerstörung widerstand; an anderen aber, wo das Schlenkern der Gewichte
heftiger war oder wo durch irgend welche Unvorsichtigkeit rauhe Stellen
veranlasst worden waren, blieb die schützende Decke nicht lange bestehen.
Die Präparation hatte zudem so viel Mühe erfordert, dass der Preis der
Gewichte dadurch sehr erheblich gesteigert wurde.
Man hat endlich den Versuch gemacht, eine Art Trog anzubringen,
welcher die Gewichte von fünf Seiten her umschliesst und dessen eine Seiten¬
wand nach Art einer Thür geöffnet werden kann. Diese Einrichtung ver¬
mochte sich aber keinen allgemeineren Eingang zu verschaffen, da sie
einerseits doch etwas unbequem ist, andererseits nicht vollständig vor der
Verbreitung des Bleistaubes in der Luft des Arbeitslocals schützt.
Diejenigen, welche auf völlige Beseitigung des Bleies ausgingen,
machten Versuche mit verschiedenartigem Material. Man wandte das Glas in
Form von Kugeln an, was sich als unpraktisch erwies; man versuchte es
ferner mit Glasstäbchen, denen aber ihre grosse Brüchigkeit vorgeworfen
wird, und mehr noch der Umstand, dass sie bei zufälliger Benetzung oder
wenn sich aus irgend einem Grunde die Feuchtigkeit der Luft auf sie
niedergeschlagen hat, nicht mehr ungehemmt an einander vorbeigleiten.
Ara häufigsten wird zum Eisen gegriffen, und zwar bald zu gegossenem,
bald zu Drabtstäbchen, an die ein Oehr gestanzt wird. Letztere sind vor¬
nehmlich im Gebrauche. Erhebliche Gründe gegen dieselben werden nicht
angeführt und es scheint wohl fast ausschliesslich der Kostenpunkt dieser
Umänderung im Wege zu stehen. Und in der That belaufen sich die Aus¬
lagen und die Einbussen aus versäumter Arbeit auf eine ganz beträchtliche
Summe, denn einzig die Noth Wendigkeit, die neu anzubringenden Gewichte
wieder an die Harnischfäden aufzuhängen, sie „vorzurichten“, erfordert die
circa sechstägige Arbeit einer Arbeiterin. Aber es ist nicht ausser Acht
zu lassen, dass diese Procedur je nach der Art der Fabrikation an den einen
Stühlen alle Jahre, an anderen alle zwei Jahre und nur an der grossen
Minderzahl erst nach drei- und mehrjährigen Intervallen vorgenommen
werden muss; die daherigen Kosten dürfen somit nicht auf Rechnung der
sanitarischen Sicherheitsmaassregeln gesetzt werden, wenn für die Umände¬
rung der Ablauf des eben erwähnten Termins abgewartet wird. So blieben
denn nur noch die Kosten für die anzuschaffenden Gewichte, abzüglich des
Erlöses aus dem zu beseitigenden Blei zu berücksichtigen. Fataler Weise
werden nun bis anhin für die Eisengewichte übermässig hohe Preise von
den Lieferanten gefordert, was sich zum Theil aus dem geringen Consum
erklären mag. Würde die Herstellung in grossen Quantitäten erfolgen, so
würde sich der Preis ausserordentlich ermässigen, wie aus mir vorliegenden
Offerten hervorgeht. (Statt einem Preise von 28 Frcs. per Tausend, wie
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284 F. Schüler, Ueber Bleivergiftung von Jacquardwebern.
ich schon bezahlen sah, besitze ich Angebote zu 7 Frcs. 20 Cent bei einem
Gewichte von 7 bis 10 g, zu 7 Frcs. 60 Cent bei 11 g mit einer Preis-
reduction von mindestens 40 Cent, wenn dieselben nicht l&ckirt sein
müssen.)
In Gegenden, wo die Bleigewichte noch sehr verbreitet sind, wird
aber die erforderliche rasche Consumsvermehrung nur dadurch geschaffen,
dass durch eine gesetzliche Vorschrift, ein Gebot der Umänderung, inner¬
halb bestimmter Frist ein bestimmter Bedarf herbeigeführt wird. Die gleiche
Maassregel, welche dem Webstuhlbesitzer gewisse Lasten aufladet, wurde
somit auch zur Folge haben, dass die Kosten der Ausführung in ganz be¬
deutendem Maasse vermindert werden. Sie würden nach den Berechnungen
competenter Fachleute kaum höher als 20 bis 25 Frcs. per Webstuhl anzu¬
schlagen sein, wenn eine zwei-, höchstens dreijährige Frist für die Um¬
änderung gewährt würde. Dieser Betrag kommt kaum in Betracht gegenüber
dem Risico, das der Fabrikant da über sich nimmt, wo Haftpflichtgesetze
ihn für die Gesundheitsschädigungen verantwortlich machen, welche seine
Arbeiter durch die Einwirkung des Bleies erleiden.
Noch bleibt ein Punkt zu erwähnen, der zwar von minderem Belange
ist. Die Seidenindustrie benutzt auch Webstühle mit Trittvorrichtungen
mit bleiernen Geschirrgewichten. Dass auch hier ziemlich viel Blei sich
abreiben und im ganzen Arbeitslocale herum bleihaltiger Staub sich absetzen
kann, beobachtete ein Fabrikbesitzer, der sich dadurch zur Beseitigung des
Bleies veranlasst sah. — Es Anden sich ferner Bleigewichtchen — mehr als
1000 an der Zahl — an den Lisirmaschinen, wo sie freilich geringer Rei¬
bung ausgesetzt sind. Dessen ungeachtet dürfte auch hier die Möglichkeit
einer Bleierkrankung wohl ins Auge zu fassen und noch besser auf das
gefährliche Metall zu verzichten sein. Zeigt sich doch immer mehr, je
allgemeiner das Studium der Gewerbehygiene betrieben wird, wie in allen
denkbaren Formen und unter den mannigfaltigsten Verhältnissen das Blei
die Quelle schwerer Gesundheitsschädigungen werden kann. Nur zu leicht
wird dies unbeachtet gelassen, gemachte Erfahrungen, wie unter Anderem
auch vorliegender Bericht ßie anführt, vergessen. Es dürfte wohl nicht
überflüssig gewesen sein, auch diese wieder, vereint mit neuen Beobach¬
tungen, in Erinnerung zu rufen.
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Dr. A. Spiess, Zur praktischen Lösung der Subsellienfrage. 285
Zur praktischen Lösung der Subsellienfrage.
Von Stadtarzt Dr. A. Spiess (Frankfurt a. M.).
Es ist in den letzten beiden Decennien über die zweckmässigste Art
der Subsellien für öffentliche Schulen so viel geschrieben worden, es sind
so zahlreiche Modelle l ) erfunden und die vorhandenen stets verbessert wor¬
den, dass es vielleicht scheinen dürfte, als wären über diese Frage der
Worte genug gewechselt, als sei jetzt jeder Schulbehörde genügend bekannt,
was das Richtige sei, und als sei es nunmehr lediglich Sache der Schul¬
behörden, die vorhandenen Resultate zahlreicher Untersuchungen und Vor¬
schläge praktisch durchzuführen, vorausgesetzt natürlich, dass sie — was
aber heutzutage kaum mehr fehlen dürfte — Verständnis und Würdigung
habe für die hohe Bedeutung richtiger Subsellien für die Gesundheit des
heranwachsenden Geschlechtes.
So ähnlich habe ich wenigstens gedacht, als ich vor nunmehr etwa
l l /i Jahren die Stelle eines Stadtarztes in Frankfurt a. M. antrat, in wel¬
cher ja gerade die Schulhygiene einer der wesentlichsten Theile meiner
Thätigkeit bildete. Aber schon sehr bald musste ich bei einer vom hygie¬
nischen Standpunkte vorgenommenen genauen Besichtigung aller hiesigen
öffentlichen Schulen die Erfahrung machen, dass für die Grössen Verhältnisse
und Aufstellung der Subsellien in den einzelnen Classen nirgends bestimmte
Normen oder auch nur bestimmte Principien vorhanden waren. Und so wie in
Frankfurt wird es zweifelsohne in vielen anderen Städten der Fall sein. Die
Meinung, dass es vielleicht für Manchen nicht ohne Interesse sein könnte
zu erfahren, in welcher Weise ich versucht habe, Ordnung in die Subsellien¬
frage für unsere Stadt zu bringen, und welche Beobachtungen und Erfah¬
rungen ich dabei gemacht habe, ist die Veranlassung zu der Veröffent¬
lichung der nachstehenden Mittheilungen.
Frankfurt besitzt zur Zeit, abgesehen von den Schulen der israeli¬
tischen Gemeinden, von einigen katholischen Privatschulen und einer Anzahl
Privatinstitute, 28 öffentliche städtische Schulen (8 höhere Schulen, 5 so¬
genannte gehobene Bürgerschulen, 12 Bürgerschulen und 3 Volksschulen),
mit circa 16 000 Schülern. Von diesen Schulen resp. den von ihnen als
Schulen benutzten Räumen sind zwei in nicht für Schulzwecke gebauten,
neueren Häusern untergebracht, fünf haben schon in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts bestanden oder sind in dieser Zeit gebaut worden, fünf stammen
*) In Berlin befindet sieh eine Sammlung von Schulsubsellien, als Rest der hygieni¬
schen Ausstellung und als Anfang des Hygienemuseums, die, ohne schon vollständig zu
sein, bereits circa 70 Modelle enthält.
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Dr. A. Spiess,
aus den Jahren 1850 bis 1866, die meisten aber, 16, sind seit dem Jahre
1870 gebaut, meist grosse Doppelschulen. Die beiden in Privathäusern
untergebrachten, sowie die fünf aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
oder von noch früher stammenden Schulen entsprechen selbstverständlich
nur in sehr geringem Maasse den heutigen hygienischen Anforderungen,
wenn auch durch Umbau zweier derselben in den siebenziger Jahren und
durch möglichste Verbesserungen Vieles geschehen ist, um sie diesen An¬
forderungen soweit thunlich anzupassen. Schon weit mehr Rücksicht auf
die hygienische Seite findet sich in den fünf in den Jahren 1850 bis 1866
neu gebauten Schulen: ausschliesslich Längsclassen, helle, breite Corridors
und feuersichere Treppen und manches Andere bekunden schon einen wesent¬
lichen Fortschritt im Schulbauwesen in unserer Stadt.
Einen bedeutenden Umschwung, wie in dem ganzen städtischen Schul¬
wesen, so auch im Schulbau brachten aber erst die siebenziger Jahre, in
denen neun grosse neue Schulen entstanden, denen sieben weitere in den
letzten fünf Jahren folgten. Diese 16 Schulen wurden gebaut unter dem
, sehr, wesentlichen Einfluss der in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre
zuerst auf dem Kampfplatz erscheinenden „öffentlichen Gesundheitspflege“.
Unter ihrem in Frankfurt bekanntlich wesentlich durch Geh.-Rath. Varren-
trapp getragenen Einfluss Hess der Aerztliche Verein im Jahre 1869 dem
Magistrat ein „Gutachten über Schulbauten von dem Standpunkte der öffent¬
lichen Gesundheitspflege“ und zwei Jahre später einen „Bericht über die
zweckmassigste Einrichtung der Schulbänke und Schultische“ zugehen,
denen beiden der Magistrat sich anschloss, und die bei allen seit jener Zeit
errichteten Schulbauten volle Berücksichtigung gefunden haben. Hierdurch
besitzen wir in Frankfurt neben einer kleinen Zahl den heutigen Anforde¬
rungen nicht entsprechender Schulbauten eine sehr grosse Anzahl pracht¬
voller, zweckmässiger und den hygienischen Forderungen in weitem Maasse
entsprechender Schulbauten, von denen einzelne als Muster bauten angesehen
werden können. So kam es, dass, alB im vorigen Frühjahre unsere Behör¬
den, in dem Bestreben, noch Besseres und Vollkommeneres zu erreichen, eine
allgemeine Concurrenz für eine grosse „Doppelschule ausschrieben, auf
welche hin 54 vielfach treffliche Pläne eingingen, mit Ausnahme gering-
fügiger Nebendinge kein Plan etwas Neues und Besseres brachte, als wir
in unseren neusten Schulbauten schon besitzen, und desshalb auch keiner der
prämirten Pläne zur Ausführung kommen wird. Besseres und Vollkom¬
meneres lässt sich nur bei vermehrten Ausgaben erreichen und unsere städti¬
schen Behörden, die seit lange für die hygienischen Verhältnisse unserer
Schulen warmes Interesse und einen offenen Beutel haben, werden mit der
Zeit wohl auch noch einige weitere, vom sanitären Standpunkte berechtigte
Forderungen, denen gegenüber sie Bich bis jetzt noch ablehnend verhalten —
ich erwähne nur die gedeckten Hallen zum Aufenthalt in den Pausen bei
schlechtem Wetter — ihre Zustimmung nicht versagen.
In allen diesen neueren Schulen sind zweisitzige eiserne Sub¬
sellien (mit Ausnahme einer Volksschule, in der der Raumverhältnisse der
Classenzimmer halber viersitzige Subsellien sind), in den Schulen au9 den fünf¬
ziger Jahren sind ebenfalls meist zweisitzige, mehrfach aber hölzerne
Subsellien und von den sieben älteren Schulen sind einige in den letzten
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Zur praktischen Lösung 4er Subsellienfrage. 287
Jahren mit neuen zweisitzigen eisernen Subsellien versehen worden, während
einige wenige allerdings noch lediglich alte, unnumejrirte und unnumerirbare
hölzerne Subsellien aller Grössen und Gestalten haben. Wir könnten also
mit der Möblirung weitaus der grössten Zahl aller unserer Schulen, der
neuen wie auch älterer, wohl zufrieden sein, wenn in der Auswahl und Auf¬
stellung dieser Subsellien seitens der Baubehörden und in ihrer Benutzung
seitens der Lehrer stets einheitlich und sachkundig vorgegangen worden wäre.
Dies ist aber keineswegs geschehen, die bedeutenden Summen, die in den
letzten 15 Jahren für die neuesten und besten Subsellien ausgegeben worden
sind, haben vom hygienischen Standpunkte nicht rentirt, es ist vielleicht
nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass wenigstens die Hälfte der
Schüler auch bei den neuen Subsellien nicht an den für ihre Grössen Ver¬
hältnisse passenden Tischen gesessen haben. Zum Tbeil hat dies in der
Art und Aufstellung der Subsellien, zum weitaus grösseren Theil aber in
der Indifferenz der Lehrer der hygienischen Wichtigkeit passender Subsel¬
lien gegenüber gelegen. Hier ist ein recht eigentliches Feld für den von
vielen Seiten noch immer so gefürchteten „Schularzt“; nicht die Aufstellung
bestimmter schulhygienischer Normen allein, zu denen Manche sich wohl
verstehen wollen, genügt, sondern die stete Ueberwachung von deren Durch¬
führung, mehr aber noch die Anregung und Belehrung durch den Schularzt
über tausenderlei hygienische Details ist erforderlich.
Nachdem der Frankfurter Aerztliche Verein zuerst im Jahre 1869 die
Forderungen der Hygiene an Schulbauten den städtischen Behörden zum
Ausdrucke gebracht hatte, liess er diesem ersten Bericht zwei Jahre später
einen zweiten folgen, der gestützt auf die bis dahin gemachten Vorschläge
betreffend zweckmässiger Subsellien und auf eigene auf nahezu 6000 Schul¬
kinder sich erstreckende Messungen bestimmte Anträge stellte, in welcher
Art in Zukunft die neu anzuschaffenden Subsellien construirt und wie sie
vertheilt werden sollten. Diese Sätze, die die Behörden bereitwilligst an-
nahmen, sind seitdem die Grundlage für die sehr zahlreichen Subsellien-
anSchaffungen geworden und geblieben, in einzelnen Punkten unverändert,
in anderen mit mannigfachen und nicht immer glücklichen Veränderungen.
Zur ersten Classe, den unverändert gebliebenen Punkten, gehören:
a) Die zweisitzigen Subsellien, die von dem Aerztlichen Verein
vorgeschlagen wurden, die Bich hier wie überall trefflich bewährten und
von denen abzugehen sich nie ein anderer Grund bot, als etwa die räum¬
lichen Verhältnisse der Gassenzimmer. Dieser Grund trat allerdings in
Frankfurt einige Male ein. Einmal da, wo in alten Schulräumen, die mit
neuen Subsellien möblirt wurden, die Zimraerbreite die Aufstellung von
drei Reihen zweisitziger Subsellien in vier Gängen nicht erlaubte und
ferner in einer neuen grossen Doppelvolksschule mit 16 Gassen für je
80 Schüler, in denen bei nur sechs Schülern in einer Reihe die Gassen eine
allzu grosse Länge hätten erhalten müssen und dem dadurch begegnet wurde,
dass man je acht Kinder auf zwei viersitzige Subsellien setzte; vier Reihen
zweisitziger Subsellien und fünf Gänge hätte hier eine allzu grosse Breite
der Gassenzimmer bedingt. Diese Verhältnisse, die vom sanitären wie vom
pädagogischen Standpunkte nicht zu vertheidigen sind, haben in eigen¬
tümlichen, ausserhalb dos Gebietes der Hygiene liegenden Verhältnissen
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Dr. A. Spiess,
ihren Grand and Bollen gewiss nicht als nachahmenswerth empfohlen werden,
obgleich ein Nachtheil aus der Viersitzigkeit der Sabsellien, wie unten noch
näher besprochen werden soll, durchaus nicht entsteht. — In den erwähnten
alten, für drei Subsellienreihen zu schmalen Classen, von beispielsweise
nur 5*5 m Breite, in denen Inan bei Neumöblirung durch Aneinanderstellen
von zwei Subsellienreihen (wodurch in der That viersitzige Subsellien
entstehen) den vierten Gang Bparte, habe ich bei nicht zu breiten Sub-
sellien durch das bekannte staffelweise Stellen der zweisitzigen Subsellien
doch vier Gänge erhalten, die zwar etwas schmal waren, aber genügten, da
bei dieser Aufstellung auch bei gleichzeitigem Aufstehen aller Schüler nie
zwei Schüler neben einander in einen Gang zu stehen kommen, sondern
alle in einer Reihe hinter einander stehen.
b) Als Abstand von Tisch und Bank hatte der Aerztliche Verein seiner
Zeit die Null di stanz empfohlen und hat man nie Grund gehabt, darüber
zu klagen oder davon abzugehen. Es ist gewiss überflüssig, die zahlreichen
Vortheile und Nachtheile der Null- wie der Plus- oder Minusdistanz, die
von den verschiedenen Autoren für jeden dieser Abstände vorgebracht sind,
nochmals zu berühren, zweifellos hat jede Stellung ihre Vorzüge und Nach¬
theile und es wird jeder Schulbehörde überlassen bleiben müssen, sich die
Stellung zu wählen, die für ihre besonderen Verhältnisse passt. I)a wir in
Frankfurt mehrsitzige Subsellien mit festen Bänken nirgends haben, konnte
die gewiss unzweckmässige Plusdistanz, deren einziger Vorth eil ist, dass die
Schüler bei fester Bank aufstehen können ohne herauszntreten, nicht in
Frage kommen. Der Minusdistanz gegenüber, die eigentlich die rationellste
ist, hat die etwas zu grosse Beengung des Schülers und das etwas er¬
schwerte Austreten aus der Bank zu Gunsten der Nulldistanz entschieden t
die jetzt ausschliesslich in unseren Schulen in Gebrauch ist.
In einigen anderen Punkten dagegen hat man im Laufe der Jahre an
den Vorschlägen der Commission mannigfache Aenderungen vorgenommen,
so namentlich in der Art und Form der Subsellien und in ihren
Grössenverhältnissen.
Art und Form der Subsellien.
Nachdem es den unermüdlichen Kämpfen von Dr. Varrentrapp end¬
lich gelungen war, die städtischen und Schulbehörden von der Zweckmässig¬
keit zweisitziger Bänke und Tische mit fester gegenseitiger Verbindung
ohne wagerechten Abstand und mit passender Rückenlehne zu überzeugen,
wurden seit 1870 solche in allen seitdem neu erbauten oder umgebauten
Schulen eingeführt. In den ersten drei Jahren kamen zweisitzige hölzerne
Subsellien zur Verwendung, und obwohl man mit dieser Neuerung wohl zu¬
frieden war, wurden sie doch vom Jahre 1873 an durch die eisernen Sub¬
sellien verdrängt.
Eiserne Subsellien waren zuerst in Amerika, dann in der Schweiz
versucht worden, konnten aber in Deutschland keinen rechten Eingang fin¬
den, bis im Jahre 1873 die Firma Spohr & Krämer in Frankfurt a. M.
eiserne Subsellien „nach amerikanischem System“ herstellte 1 ), mit denen
*) S. diese Vicrteljahrsschrift Bd. VII, S. 386, woselbst auch Abbildungen.
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Zur praktischen Losung der Subsellienfrage. 28Ö
die in diesem Jahre eröffnet« Bürgerschule „Ostendschule“ zuerst möblirt
wurde und die dann eine Reihe von Jahren hindurch bei allen Neuanschaf¬
fungen von Subsellien verwandt wurden. Das Princip dieser sogenannten
amerikanischen Subsellien besteht bekanntlich darin, dass mit Ausnahme
des Tisch- und Bankbretts, des Bücherbretts und der Rückenlehne alle Theile
des Subsells aus Eisen sind und ferner darin, dass auf demselben eisernen
Untergestell nach hinten gehend die Tischplatte, nach vorn gehend die
Bankplatte zu dem davorstehenden Subselliura angebracht wird. Die Vor¬
theile, die man diesem neuen System zusprechen müsste, waren so bedeu¬
tend und so in die Augen springend, dass es rasch die hölzernen Subsellien
verdrängte und in den nächsten Jahren ausschliesslich diese eisernen Sub¬
sellien zur Verwendung kamen.
Ihre Vortheile sind folgende: 1) Mit Recht sagte man, dass, wenn man
für alle einzelnen Dimensionen eines Subsells genaue dem kindlichen Kör¬
per angepasste Maasse aufstelle, man auch eine genaue Einhaltung der
vorgeschriebenen Maasse sich sichern müsse und dies nicht möglich sei,
wenn man die Anfertigung jeden Schnlpultes in allen seinen Theilen einzel¬
nen Handwerkern übertrage. Diesem Missstande hoffte man sicher dadurch
abzuhelfen, dass man die maassgebendsten Theile des Subselliuro in Guss¬
eisen, also in ganz gleichen, bestimmten Grössenverhältnissen herstellte.
2) Das ganze Subsellium wird